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Kapitel 2

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Ein heftiger Windstoß wirbelte ihre Unterlagen durch die Luft und erschrocken riss sie die Augen auf. Mist, sie hatte tatsächlich zwei Stunden am Stück geschlafen.

Hastig sprang sie auf, sammelte die losen Blätter wieder ein und schlüpfte ins Haus. Den Himmel bedeckten inzwischen dicke Regenwolken und die drückende Luft kündigte ein Gewitter an. Hoffentlich hielt das Wetter bis zum Ende der Grillparty durch. Obwohl, wenn sich der Regen mittendrin entlud, konnte sie schon eher nach Hause.

Für ein entspannendes Wannenbad war es bereits zu spät, also hüpfte sie nur kurz unter die Dusche. Im Schlafzimmer legte sie eine helle Leinenhose und eine leichte Bluse auf das Bett. Dann föhnte sie ihr widerspenstiges Haar, bis es in weichen Wellen über ihre Schultern fiel und legte ein dezentes Make-up auf. Nach dem Umkleiden warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel. Passt.

Sie schnappte sich ihre Handtasche, griff nach dem Schlüsselbund und machte sich zu Fuß auf den Weg. Ihre Eltern wohnten nicht weit von ihr entfernt und die Parkplatzsuche würde sich schwierig gestalten, bei all den protzigen Schlitten vor der elterlichen Jungendstilvilla.

Der Wind hatte aufgefrischt und wirbelte die sorgsam frisierten Haare durcheinander. Ein strenger Blick ihrer Mutter war ihr gewiss. Obwohl es ein lockerer Grillabend werden sollte, bestand ihre Mutter immer auf einem entsprechenden Dresscode ihrer Gäste. Für Katharinas Geschmack lief alles viel zu steif und zu bieder ab, aber seine Eltern konnte man sich nun einmal nicht aussuchen.

Ihr Vater war ein angesehener Chirurg, die Mutter Zahnärztin und Geld stand in einem äußerst gesunden Maß zur Verfügung. Nur diese unterkühlte Distanz, die zwischen ihnen herrschte, machte es bisweilen schwer im zwischenmenschlichen Bereich. Schon mehr als einmal hatte sie darüber nachgedacht, ob das vielleicht der Grund dafür war, warum sie sich einem Mann gegenüber so selten öffnen konnte.

Als kleines Mädchen hatte Katharina von einer Mutter geträumt, die am Herd stand und extra für sie Spagetti kochte, wenn sie aus der Schule nach Hause kam. Die das blutende Knie verarztete, auf Hausfrauenart und mit einem Küsschen natürlich, und ihr dabei zärtlich über die Locken strich.

Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Der Vater arbeitete im Schichtdienst und ihre Mutter kehrte am Abend abgespannt aus der eigenen Praxis zurück. Hin und wieder gab es zwar eine Gutenachtgeschichte, aber die hatte Seltenheitswert. Nur die Urlaube wurden gemeinsam verbracht, wobei sie deutlich spürte, dass ihre Eltern in dieser Zeit hauptsächlich die eigene Ruhe für sich beanspruchten.

Neidisch hatte sie am Strand zu den anderen Familien geschielt und beobachtet, wie ausgelassen die Väter mit ihren Kindern Ball spielten oder Sandburgen bauten. Und beim Neid war es bis heute geblieben. Wann immer ihr eine schwangere Frau begegnete, versetzte es ihr einen tiefen Stich im Herzen und die Sehnsucht nach einer intakten Familie reifte in Sekundenschnelle.

Manchmal hatte sie auch über eine künstliche Befruchtung nachgedacht oder Adoption, aber letztlich verwarf sie diesen Gedanken wieder. Ihre Eltern hätten so eine Entscheidung wahrscheinlich niemals akzeptiert.

Und wieder spürte sie das innere Aufbegehren, die Fesseln des Alltags abzustreifen und zu fliehen. Weg von hier, einfach nur weg.

Nach einigen Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht und drückte auf die Klingel. Ein Summen ertönte und das schmiedeeiserne Tor öffnete sich.

„Kathi, du bist aber spät dran!“

Ihre Mutter, Evelin, eilte ihr entgegen, küsste sie flüchtig rechts und links auf die Wange und musterte ihr Outfit. „Hast du wirklich nichts Besseres auftreiben können? Die Bluse macht dich älter, als du tatsächlich bist, wir haben schließlich einige Junggesellen an Bord. Und warum versteckst du deine schlanken Beine hinter so viel Stoff? Wenn du dir einen Mann angeln möchtest, solltest du schon etwas aufreizender wirken. Köpfchen und Stil, so lautet die Devise.“

„Mutter, jetzt ist aber gut. Ich fühle mich ausgesprochen wohl, in der Kleidung. Wie geht es euch?“

Ein erneuter, missbilligender Blick verweilte auf Katharinas Haarpracht. „Liebes, wenn du kein Geld für einen Frisörbesuch aufbringen kannst, dann ich leihe dir gern etwas. Du siehst heut alles andere als bezaubernd aus.“

„Danke für die Blumen. Wo finde ich eigentlich Papa?“

„Er hat sich mit zwei seiner Kollegen in den Salon zurückgezogen. Dein Vater kann die Fachsimpelei einfach nicht lassen.“ Frustriert rollte Evelin die Augen.

„Auch gut. Dann schaue ich mich erst einmal um, wer alles unter den Gästen zu finden ist.“

„Dein Studienfreund und Kollege nebst Gattin ist bereits hier. Die Dame ist unter seinem Niveau, aber wem sage ich das. Katharina, ich werde an der Front gebraucht. Du kommst doch klar?“

„Aber sicher, Mutter.“

Evelin eilte davon und ließ ihre Tochter einfach so stehen. Katharina zuckte nur mit den Schultern und schlenderte durch den üppig blühenden Garten. Ein Hoch auf den engagierten und gut bezahlten Gärtner. Hier und da ergatterte sie ein freundliches Nicken, aber die Gäste unterbrachen selten ihre Gespräche, um sie persönlich zu begrüßen.

Angestrengt hielt sie nach David, ihrem Kollegen, Ausschau, denn sie wollte ihm unbedingt das Videomaterial zeigen. Er war ihr Vertrauter und bester Freund, schon seit dem Studium. David hatte nie einen Hehl daraus gemacht, sich unsterblich in Katharina verliebt zu haben. Aber sie ließ ihn abblitzen. In ihren Augen war er definitiv zu brav und zu lieb, um sich eine erotische Beziehung mit ihm vorstellen zu können.

Enttäuscht darüber, heiratete er sehr jung, doch seine erste Ehe scheiterte. Nach seiner Scheidung ging Katharina ein paar Mal mit ihm aus. Aber es fühlte sich irgendwie falsch an, diese innige Freundschaft wegen eines Liebesaktes zu zerstören. Okay, sie waren bereits kurz davor, sich einander hinzugeben, aber sie hatte gerade noch rechtzeitig die Reißleine gezogen.

Wenig später heiratete David in aller Stille eine Patientin. Das galt unter Kollegen als verpönt, aber Katharina konnte es David nicht verübeln. Sie hatte ihn zurückgewiesen, ein weiteres Mal, und ihn damit zutiefst verletzt. Hin und wieder fing sie einen seiner sehnsüchtigen Blicke ein. Ja, er liebte sie noch immer und zeigte offen seine Schwäche für sie. Vielleicht war David doch die Liebe ihres Lebens und sie hatte die vielen Chancen, eine eigene Familie zu gründen, sinnlos verstreichen lassen.

Endlich hatte sie David gefunden. Verloren stand er unter dem Dach des Pavillons im hinteren Teil des großzügig angelegten Gartens. Glücklicherweise war von seiner Gattin weit und breit nichts zu sehen, also pirschte sie sich an ihn heran.

„Na du, auch hier?“ Lächelnd blickte sie zu ihm auf. Sein müder Blick streifte ihr Gesicht und hellte sich augenblicklich auf. David sah genauso abgearbeitet aus wie sie selbst.

„Eigentlich würde ich viel lieber auf der eigenen Couch liegen, Psychiater hin oder her, aber Vanessa wollte unbedingt wieder einmal unter Menschen. Sie muss im Mittelpunkt stehen, muss unablässig bewundert werden … na du weißt ja, wie sie ist. Dir hätte die Couch auch besser gestanden, so erschöpft, wie du ausschaust.“

„Danke für das Kompliment, David.“ Katharina lachte. „Du kannst es wunderbar umschreiben, wenn selbst das Make-up die Augenringe nicht mehr verbergen kann.“

„Trotzdem bist du noch immer eine Augenweide.“

„Lass das bloß nicht deine Gattin hören. Aber ich möchte dich etwas fragen.“

„Deine Frage kommt zu spät. Ich bin leider schon vergeben, wie dir sicher aufgefallen ist.“

Sie knuffte ihn in die Seite. „Das ist mir in der Tat schon aufgefallen. Aber jetzt Spaß beiseite. Ich habe eine Mail aus Russland bekommen, jemand bittet um meine Hilfe. Es geht um seltsame Vorfälle innerhalb eines Hospitals und ich denke, es handelt sich um ein gefaktes Video. Vorher möchte ich dennoch deine Meinung einholen.“

Sie fischte das Handy aus ihrer Tasche, tippte auf dem Display herum und hielt David das Video unter die Nase. „Und, was sagst du?“

Er neigte seinen Kopf und sah sie an. „Kaum vorstellbar, welche Zustände dort herrschen. Sollst du Spenden sammeln?“

„Keine Ahnung, aber was denkst du über diesen Patienten?“

„Wenn er nicht schon vorher wahnsinnig war, so hat er spätestens in diesen vier Wänden seinen Verstand verloren.“

„Da stimme ich dir zu, aber wieso kann er schweben?“

„Wie … schweben?“

„Hast du das denn nicht gesehen?“ Erneut spielte sie das Video ab.

„Ach das meinst du. Ja, es sieht tatsächlich so aus, als ob der Mann in der Luft levitiert. Aber ich bezweifle die Echtheit. Für Kameras reicht das Geld, aber nicht für anständige Zimmer und Betten? Wirklich seltsam.“

„Also bist du auch der Meinung, dass diese Leute sich dort nur wichtigmachen wollen und es geht dabei um etwas ganz anderes?“

„Mit Sicherheit. Lass uns doch das Material gemeinsam in der Klinik noch einmal sichten, dort steht uns zumindest ein größerer Monitor zur Verfügung. Du hast zwar morgen frei, aber wenn du eine halbe Stunde dafür opfern würdest, wäre das klasse. Du kannst mir ja während meiner Mittagspause einen Besuch abstatten.“

„Kann ich machen, der Tag ist sowieso nicht verplant. Mich interessieren vor allen Dingen die Beweggründe, weshalb ausgerechnet mir diese Mail zugeschickt wurde.“

„Tja, dein guter Ruf eilt dir voraus und du brauchst deine Doktortitel nicht zu verstecken.“

„Danke für die Ehre. Du, mir knurrt mein Magen und ich werde mich mal an die Front vorarbeiten. Wir sehen uns morgen.“

„Ja, bis morgen.“

Katharina wandte sich ab und tauchte in der Menge unter. Sie war froh darüber, Davids Frau nicht begegnet zu sein. Die hätte mit Sicherheit wieder eine Szene gemacht. Vanessa litt unter dem Borderline Syndrom und machte David inzwischen das Leben zur Hölle. Gegen diese psychische Störung war kein Kraut gewachsen, selten half eine Therapie auf Dauer.

Vanessa wirkte charismatisch und sehr weiblich. Dieser Umstand ließ Männerherzen höher schlagen, besonders das von David. Er hatte wohl gehofft, sie heilen zu können oder sie zumindest seelisch zu stabilisieren. Doch das ging mächtig nach hinten los. Nur seine tiefen Schuldgefühle ihr gegenüber, hielten ihn von einer Trennung ab.

Er hatte sich, genau wie Katharina, eine große Familie gewünscht. Doch auch für ihn schien dieser Traum ausgeträumt. Sie wusste, dass er seine selbstsüchtige Frau niemals auf eigene Kinder loslassen würde. Vielleicht hatte Katharina, mit ihrer Hinhaltetaktik, zwei Menschen unglücklich gemacht.

David war durchaus ein attraktiver Mann, mit seinen grauen Schläfen, der stattlichen Figur und seiner sympathisch warmen Ausstrahlung. Die Patentinnen lagen ihm reihenweise zu Füßen. Trotz aller Versuchungen war er nur bei Vanessa schwach geworden und hielt treu zu ihr, auch wenn es ihm immer schwerer fiel.

„Lass gefälligst die Finger von meinen Mann“, fauchte eine Stimme hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um und starrte verständnislos in Vanessas zorniges Gesicht.

„Du brauchst gar nicht so dumm aus der Wäsche zu gucken, du weißt genau, was ich meine … Der Zug ist für dich abgefahren, du hast deine Chance verpasst. Halte dich in Zukunft von David fern!“, drohte sie leise.

„Liebe Vanessa, ich hatte rein beruflich mit ihm zu tun. Bitte unterstelle mir nicht ständig, deinen Mann anzugraben. Ich weiß, was sich gehört.“

„Ach ja? Kaum auf der Party und schon tauchst du bei ihm auf. Komisch, nicht?“

„Ich verspüre keine Lust auf dieses Theater, Vanessa, lass es gut sein. Warum bist du nicht bei ihm, wenn es dich stört, dass er sich mit mir unterhält?“

„Soll ich ihn rund um die Uhr bewachen?“

„Tust du ja bereits.“

„Halte dich von ihm fern, okay!“

„Vanessa, ich wiederhole es noch einmal: Es war rein beruflich. Ich habe ihm nur ein Video gezeigt.“

„Soso und wo hast du deinen Laptop versteckt?“

„Hier schau, das Video befindet sich auf meinem Handy.“

Neugierig verfolgte Vanessa das Geschehen auf dem winzigen Display und wich plötzlich verstört zurück. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte davon. Verwundert blickte Katharina ihr hinterher. Aus dieser Frau wurde sie einfach nicht schlau.

Endlich hatte sie das Zelt erreicht, in welchem sich das gut bestückte Buffet befand. Ihr war schon ganz flau im Magen und sie belud den Teller mit einer ordentlichen Portion lecker zubereiteter Salate. Am Grill holte sie sich noch ein Steak ab und suchte nach einem freien Platz. Abseits des Trubels ließ sie sich das Essen schmecken.

Ihr Blick wanderte über das illustre Häufchen und sie langweilte sich. Auf Smalltalk verspürte sie keine Lust und als in der Ferne der erste Donner grollte, atmete sie auf. Höflicherweise wartete sie noch, bis das Gewitter näher zog und brach dann erst mit den anderen Gästen auf. Besser konnte es gar nicht laufen.

Hastig verabschiedete sie sich von ihren Eltern, die damit beschäftigt waren, das Essen und die Sitzauflagen vor dem Regen zu retten. Der Wind fegte Blätter und Staubwolken vor sich her und auch das Donnergrollen wurde zunehmend lauter. Gutgelaunt eilte sie durch die Straßen und freute sich auf ihr Bett.

Die ersten schweren Tropfen klatschten auf das Pflaster, als sie hastig die Eingangsstür aufschloss und ins Innere flüchtete. Geschafft. Satt und zufrieden verzog sie sich ins Schlafzimmer und öffnete das Fenster. So ein Gewitter hatte auch etwas Reinigendes. Am liebsten lag sie unter der Bettdecke, während es draußen stürmte und regnete.

Die Blitze zuckten hell am Horizont und der Regen rauschte. Doch dieses Mal fühlte sie sich eigenartiger Weise unwohl und spürte eine negative Energie. Barfuß tappte sie zum Fenster, um es zu schließen. Ein kleiner Spalt stand noch offen, als sie einen hohen Klagelaut vernahm.

Was war das? Das lautstarke Gewitter verschluckte die meisten Geräusche und obwohl sie angestrengt lauschte, hörte sie keinen Mucks. Die Luft hatte sich stark abgekühlt und ein Schauer jagte über ihren Rücken. Zurück ins Bett - eine wirklich gute Option. Genau in dem Moment, bevor der Fensterflügel endgültig zuschlug, erklang das Wimmern erneut. Irgendetwas Kleines dort draußen, befand sich in Not.

Hin- und hergerissen, zwischen dem weichen Bett und dem jämmerlichen Fiepen, entschloss sie sich, doch im Garten nachzuschauen. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, sich abzuwenden. Mit Taschenlampe und Regenjacke bewaffnet, stromerte sie in Nachtwäsche über das Grundstück. Es fiel ihr schwer, den Ursprung des Klagens zu orten, denn noch immer tobte das Gewitter über der Stadt.

Stopp, jetzt war sie dem Jammern ganz nah. Der mächtige Rhododendron hinderte sie allerdings am Weiterkommen. Ächzend ging sie in die Hocke und leuchtete mit der Lampe in das dichte Blattwerk hinein. Ein leises Rascheln schärfte ihre Sinne. Hatte sich dort eben etwas bewegt?

Auf allen Vieren kroch sie über den glitschigen Boden, bis der Strahl der Taschenlampe von einem aufleuchtenden Augenpaar reflektiert wurde. Klatschnass saß ein verängstigt zitterndes Häufchen Elend vor ihr auf dem Boden. Ihre freie Hand schnellte nach vor und sie griff beherzt in das winzige Fellbündel.

Das fellige Etwas setzte zur Gegenwehr an, fauchte, biss und kratzte, aber Katharinas Griff lockere sich nicht. Behutsam zog sie das Tierchen hervor, presste es an ihre Brust und stolperte durch den dunklen Garten zurück ins Haus. In der Küche setzte sie das kleine Kätzchen ab und lief ins Bad. Völlig durchnässt entledigte sie sich ihrer Nachtwäsche und schlüpfte in den Frotteemantel.

Mit einem Handtuch kehrte sie in die Küche zurück und rubbelte den Neuzugang vorsichtig trocken. Verstört fauchte der kleine Wicht, beruhigte sich aber schnell. Anschließend verarztete sie ihr Handgelenk und tupfte die tiefen Kratzer mit einem Desinfektionsmittel sauber. Dieser Winzling hatte ganze Arbeit geleistet. Bestimmt hatte dieses Fellbündel Hunger. Was fraßen Katzen eigentlich?

Ein Blick in den Kühlschrank ließ sie zu einer Packung Kochschinken greifen. Sie würfelte die Scheiben, drapierte sie auf einer Untertasse und stellte eine Schüssel mit Wasser daneben. Gespannt wartete sie darauf, ob die Miez das Angebot annahm.

Ja, das tat sie. In Windeseile war der Schinken verputzt und das Bäuchlein rund. Aus dem Abstellraum angelte Katharina einen Karton, legte ein Sofakissen hinein und packte das Kätzchen obendrauf.

„So, du süßer Wicht, jetzt wird geschlafen.“ Dann löschte sie das Licht und lief ins Schlafzimmer. Im Bett klebten die feuchten Haare unangenehm am Hals, aber sie war einfach schon zu müde, um sie noch trocken zu föhnen. Schläfrig kuschelte sie sich in die Kissen. Das Gewitter war inzwischen weitergezogen, nur der Regen trommelte monoton auf das Dach.

Während sie den Geräuschen der Nacht lauschte, dämmerte sie langsam hinüber in einen tiefen Schlaf.

Lautes Geschrei weckte sie kurz nach sieben. Stöhnend schlug sie die Bettdecke zurück und lief in die Küche. Der Winzling saß mitten im Raum und maunzte in den höchsten Tonlagen. Erst einige Sekunden später stieg ihr ein ekelhafter Geruch in die Nase.

„He, du hast doch nicht wirklich in den Karton …“

Keine Frage, er oder sie hatte! Mit einem Papiertuch beseitigte sie das gröbste Übel und brachte den Karton samt Kissen vor die Tür. Das Fenster weit geöffnete, bekam der Winzling eine weitere Portion Schinken.

Dann kochte sie sich eine Kanne Kaffee und suchte die Nummer des Tierheimes heraus. Hierbleiben konnte die Minisamtpfote auf keinen Fall. Irgendwie meldete sich doch das schlechte Gewissen zu Wort, als sie die Telefonnummer ins Display tippte. Aber da musste sie jetzt durch.

„Tut uns wirklich leid, aber wir sind völlig überfüllt. Momentan gibt es einen Aufnahmestopp für Katzen, es sind einfach zu viele.“ Ja, das war genau die Antwort, die sich erhofft hatte.

Aber Maria! Die hatte doch Enkelkinder, die sich bestimmt über so ein kleines Kätzchen freu … nein, die nächste Absage.

Laura wusste auch keinen Rat. „Behalt sie doch einfach, du bist doch sowieso allein in einem viel zu großen Haus.“ Rums, das hatte wieder einmal gesessen. Es grenzte fast schon an ein Wunder, dass sie ihre beste Freundin überhaupt Zuhause erreicht hatte.

Jeder in ihrem Umfeld hatte ein vernünftiges Liebesleben, nur sie musste sich mit einer Katze begnügen. „Tja, du kleiner Wicht, sieht nicht gut aus, keiner will dich. Wohl oder übel musst du hier bleiben. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich zum Sonntag eine Katzentoilette auftreiben soll. Aber ich arbeite daran.“

Den heißen Kaffee schlürfend, saß sie den restlichen Vormittag im Arbeitszimmer und klickte sich durch sämtliche Webseiten über die Haltung von Katzen. Das Zubehör bestellte sie letztlich in einem Shop und ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie sich so langsam sputen musste. Den Laptop verstaute sie in ihrer Aktentasche und eilte nach unten.

Damit der Winzling nicht wieder ein stilles Örtchen suchen musste, beförderte sie einen weiteren Karton in die Küche und befüllte diesen mit Zeitungsschnipseln. In einem der Fachmagazine hatte ihr größter Kontrahent einen unmöglichen Artikel über Autisten verfasst. Und auf diese Zeilen konnte die kleine Katze getrost schei …

Obwohl sie sich mit David nur beruflich in der Klinik traf, hübschte sie sich ein wenig auf und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Alles okay. Kurz darauf glitt der BMW aus der Garage und sie trat aufs Gas.

David wartete schon im Büro auf sie und wie immer strahlten seine Augen, als sie den Raum betrat. „So, dann wollen wir mal.“ Sie fuhr den Laptop hoch und klickte auf Start.

Erneut schüttelte David den Kopf. „Ich kann es nicht fassen, wie die Menschen dort verwahrt werden, eine Szene ist verstörender als die andere.“

„Ja, da stimme ich dir zu. Achtung, jetzt kommt die Stelle, wo er schwebt.“

„Hm, dieser Kerl müsste ein verdammt guter Schauspieler sein. Den Anfall kann man kaum besser darstellen, aber gut, mit der heutigen Technik ist vieles machbar.“

„Ist es echt?“

„Ich bezweifle das. Zeig mir bitte die anderen Videos.“

„Gerne.“

Gebannt beobachtete David das Verhalten der zwei weiteren Patienten. „Mir jagen diese Bilder einen Schauer über den Rücken“, gab David ehrlich zu. „Das ist doch kein Leben, das ist die Hölle. Was mir auffällt, ist der absolut schlechte Gesundheitszustand dieser Menschen, total mager und unterernährt. Sie sind seelisch vollkommen verwahrlost, überall auf dem Boden verteilen sich Fäkalien, obwohl eine Toilette im Raum vorhanden ist. Kein Pfleger wischt den Boden, niemanden kümmert es. Bei uns ist auch nicht alles Gold, was glänzt, aber das?“

„Diese Menschen sind hilflos der Situation ausgeliefert, falls die Videos echt sind.“

„Was ich mich ebenfalls erstaunen lässt: Wer betreibt für so ein kurzes Video einen derart immensen Aufwand? Wo wurden diese Leute gecastet? Mussten die Darsteller hungern? Einerseits überkommt mich das nackte Grauen, je länger ich mir die Videos anschaue. Andererseits wehrt sich mein Innerstes und behauptet, dass diese Bilder einfach nicht der Wahrheit entsprechen können.“

Katharina musterte David skeptisch. „Jetzt sag schon, würde sich eine Reise lohnen?“

„Du bist echt verrückt! Willst du wirklich nach Sibirien reisen?“

„Warum nicht? Vielleicht kann man entsprechendes Material einigen Journalisten zuspielen und so für eine Verbesserung der Lebensbedingungen sorgen. Die Zellen, in denen diese Menschen hausen müssen, existieren zumindest.“

„Aber stell dir doch nur einmal vor, du fährst gutgläubig dorthin und dann handelt es sich nur um eine Fälschung. Von der negativen Presse, die über dich hereinbricht, ganz zu schweigen. Deinen guten Ruf bist du los.“

„Das weiß ich doch. Aber egal, wie sehr mich das Videomaterial auch abstößt, es zieht mich trotzdem magisch an. In zwei Wochen habe ich sowieso für eine längere Zeit frei und wenn ich noch ein paar Urlaubstage anhänge, könnte es klappen.“

„Du meinst das jetzt nicht im Ernst?“

„Doch. Ich muss einfach hier raus, ich habe das Gefühl zu ersticken. Nichts läuft so, wie ich es mir wünsche. Ich bin total frustriert.“

„Ach Katharina … Warum hast du uns bloß nie eine Chance gegeben? Gesteh dir doch endlich ein, dass du genauso unglücklich darüber bist, wie ich. Wir sitzen beide in einem Hamsterrad fest.“

„Bitte, David, nicht schon wieder.“

„Auch wenn du es nicht hören möchtest, ich habe Recht. Diese Tatsache kannst du drehen und wenden wie du möchtest.“

„Lass uns jetzt nicht darüber streiten. Du bist mit Vanessa liiert, also erübrigt sich dieses Gespräch.“

„Danke, dass du mich freundlicherweise daran erinnerst.“

„Was ist jetzt mit dem Videomaterial? Würde sich eine Reise lohnen?“

„Die Forschung ist dein Steckenpferd und die Antwort darauf kennst nur du allein. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl im Bauch, dich fahren zu lassen.“

„Dann werde ich morgen den Chef um Beistand bitten, mal schauen, was er dazu sagt.“

„Ja, mach das. Ich wünsche dir noch einen entspannten Sonntag.“

„Danke und ich dir raschen Feierabend.“

Sie sah, wie er sich enttäuscht abwandte und geschäftig in seinen Unterlagen kramte. Es tat ihr leid, ihn so verletzt zu haben. Doch sie wollte nicht von einer gemeinsamen Zukunft träumen, die es so für beide nicht geben konnte. Vanessa würde in die Scheidung niemals einwilligen, von einer öffentlichen Schlammschacht ganz zu schweigen. Davids Ruf wäre ruiniert. Für immer.

Warum musste er ausgerechnet heut das leidige Thema wieder ansprechen? Ihre gute Laune war dahin, vom restlichen Sonntag ganz zu schweigen. Verärgert lenkte sie den Wagen durch die Straßen und grübelte darüber nach, ob es sich lohnte, diesen Videos auf den Grund zu gehen. Sie glaubte nicht an derlei Zeugs und schon gar nicht an schwebende Menschen. Auf alle Fälle wollte sie sich um weiteres Material kümmern, damit sie sich auf die vorliegenden Fakten stützen konnte.

Zurück in der Villa, suchte sie den kleinen Wicht und wurde im Arbeitszimmer fündig. Zusammengerollt lag er versteckt zwischen den Kissen und begann sofort zu schnurren, als ihre Finger zärtlich durch das Fell glitten.

„So langsam wird es Zeit, dass ich dir einen Namen gebe, denn auf Dauer wirst du wohl kein Winzling bleiben.“ Behutsam hob sie das Kätzchen hoch. Aha, ein Mädchen. „Wäre es dir recht, wenn ich dich ab heute Minou nenne?“

Zärtlich drückte Katharina das Fellbündel an ihre Brust. Das Kätzchen schnurrte noch immer und kuschelte sich an ihr neues Frauchen. Binnen Sekunden hatte Minou Katharinas Herz im Sturm erobert. Nein, das Kätzchen wegzugeben kam definitiv nicht mehr in Frage.

Unten in der Küche taute sie das teure Fischfilet auf, um den Neuzugang zu verköstigen. Sie selbst bestellte sich ein Menü beim Inder, welches etwas später geliefert wurde. Anschließend forderte sie weiteres Videomaterial an, um eine Entscheidung fällen zu können.

Das Böse in mir

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