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Kapitel 4

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Unausgeschlafen saß sie in Victors Arbeitszimmer und nippte an einer Tasse starken Kaffees. Auf dem Tisch stand ein Teller Piroggen mit einer würzigen Füllung.

Wiederholt kündigten sich Kopfschmerzen an, der Schlafmangel forderte seinen Tribut. Damit sie die Tablette nicht auf nüchternen Magen einnahm, angelte sie sich eine Pirogge vom Teller und biss herzhaft hinein. Obwohl sie ein typisch deutsches Marmeladenbrötchen bevorzugt hätte, schmeckten die Piroggen köstlich.

Victor hatte pünktlich um acht an ihre Tür geklopft und sie abgeholt. Seit einer halben Stunde saß sie nun bei ihm im Büro und ließ sich von ihm den Tagesablauf erklären. Heute würde sie die wichtigsten Bereiche der Klinik kennenlernen und neues Videomaterial sichten. Für den morgigen Tag stand dann der Besuch der Isolierzellen auf dem Programm.

Während Victor mit ihr sprach und alles ausführlich erklärte, starrte sie fasziniert auf seine vollen Lippen. Die weißen Zähne blitzten und der Dreitagebart verlieh ihm etwas Verruchtes. Verdammt, dieser Kerl war Erotik pur und sie konnte sich nur schwer von seinem Anblick lösen. Was hatte dieser Mann zwischen all den Verrückten hier zu suchen? Jetzt sollte sich aber langsam wieder erden und ihm zuhören …

Victor war mit seinen Ausführungen am Ende angelangt und schritt zur Tür. Seine Bewegungen wirkten irgendwie … geschmeidig, ja das war genau das passende Wort. Sie folgte ihm und war gespannt, wie erfolgreich hier die Patienten behandelt wurden. Tagsüber bewegten sich die Insassen draußen auf den langen Fluren. Trotz der teilweise sehr hohen Fenster, wirkte alles grau und trostlos.

Verhärmte Gesichter, Resignation, egal wohin sie schaute. Eine ekelhafte Mischung aus Essen, Fäkalien und Desinfektionsmittel hing in der Luft und sie rümpfte leicht die Nase.

Genau in diesem Augenblick drehte sich Victor um. Hatte dieser Kerl auch hinten ein Paar Augen? Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen … oh verdammt, diese Lippen!

Was war nur mit ihr los? Kündigte sich etwa ein erneuter Eisprung an? Ihr Verhalten war doch nicht mehr normal. Klar wollte sie eine Familie gründen, aber doch nicht hier und jetzt!

Victor ging in ein Schwesternzimmer und reichte ihr einen weißen Kittel. Tja, so heruntergekommen die Gebäude auch wirkten, Ordnung musste wohl sein. Während sie sich den Kittel überzog, erklärte er ihr die Wirkung und Verabreichung der Medikamente. Meist waren es Mittel, die zur seelischen und körperlichen Entspannung beitrugen, also auf gut Deutsch: Um die Insassen, so wie anderswo auch, ruhig zu stellen. Wie Marionetten quasi, wurden sie abgefertigt.

Der direkte Umgang zwischen Pfleger und Patienten war schroff und stark unterkühlt. Dieser Anblick versetzte ihr einen Stich, aber in der Heimat war es manchmal auch nicht besser. Die Räume als solches waren groß und besaßen hohe Decken. Die Ausstattung ließ sehr zu wünschen übrig, ebenso die Privatsphäre.

Meist teilten sich zehn Patienten ein Zimmer. Altertümliche Gitterbetten und Metallcontainer verwandelten den Raum nicht unbedingt in eine Wohlfühloase. Keinerlei persönliche Gegenstände oder gar Gardinen schmückten die Räume.

Das Personal begrüßte Victor ehrfürchtig und die Insassen gingen ihm aus dem Weg. Einige flüchteten sogar verschreckt auf ihre Zimmer. Dieses Verhalten widersprach ihrem eigenen, denn sie fühlte sich extrem von ihm angezogen. Und auch das verwirrte sie total. Hier war einfach nicht der richtige Ort, um so etwas zu fühlen. Vielleicht fehlte ihr einfach nur eine anständige Mütze Schlaf.

Auf dem nächsten Flur stand ein junger Mann mit heruntergelassener Hose vor ihnen und urinierte in eine Ecke. Victors kraftvolle Stimme donnerte über den Gang, als er nach einer Pflegerin rief. Eine ältere Frau, mit zwei Zahnlücken im Oberkiefer, eilte herbei und bugsierte den jungen Mann in einen Raum. Dieser wehrte sich jedoch. Erst als Victor ihm unter die Arme griff, erstarrte der Patient und ließ sich willenlos auf die Toilette führen.

Genau in diesem Moment umklammerte eine knochige Hand ihren Unterarm. Erstaunt drehte sie sich um und blickte in das runzelige Gesicht einer alten Dame. Sie saß im Rollstuhl und schaute ihr geradewegs in die Augen. Leise flüsterte sie: “Beschatch … beschatch …“

Hilflos zuckte Katharina die Schultern, sie konnte die Worte schlichtweg nicht übersetzen. Victor gesellte sich wieder zu ihr und sofort schaute die gebrechliche Frau in eine andere Richtung. Höflich verabschiedete sich Katharina auf Russisch von ihr. Diese Worte hatte sie vorher schon eingeübt, aber mehr sprachliches Knowhow besaß sie einfach nicht. Bevor sie die Abteilung wechselten, warf Victor der älteren Dame noch einen seltsamen Blick zu.

Inzwischen war es Mittag und Victor zeigte ihr den geräumigen Speisesaal, einer Aula ähnlich. Tische und Stühle reihten sich unter der hohen Decke aneinander, alles wirkte schmuddelig und wenig einladend. Klappernde Blechschüsseln und Plastiktassen, wohin man auch schaute. Die Suppe sah wenig appetitlich aus und die trockenen Brotscheiben bogen sich in alle Himmelsrichtungen. Die gesamte Einrichtung zog sie seelisch irgendwie herunter. Egal, was sich ihr noch offenbarte, sie würde für diese Menschen um Spendengelder bitten. Anständige Betten und weiteres Mobiliar waren unabdingbar.

Victor informierte sie darüber, dass sie die Mahlzeit gemeinsam mit der Frau Direktorin in seinem Büro einnehmen würden.

„Oh, ich dachte Sie wären der Anstaltsleiter“, stellte sie verwundert fest.

„Nein. Ich bin nur für die Patientenakten und die Korrespondenz zuständig“, erwiderte er lächelnd.

„Dann sind Sie also gar kein Arzt?“

„Doch, doch, ich habe durchaus Medizin studiert und meinen Doktortitel in Psychologie. Aber diese Art der Arbeit liegt mir mehr.“

Etwas verwirrt folgte sie ihm in sein Büro. Seltsame Strukturen, dachte sie und setzte sich. Eine grauhaarige Schwester brachte das Essen in einem altmodischen Emaillebehälter. Sie füllte die Teller, bestückte den Brotkorb und verließ grußlos den Raum. Kurz darauf klopfte es an die Tür und die Direktorin betrat das Zimmer.

Die Frau war um die fünfzig, trug ein blaues Kostüm und das wasserstoffblonde Haar war zu einem strengen Knoten gebunden. Grellgeschminkt und stark duftend, reichte sie Katharina ihre gepflegte Hand. Sie sprach Englisch mit einem starken Akzent und erkundigte sich nach Katharinas Wohlbefinden. Außerdem wollte sie genau wissen, welche Eindrücke sie bis jetzt gewonnen hatte.

Tja, was sollte Katharina darauf antworten? Dass die unpersönliche Behandlung der Patienten und die stark renovierungsbedürftigen Gebäude ihr schlichtweg aufs Gemüt drückten? Warum musste die Direktorin ausgerechnet so eine Frage stellen. Hoffentlich sah man ihr nicht an, wie angestrengt sie an einer zufriedenstellenden Antwort bastelte.

„Herr Wolkow hat mich durch einige Bereiche geführt und bis jetzt ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Ich lasse alle Eindrücke erst einmal auf mich wirken, bevor ich diese verarbeite.“ Wischiwaschi und bestimmt nicht zufriedenstellend, aber so sie war wenigstens aus dem Schneider.

Die Direktorin atmete tief ein und warf einen Blick zu Victor. „Leider hat einer unserer Angestellten das Videomaterial auf einem dieser berühmten Channel hochgeladen. Wir haben ihm sofort gekündigt, aber die Verbreitung des Videos ließ sich nicht mehr stoppen. Inzwischen hat eine regelrechte Hetzjagd begonnen. Wir versuchen zu retten, was noch zu retten ist und ich hoffe dabei auf ihre Hilfe. Vielleicht können Sie diese Videoaufnahmen als Fälschung entlarven.“

Davon hatte Katharina gar nichts gewusst. War sie nur aus diesem einen Grund hier, um das Gewissen der Direktorin reinzuwaschen? Sie spürte den Ärger in sich aufsteigen und schenkte Victor einen missbilligenden Blick.

Ihn ließ die Sache anscheinend kalt und er löffelte gelassen seine Suppe. „Essen Sie, solange es noch warm ist“, forderte er sie auf.

Und gerade das hätte sie am liebsten vermieden. Die Konsistenz der Kohlsuppe war durchscheinend flüssig. Hier und da schwamm verwegen ein winziges Stück Rind, und der Kümmel, der sich zur Genüge auf dem Teller tummelte, weckte ihren Ekel.

Brot! Brot war immer gut. Herzhaft biss sie in die trockene Scheibe und kaute was das Zeug hielt. Wenn sie jetzt einen Löffel Suppe zu sich nahm, saugte das Brot vielleicht die Flüssigkeit auf und sie musste nichts schmecken.

Wenn sie auch nur ansatzweise geahnt hätte, was sie hier erwartete, dann wäre sie einfach Zuhause geblieben. Endlich war der Teller leer, bis auf den Kümmel. Der häufte sich fein säuberlich am Rand. Victor fragte höflich, ob sie einen Nachschlag wolle.

„Nein danke, ich esse nicht sehr viel“, lautete ihre Antwort und hastig schob sie den Teller von sich. Als sie aufblickte, entdeckte sie in Victors Augen ein spöttisches Blitzen.

Die Direktorin erhob und verabschiedete sich. „Ich hoffe, Sie können recht bald ein Urteil fällen und dieses Videomaterial widerlegen.“

„Ich werde mein Bestes geben“, erwiderte Katharina aufrichtig.

Bevor die Direktorin Victors Büro verließ, bedachte sie ihn mit einem strengen Blick. Dann waren sie wieder allein.

„Haben Sie einen bestimmten Wunsch, welche Abteilung Sie als nächstes anschauen möchten oder wollen wir erst einmal das Videomaterial sichten?“

Das, was sie bei ihrem Rundgang am Vormittag gesehen hatte, reichte ihr völlig. „Ich denke, wir sollten jetzt einen Blick auf die Videos werfen. Bekomme ich denn diesen Bereich auch persönlich zu Gesicht?“

„Selbstverständlich! Aber wir möchten die Patienten nur ungern beunruhigen, deshalb müssen wir uns an die Absprachen halten. Diese Leute dort unten, werden vor sich selbst und vor den anderen geschützt. Es erfolgt eine Rundumüberwachung durch Kameras.“

Victors Wortwahl stieß bitter auf und sie fragte sich ernsthaft, ob sie den Anblick dieser weggesperrten Menschen ertragen konnte.

„So, dann wollen wir mal. Im Überwachungsraum befindet sich das ganze Material. Macht ja auch Sinn.“

Er erhob sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze und sie wunderte sich erneut über ihn. Ihr fehlten die richtigen Worte, um ihn genau zu beschreiben.

Eleganz, hm, nein das war es nicht. Er zeigte sich unnahbar, unnachgiebig und trotzdem zog er sie an wie ein Magnet. Nur zu gern würde sie ein psychologisches Profil von ihm erstellen, denn er wirkte interessant und sehr geheimnisvoll. Einem Mann wie Victor war sie noch nie begegnet. Alles schien er im Blick zu haben und seinen Augen entging nichts. Manchmal überkam sie das seltsame Gefühl, als könne er auf den Boden ihrer Seele blicken. Und um ehrlich zu sein, dass machte ihr Angst.

Inzwischen hatten sie den Raum erreicht und traten ein. Eine Pflegerin saß gelangweilt vor den Monitoren und aß ein belegtes Brot. Als sie Victor erblickte, räumte sie schuldbewusst ihre Mahlzeit weg. Obwohl er so tat, als interessiere ihn das nicht, spürte sie deutlich, welche Dominanz er ausstrahlte. Sämtliche Mitarbeiter schienen vor ihm zu kuschen und das war mit Sicherheit kein gutes Zeichen.

Katharina zog eindeutig den respektvollen und freundschaftlichen Umgangston vor. Trotzdem wusste sie nicht, warum diese Reibungspunkte existierten. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass Victor je seine Contenance verlor und zornig herumbrüllte. Dazu war er einfach nicht der Typ.

Er forderte sie auf, sich abseits an einen kleinen Tisch zu setzen. Dann klappte er einen Laptop auf und schob eine CD hinein. Noch einmal ließ sie die gespenstischen Szenen auf sich wirken. Ideal für einen Horrorfilm, aber nicht für eine Psychiatrie. Die Patienten schwebten ja auch nicht wahllos durch den Raum. Es gab immer nur kurze Sequenzen, bei denen sie ungefähr einen halben Meter über dem Fußboden waagerecht schwebend verharrten.

„Ich glaube nicht, dass diese Bilder echt sind. Hier hat mit Sicherheit ein gefuchster Videoexperte nach geholfen.“

„Freut mich, das zu hören.“

„Nur was mich ein wenig daran stört, Victor, was haben diese Videos hier verloren? Haben Sie die aus dem Internet heruntergeladen? Die können doch unmöglich in diesem Raum bearbeitet worden sein.“ Ihr Blick glitt irritiert über die völlig veralteten Geräte.

Seine Miene verfinsterte sich. „Der Mitarbeiter hat das Material einfach ausgetauscht und uns untergeschoben.“

„Aber warum? Hatte er irgendwelche Gründe? Geschah das aus Rache?“

„Katharina, da müssen Sie die Direktorin fragen“, wich er ihr aus. „Ich habe jetzt einen auswärtigen Termin. In zwei Stunden bin ich wieder zurück und wir können bei einer Tasse Tee die Aufnahmen besprechen.“

„Gern“, erwiderte sie und blickte ihm nach.

Dann war sie mit der Pflegerin allein. Seufzend klickte sie auf Play und beobachtete das Schreien und Toben der Insassen.

„Die Aufnahmen können einen ganz schön verwirren.“

Verwundert drehte Katharina sich um. „Sie sprechen Deutsch?“

„Nicht perfekt, aber ich habe während meiner Schulzeit diese Fremdsprache gewählt.“ Die Frau packte das Butterbrot wieder aus und biss hinein.

„Darf ich Ihnen denn auch ein paar Fragen stellen?“

„Natürlich. Aber ob ich Ihnen alle beantworten kann, steht auf einem anderen Blatt.“ Freundlich nickte die Pflegerin ihr zu.

„Was hat es mit diesen Videos auf sich? Warum hat dieser Mitarbeiter sie gefälscht?“

Ein erstaunter Blick streifte sie. „Die Aufnahmen sind echt. Besonders bei zunehmendem Mond treten diese Phänomene auf. Vorher war das nicht so, aber jetzt häufen sich diese Vorfälle.“

„Interessant. Wissen Sie vielleicht, wo der Mann abgeblieben ist, der dieses Videomaterial veröffentlichte? Ich würde ihn sehr gern sprechen.“

„Warten Sie einen Moment.“ Die Pflegerin stand auf und kam zu ihr an den Tisch. „Darf ich bitte?“

„Selbstverständlich.“ Katharina überließ ihr die Maus.

Nach einigen Klicks hatte sie die gewünschte Aufnahme erreicht. Ein junger Mann wurde sichtbar, ausgezehrt und mager. Schluchzend wiegte er sich vor und zurück und stammelte ununterbrochen auf Russisch: „Djavol … Djavol … Djavol …“

„Ist er das?“, fragte Katharina erstaunt.

„Ja“, bestätigte die Pflegerin.

„Wieso befindet er sich dort unten? Ich dachte, er gehört zum Personal?“

„Petja ist völlig durchgedreht und soll versucht haben, Victor zu ermorden.“

„Tatsächlich? Und was stammelt er da immerzu?“

„Teufel.“

„Warum?“

„Petja hält Victor für einen Dämonen oder so.“

„Wie kommt er denn darauf?“

„Aber Sie schauen doch die ganze Zeit diese Videos! Sie müssen doch erkennen, dass da etwas nicht stimmt.“

„Darf ich ehrlich sein? Ich halte das für ausgesprochenen Schwachsinn und für eine Fälschung.“

„Warum leisten Sie mir nicht übermorgen Gesellschaft? Da habe ich Nachtdienst und sie können an den Monitoren mitverfolgen, was sich in den Zellen abspielt.“

„Das ist eine gute Idee, ich werde Victor darum bitten. Übrigens, ich bin Katharina.“

„Oh, genau wie die Zarin. Ich bin einfach nur Ludmilla.“

Katharina reichte der freundlichen Pflegerin ihre Hand und schaute in ehrlich blickende Augen. Der Aberglaube schien hier weit verbreitet zu sein, aber sie hoffte, in Ludmilla eine Verbündete gefunden zu haben.

Die Direktorin wollte nur, dass alles seinen gewohnten Gang lief und Victor, tja, den konnte sie nicht so recht einordnen. Aber das war auch nicht ihre Aufgabe.

Sie sah sich noch ein paar Aufzeichnungen an und fuhr dann den Rechner herunter. Vielleicht sollte sie die Gunst der Stunde nutzen, um sich allein noch einmal umzusehen. Victor war nicht da und das war geradezu perfekt.

„Ludmilla, ich werde mich noch ein wenig umschauen und komme dann hierher zurück. Das geht doch in Ordnung?“

„Aber lassen Sie sich bloß nicht erwischen. Es wird nicht gern gesehen, wenn sich Fremde uneingeschränkt in auf den Stationen bewegen.“

„Ich werde aufpassen und mich wie ein Mäuschen verhalten.“

„Das glaube ich Ihnen aufs Wort“, lächelte Ludmilla.

„Gut, dann bis gleich.“

Mit klopfendem Herzen trat sie auf den Flur und huschte zu ersten Gittertür. Sie drückte auf den Knopf und sofort wurde ihr geöffnet. Eine Pflegerin eilte ihr entgegen und stellte eine Frage auf Russisch.

Katharina verstand kein Wort und schüttelte verneinend den Kopf. Dann probierte sie es auf Deutsch und Englisch, gestikulierte mit Händen und Füßen, bis die Frau sich frustriert abwandte und sie wortlos stehen ließ. Auch gut, so konnte sie in Ruhe die Zimmer inspizieren und sich ein genaueres Bild verschaffen.

Die Räume schrien förmlich nach einer dringend benötigten Renovierung und die Patienten waren weitestgehend sich selbst überlassen. Es roch streng nach Ammoniak, die Matratzen besaßen keinen Urinschutz und einige der Insassen hatten feuchte Hosen an. Anstatt die Wäsche dieser Menschen zu wechseln, eilten die beiden Pflegerinnen von A nach B und versuchten eifrig, ihren Aufgaben nachzukommen.

Katharina schüttelte sich und betrat die nächsten zwei Stationen. Auch hier offenbarten sich ähnliche Bilder. In einem der Flure erinnerte sie sich an die alte Dame im Rollstuhl. Was hatte sie ihr sagen wollen? Etwas Wichtiges oder doch nur verwirrte Worte? Katharina durchsuchte sämtliche Räume, fand sie aber nicht.

Etwas später gab sie die Suche auf und fragte eine jüngere Pflegerin auf Englisch nach dem Verbleib der älteren Rollstuhlfahrerin. Die junge Frau verstand sofort, was Katharina bewegte und forderte sie auf, ihr ins Stationsbüro zu folgen. Sie blätterte in einem Ordner und teilte ihr die traurige Nachricht mit, dass die ältere Dame vor zwei Stunden verstorben sei.

Katharinas Finger umklammerten die Tischplatte und für einen Augenblick wurde ihr schwindelig. So schlecht hatte sie den Gesundheitszustand gar nicht eingeschätzt. Oder lag hier ein Irrtum vor und die Dame wurde nur verlegt?

Noch einmal versuchte sie sich zu verständigen und die Pflegerin teilte ihr daraufhin die Todesursache mit – Herzstillstand, altersbedingt.

Ein seltsames Kribbeln breitete sich in ihrem Nackenbereich aus und die inneren Alarmglocken schrillten. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Verstört eilte sie die Flure zurück und betrat den Überwachungsraum.

Ludmilla saß wieder gelangweilt vor den Monitoren. Vereinzelt tobte ein Insasse, während die anderen schliefen.

Erstaunt drehte sie sich um. „Du bist schon zurück? Das ging aber fix.“

„Ja“, druckste Katharina herum. Dann schob sie einen Stuhl neben Ludmilla und setzte sich.

„Victor hat mir vorhin einige der Örtlichkeiten gezeigt. Eine ältere Dame, die in einem Rollstuhl saß, ergriff meinen Arm und raunte mir beschatch zu. So ganz genau kann ich das Wort leider nicht mehr wiedergeben. Nun wollte ich die Dame vorhin noch einmal aufsuchen, aber mir wurde mitgeteilt, dass sie verstorben sei. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen, denn sie wirkte überhaupt nicht desolat, ganz im Gegenteil.“

„Ja, manchmal geht es hier schnell mit dem Tod. Zu schnell. Wir hatten sogar schon einmal die Polizei in den Gebäuden, aber es wurde nichts gefunden. Damals starb ganz überraschend ein kleines Mädchen. Die Eltern hatten sich nie um das Kind mit Down Syndrom gekümmert, aber als es starb, war hier die Hölle los.“

„Was geschah denn mit dem Kind? Wie kam es zu Tode?“

„In der Nähe des Waldes gibt es eine kleine Kapelle. Das Mädchen war wohl ausgebüxt und die Suchmannschaften fanden es erfroren in der Krypta. Nur dem Leichenbestatter war damals aufgefallen, dass dem Kind mehrere Brüche zugefügt worden waren. Er wollte den Vorfall melden, aber das wusste die Direktorin zu verhindern. Noch heute behauptet er, dass die Knochen regelrecht zerschmettert wurden. Jemand muss das Mädchen mit extremer Kraft an die Wand geschleudert haben.“

„Gab es denn keine sichtbaren Spuren?“

„Nein, merkwürdigerweise. Das Gesicht wies keinerlei Verletzungen auf. Nur Arme, Beine und der Torso wurden in Mitleidenschaft gezogen.“

„Wurde das Mädchen sexuell missbraucht?“

„Ich denke nicht. Der Bestatter hat mir später nur erzählt, dass nach der Leichenstarre die Extremitäten wie bei einer Schlenkerpuppe herabbaumelten.“

„Höchst seltsam. Laufen denn viele Patienten weg?“

„Nicht mehr als anderswo. Im Prinzip ist alles gut gesichert, nur im Falle einer Evakuierung würde es zeitlich ganz schön knapp werden. Bei den Kindern verhält es sich anders. Da muss man aufpassen und auf der Hut sein. Trotz ihrer geistigen Behinderung sind einige ganz schön pfiffig.“

„Ich wusste gar nicht, dass ihr auch Kinder betreut.“

„Ja, in einem Nebentrakt. Ungewollte Kinder werden ins Waisenhaus gegeben und wenn die Heime überquellen, bringen sie die auffälligsten Kinder zu uns. Ansonsten werden sie erst ab dem achtzehnten Lebensjahr eingewiesen. Die Bedürfnisse der Kleinen kommen zu kurz, sie bleiben meist sich selbst überlassen. So ist das eben.“

Ludmillas Abgeklärtheit versetzte Katharina einen Stich.

„Du kannst nicht alles an dich heranlassen“, fuhr sie fort. „Irgendwann macht dich das kaputt und du musst mit der Arbeit aufhören. Verstehst du das?“

Katharina nickte. Sie würde Victor fragen, ob sie auch den Kindertrakt zu sehen bekam. „Ludmilla, eine Frage noch, bevor ich es vergesse: Was heißt eigentlich beschatch?“

„Übersetzt heißt es fliehen.“

„Ob die Dame wohl auf meine Hilfe hoffte, um der Anstalt zu etnkommen?“

„Ich weiß es nicht …“

Genau in diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und Victor trat ein. „Wie ich sehe, haben Sie sich gut unterhalten.“

Ludmilla schaute betreten auf das schäbige Linoleum.

„Sie hat einige meiner Fragen ausführlich beantwortet“, antwortete Katharina.

„So? Hat sie etwa aus dem Nähkästchen geplaudert?“

Was sollte das? War das eine Art Verhör? Und woher konnte Victor so gut Deutsch? Er fing ihren irritierten Blick auf und seine Züge wurden weicher.

„Haben Sie sich denn alle Aufzeichnungen angesehen, um sich ein Urteil bilden zu können?“

„Ja, soweit schon. Ich denke, dass das Videomaterial manipuliert wurde.“

Ludmilla warf ihr einen verwunderten Blick zu und schüttelte den Kopf.

„Allerdings habe ich mit Frau …„

„Petrowa“, ergänzte Ludmilla.

„Genau. Ich habe also mit Frau Petrowa vereinbart, dass ich morgen mit ihr gemeinsam den Nachtdienst versehe und dabei einen Blick auf die Monitore werfe. Das ist Ihnen doch recht?“

Victors Blick sprach Bände. „Sind Sie nicht zu erschöpft, von den vielen Eindrücken und der Reise?“

„Das passt schon“, erwiderte Katharina gönnerhaft. „So können wir jeden Zweifel aus dem Weg räumen.“

Zähneknirschend gab Victor nach. „Wenn es denn unbedingt sein muss … aber ich stehe Ihnen für diesen Zeitraum nicht zur Verfügung.“

Er musterte sie auf eine merkwürdige Weise und sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss.

„Ich nehme jetzt das Abendbrot ein, möchten Sie mich begleiten?“

„Sehr gern. Mein Magen knurrt schon seit einer Weile“, gestand sie offen und folgte ihm. Hauptsache, es gab keine Kohlsuppe.

Das Böse in mir

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