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Kapitel 5

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Der Tisch war bereits gedeckt, als sie Victors Büro betraten. Das Essen unterschied sich in keinster Weise von dem in Deutschland: pappiges Brot, labberige Wurst und übermäßig gesüßter Tee. Ein Anflug von Heimweh machte sich breit. Sie vermisste Minou, Maria, Tim, David und ihre Patienten. Vor allen Dingen sehnte sie sich nach einem heißen Bad und ihrem großen Doppelbett.

„Sehnsucht nach den eigenen vier Wänden?“ Erschrocken hob sie den Blick. „Sie sitzen gedankenverloren am Tisch und greifen nicht zu. Dieser Gedanke schien naheliegend.“

Im ersten Moment hatte sie tatsächlich gedacht, er könne ihre Gedanken lesen. Doch das war vollkommener Unsinn. Ihre Körpersprache hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, wonach sie sich sehnte. Trotzdem war ihr Victor auf eine gewisse Weise unheimlich. Mehr als einmal kam es ihr so vor, als ob er jedes Geheimnis von ihr wusste, dabei waren sie sich noch nie begegnet.

Nachdenklich schmierte sie sich ein Brot und trank den heißen Tee. Der elektrische Samowar summte leise vor sich hin. „Ludmilla hat mir erzählt, dass Sie auch Kinder betreuen. Dürfte ich mir diese Station ansehen?“

„Wollen Sie sich das wirklich antun?“

„Warum nicht? Ich möchte ehrlich sein, vieles ist anders als in Deutschland. Vielleicht steht es mir nicht zu, darüber zu urteilen, aber mit Spendengeldern könnte man doch die eine oder andere Verbesserung erwirken. Besonders die Kinder liegen mir am Herzen.“

„Sie wünschen sich ein Kind, nicht wahr?“

Eine Hitzewelle durchflutete ihren Körper und sie kam sich völlig überrumpelt vor. Er taxierte sie erneut auf diese bestimmte Weise und sie hatte das Gefühl, völlig nackt am Tisch zu sitzen. Bildete sie sich das nur ein oder blitzte in seinen Augen eine Spur von Begehren auf?

Zwischen ihren Beinen kribbelte es gewaltig, unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. Sie starrte auf seine Hände und stellte sich vor, wie er ihr die Kleider vom Leib riss, sie packte und rittlings auf seinen Schoß setzte. Oh Gott, woher kamen nur diese unmöglichen Gedanken?

„Wenn Sie mögen, können wir uns gleich im Anschluss die Kinderstation ansehen.“

Verwirrt schaute sie auf. „Victor, Entschuldigung, was haben Sie eben gesagt?“

„Der Abend ist noch jung und ich würde Sie jetzt in den Kindertrakt begleiten.“

Wie bitte? Jetzt? Eigentlich wollte sie sich noch um ein Hotelzimmer kümmern. Der Gedanke an eine weitere Nacht in diesem Haus, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Aber bevor Victor es sich anders überlegte, sagte sie zu.

Das Haus, in welchem die Kinder untergebracht waren, lag abseits. Es schien noch einen Tick maroder, als die anderen Gebäude. Die Einrichtung zeigte sich ebenso spartanisch, wie erwartet. Es gab kein Spielzeug oder andere Beschäftigungsmöglichkeiten. Verlassen hockten die Kinder in Gitterbetten oder speziellen Stühlen, teilweise fixiert und festgebunden.

Die meisten kindlichen Patienten litten unter ausgeprägtem Hospitalismus. Die menschliche Zuneigung fehlte an allen Ecken und Enden. Das Pflegepersonal war mit der Versorgung der Kinder beschäftigt, Zeit für eine liebevolle Betreuung fehlte. Es herrschte ein rauer Umgangston und Katharina zerriss es das Herz, die Kinder um Zuwendung betteln zu sehen. Leise stöhnte sie auf.

„Was haben Sie denn erwartet? Die Menschen in einer sogenannten Irrenanstalt gelten hier nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Ich denke, dass dürfte Ihnen nicht entgangen sein. Russland hat großen Nachholbedarf.“

„Ich bin mir dessen durchaus bewusst, trotzdem stimmen mich diese Bilder traurig. Wenn dem nicht so wäre, sollte ich meinen Beruf aufgeben.“

„Haben Sie genug gesehen?“

„Ich denke schon. Machen wir jetzt Feierabend?“

„Ja. Soll ich Sie zu ihrer Unterkunft begleiten?“

„Nein danke, ich finde mich schon zurecht. Victor, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

„Danke, schlafen Sie gut.“

Beide traten gleichzeitig vor die Tür und die kühle Abendluft hüllte sie ein. Den ganzen Tag hatte sie sich drinnen aufgehalten und die frische Luft tat ihr gut. Victor lief schnurstracks in Richtung Hauptgebäude und verschwand im Hintereingang.

Zum ersten Mal allein außerhalb der Mauern, ließ sie die Umgebung auf sich wirken. Der dichte Wald hinter der Kinderstation wirkte bedrohlich, aber dafür war sicher nur die abendliche Dämmerung verantwortlich. Die verschlungenen Pfade führten ins Nirgendwo und bevor sie sich verlief, blieb sie in der Nähe der Gebäude. Grau in Grau wirkte alles noch trostloser als bei Tageslicht.

Sie schritt zwischen knorrigen Kiefern entlang und erneut flammte das Heimweh auf. Noch vier Tage musste sie durchhalten, das sollte wohl zu schaffen sein. Hinter ihr erklang ein leises Kichern. Erschrocken drehte sie sich um und tastete die Umgebung mit ihren Blicken ab.

„Ist da jemand?“

Ihre Frage blieb unbeantwortet, sie hatte sich bestimmt getäuscht. Jetzt sollte sie besser ihr Nachtquartier aufsuchen, anstatt durch das Parkgelände zu irren. Der Kies knirschte laut unter ihren Sohlen, als sie den Weg entlanglief. Trotzdem hörte sie das leise Rascheln hinter ihrem Rücken.

„He, was soll denn das?“, rief sie verärgert.

Trieb hier jemand seinen Schabernack mit ihr? Die Situation fand sie überhaupt nicht witzig.

Ein erneutes Kichern dicht neben ihr, ließ sie schreckhaft zusammenzucken. Was zum Teufel sollte das? War vielleicht einer der kleineren Patienten entwischt?

Jetzt wollte sie es genauer wissen und sprintete nach rechts zu einer hohen Buche. Hinter dem mächtigen Stamm konnte sich gut und gerne ein Kind verstecken. Keuchend bremste sie ab und umrundete mehrmals den Baum. Nichts.

Was nun? Sollte sie weitersuchen?

Wahrscheinlich spielten ihr die Sinne einen Streich, denn sie war total übermüdet. Erschöpft trottete sie zum Haus. Ein Singsang aus der Ferne ließ sie innehalten. Sie blieb stehen und lauschte den unverständlichen Worten. Es musste ein Mädchen sein, deren glockenhelle Stimme durch die Dämmerung hallte.

Vielleicht stand eines der Fenster offen und der Wald warf die Schallwellen zurück? Besser, sie sah sicherheitshalber noch einmal nach. Mit großen Schritten hastete sie zurück und umrundete den Kindertrakt. Einige der Fenster standen offen, doch nur das Geschrei und Gekrächze der Insassen drang nach draußen. Die Stimme des Mädchens war inzwischen verstummt.

Katharina wartete noch eine Weile, um auf Nummer sicher zu gehen, aber alles blieb still. Erst als ein trockener Ast am Waldrand knackte, zuckte sie nochmals ängstlich zusammen. Das war bestimmt nur ein Tier, versuchte sie sich zu beruhigen. Wieder erklang ein leises Kichern. Verdammt, was sollte das?

Anstrengt starrte sie zum Waldrand. Dieser bildete eine dunkle und furchteinflößende Wand und gab nichts preis. Es würde ihr schon nichts passieren, wenn sie rasch hinüberschritt und sich vergewisserte, dass keines der Kinder ausgebüxt war.

Sie holte tief Luft und setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen. Eigentlich gehörte sie überhaupt nicht zur Gattung der hysterischen Weibchen und selten jagte ihr etwas Angst ein. Doch hier war alles irgendwie so anders, so sonderbar. Ludmilla schien auf den ersten Blick die einzig normale Person auf diesem Gelände zu sein. Das restliche Personal legte eine abstoßende Gleichgültigkeit an den Tag, die ihresgleichen suchte.

Tja, andere Länder, andere Sitten. Ein tiefer Seufzer entwich aus ihrer Brust.

Endlich hatte sie den Waldrand erreicht und horchte. Überall raschelte das trockene Laub, in der Ferne schrie eine Eule und Fledermäuse sausten blitzschnell über ihren Kopf hinweg. Sie nahm die verschiedenen Gerüche des Waldes in sich auf, besonders den nach feuchter Erde.

So ganz geheuer war ihr nicht zumute und sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Sollte sie den vor sich liegenden Dschungel betreten oder es besser bleiben lassen?

Inzwischen drangen nur noch die Geräusche des Waldes an ihr Ohr und sie wandte sich zögerlich ab. Nachdem sie einige Meter zurückgelegt hatte, hörte sie erneut die melodische Stimme eines Kindes. Der Gesang schallte tatsächlich aus dem Wald heraus.

Sie fluchte leise und wünschte sich, diese kindliche Stimme überhört zu haben. Ob sie jemanden um Hilfe bitten konnte, der sie bei der Suche unterstützte? Und wurde überhaupt ein Kind vermisst?

Entschlossen lief sie zur Kinderstation und suchte nach einer Pflegerin, mit der sie sich auf Deutsch oder Englisch verständigen konnte.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich habe draußen ein Kind gehört. Könnte es vielleicht sein, dass einer ihrer kleinen Patienten ein Schlupfloch nach draußen gefunden hat?“

Die junge Pflegerin forderte sie auf, sich ein wenig zu gedulden. Es würde einige Zeit dauern, bis sie alle Stationen telefonisch abgefragt hatte.

Nervös schritt Katharina den Flur auf und ab. Inzwischen hatte die graue Dämmerung der rabenschwarzen Nacht das Zepter überlassen. Das würde eine eventuelle Suche erschweren. Voller Ungeduld starrte sie ständig auf die Uhr, bis sie nach einer Viertelstunde endlich erlöst wurde.

„Ich kann Sie beruhigen, alle Patienten liegen in ihren Betten, niemand fehlt.“

„Das ist sehr seltsam. Dicht neben mir habe ich ein Kichern gehört und kurze Zeit später ertönte ein glockenheller Gesang. Ein Kind allein im Wald, noch dazu in der Nacht, das ist doch gefährlich!“

„Ach so, dieses Phänomen meinen Sie. Na dann hätten wir uns den ganzen Aufruhr eigentlich sparen können. Ein kleines Mädchen, welches in der Kapelle zu Tode kam, spukt noch immer auf dem Gelände herum. Man erzählt sich, es will die Menschen vor dem Unheil bewahren, vor dem Bösen. Auch wir haben den Gesang schon mehrmals gehört. Es ist nur eine einsame verirrte Seele, glauben Sie mir.“

„Ja dann … tut mir leid für den ganzen Aufwand, den ich Ihnen bereitet habe.“

„Geht schon in Ordnung, schließlich konnten Sie davon nichts wissen.“

Kopfschüttelnd verließ Katharina das Gebäude. Dieser Aberglaube schien fest in den Einheimischen verwurzelt zu sein, unerschütterlich klammerten sie sich an alte Traditionen. Kein Wunder, dass in diesen Heimen der Fortschritt keinen Einzug hielt.

Trotzdem konnte sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Hatten Eltern vielleicht das eigene Kind hier einfach ausgesetzt? War es, total verstört und ängstlich, in den Wald geflüchtet? Und warum suchte das Pflegepersonal nicht nach diesem Kind?

Das Ganze war verrückt, einfach nur verrückt.

Unschlüssig stand sie vor der Tür. Dann gab sie sich einen Ruck und lief zum Waldrand zurück. Sie traute ihren Augen kaum, als sie ein Mädchen auf einem Baumstumpf sitzen sah. Das geblümte Kleid war fleckig und nicht mehr das neueste Modell. Außerdem war das Mädchen für die kommende Nacht viel zu leicht bekleidet.

„Hallo, was machst du denn hier?“

Eigentlich völliger Blödsinn das Kind auf Deutsch anzusprechen, aber vielleicht flößte Katharinas sanfte Stimme dem Kind Vertrauen ein.

Das Mädchen blickte auf, wirbelte herum und verschwand im Dickicht.

„So warte doch …“

Jetzt gab es kein Halten mehr und Katharina rannte dem kleinen Flüchtling hinterher. Zweigen peitschten in ihr Gesicht und mehr als einmal stolperte sie über die Baumwurzeln. Die Dunkelheit senkte sich über den Wald und schränkte die Sicht ein. Kurz darauf wurde ihr klar, dass sie das Mädchen aus den Augen verloren hatte.

„So ein Mist!“ Laut fluchend drehte sie sich im Kreis, aber das Kind blieb verschwunden. „Hallo? Wo bist du?“ Nichts.

Hoffentlich hatte sie sich nicht verlaufen. In der Ferne schimmerte die letzte Helligkeit des Tages, dort musste der Waldrand sein. Mit Sicherheit war es das Beste, wenn sie zur Unterkunft zurückkehrte. Morgen, bei hellem Tageslicht, konnte sie ihre Suche fortsetzen.

Während sie im diffusen Dämmerlicht über den Waldboden strauchelte, dachte sie über mögliche Hilfsmaßnahmen nach. Wenn das Mädchen so scheu war, sollte man das Kind vielleicht mit regelmäßigen Mahlzeiten und warmer Kleidung anlocken. Vielleicht gab es so seine Scheu auf?

Endlich war sie den Waldrand angekommen und atmete auf. Nur noch ein paar Schritte, dann hatte sie ihr Häuschen erreicht. Eine bleierne Müdigkeit ergriff von ihr Besitz. Sie würde wahrscheinlich nur noch ins Bett fallen und augenblicklich einschlafen.

Diesen Gedanken hatte sie noch nicht zu Ende gesponnen, als das Mädchen erneut ihren Gesang anstimmte. Das durfte doch jetzt nicht wahr sein? Warum musste dieses Kind ausgerechnet jetzt singen? Hätte es nicht noch fünf Minuten warten können? Dann wäre sie bereits im Haus gewesen.

Sie spürte, wie Zorn und Mitleid sich gegenseitig abwechselten und konnte einfach keine vernünftige Entscheidung treffen. Ihr war bewusst, dass dieser Gesang eine Bedeutung hatte. Aber was wollte ihr das Mädchen mitteilen?

Also das ganze wieder von vorn. Die Stimme schien nicht weit entfernt zu sein und vorsichtig tastete sie sich voran. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was hier in der Dunkelheit alles so kreuchte und fleuchte. Sie zog den Kopf tiefer zwischen ihre Schulten und vermied möglichst die Berührung mit irgendwelchem Buschwerk.

Obwohl die Stimme so nah erschien, erreichte sie das Mädchen nicht. Tiefer und tiefer drang sie in den Wald hinein. So ein Kind musste sich doch fürchten? Selbst ihr war schon ganz mulmig zumute. Das Herz klopfte wild und in ihren Ohren rauschte das Blut.

Nach weiteren zehn Minuten, die sie tapfer durch den Wald gestolpert war, entdeckte sie vor sich einen sanften Lichtschimmer. Oh, wie dumm von ihr! Sie hatte gar nicht in Erwägung gezogen, dass vielleicht eine Familie in den Wäldern wohnen könnte. Schließlich befand sie sich in Sibirien, da kam es schon einmal vor, dass Leute am Rande der Zivilisation lebten.

Nur damit alles seine Richtigkeit hatte, wollte sie das Haus aufsuchen und nachfragen, ob deren Tochter ihr diesen Streich gespielt hatte. Einzig die Aussage der Pflegerin ließ leise Zweifel aufkommen? Warum hatte die Frau das Gebäude im Wald nicht erwähnt? Wenigstens würde sie gleich das Rätsel lösen.

Nur noch ein paar Meter, dann hatte sie den Ursprung der Lichtquelle erreicht. Inzwischen war es stockdunkel und sie war sich nicht mehr sicher, in welcher Richtung der Waldrand lag. Aber das würden ihr mit Sicherheit die Bewohner sagen, falls sie sich irgendwie verständigen konnten.

Jetzt war sie nah genug, um die Umrisse zu erkennen. Die gotischen Fensterleibungen sorgten bei ihr für Verwunderung, die sich sofort auflöste, als sie in dem Haus eine kleine Kapelle erkannte. Das heimelige Licht musste wohl von Kerzen stammen. Die Pflegerin behielt also Recht, hier gab es keine bewohnten Gebäude.

Ob das Mädchen in diesem Gemäuer wohl Unterschlupf gesucht hatte? Zumindest war es hier vor der Witterung geschützt. Nun ja, gleich war sie schlauer.

Katharina arbeitete sich durch das Gestrüpp, um einen Blick in das Innere der Kapelle zu erhaschen. Wenn sich das Kind drinnen befand, konnte sie vielleicht von außen leise die Türen schließen und Hilfe holen. Neugierig stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte hinein.

Überrascht zuckte sie zurück. Von dem Mädchen war weit und breit nichts zu sehen und auch der Singsang war verstummt. Stattdessen hielt sich Victor im Inneren auf und trank irgendein Gebräu aus einem Kelch. Sie hatte ja schon geahnt, dass er ein komischer Kauz war, aber was machte dieser Kerl bitteschön des Nachts in einer Kapelle? Suchte er hier die Abgeschiedenheit und Ruhe, die er tagsüber in der Klinik nicht fand?

Noch einmal spähte sie verstohlen durch das Fenster. Breitbeinig stand er da, mit verschränkten Armen und stierte auf den Altar. Seine Körperhaltung demonstrierte eine gewisse Härte, Unnachgiebigkeit und Männlichkeit.

Hallo, Miss Katharina, sind wir wieder bei diesem Thema? Sie konnte einfach nicht anders, als ihre Augen bewundernd über seinen Körper gleiten zu lassen.

Erst auf den zweiten Blick nahm sie das Innere der Kapelle wahr. Der dunkle Ruß der vielen Kerzen hatte den größten Teil der Wandgemälde unbrauchbar gemacht. Engel mit verzerrten, gespenstischen Gesichtern starrten ungläubig auf den Altar. Die schwarze Rußschicht schluckte das Licht der Kerzen, dadurch wirkten die flackernden Schatten an der Wand noch bizarrer.

Der Schatten von Victor besaß einen peitschenden Schwanz, der sich unruhig auf und ab bewegte. Auch die Farbe der Kerzen irritierte sie. Es dominierte das Rot in allen Varianten. Aber woher sollte sie schon wissen, was hier so gebräuchlich war? Wie schon einmal erwähnt: Andere Länder - andere Sitten.

Blieb nur die Frage offen, was dieser Mann mitten in der Nacht in einer Kapelle machte? Nach Beten sah das nicht unbedingt aus, eher wie eine Machtdemonstration. Aus diesem Kerl wurde sie nicht wirklich schlau.

Genau in diesem Augenblick drehte er sich um und starrte ihr geradewegs in die Augen. Ertappt wich sie zurück, stolperte über Wurzelwerk und plumpste in die Sträucher. Shit, er hatte sie bestimmt entdeckt.

Hastig rappelte sie sich auf und stürzte voran, nichts wie weg. Die gesamte Situation erschien ihr surreal. Und wo war überhaupt das Mädchen abgeblieben? Hatte Victor das Kind in diese Kapelle mitgenommen? Fragen über Fragen …

Sie hastete durch den Wald, verfing sich in Sträuchern und wusste bald überhaupt nicht mehr, wo sie sich befand. Orientierungslos suchte sie am Sternenhimmel nach möglichen Anhaltspunkten, aber das Blattwerk der Bäume war einfach zu dicht, um etwas erkennen zu können.

Nicht auch noch das! Sich hier zu verirren, kam einem Todesurteil gleich. Ob Victor ihr dicht auf den Fersen war? Vielleicht wäre es besser gewesen, sich ihm zu zeigen. Schließlich kannte er den Rückweg. Ehrlicherweise musste sie sich eingestehen, dass es ihr im ersten Moment peinlich gewesen war, ihn auf diese Art und Weise ausspioniert zu haben. Obwohl, so ganz stimmte das ja nicht, sie wollte eigentlich das Mädchen retten.

Auch wunderte sie sich über ihre eigene Wahrnehmung, sie musste einer seltsamen Sinnestäuschung auf den Leim gegangen sein. Als Victor sich zum Fenster gedreht hatte, glühten seine Pupillen regelrecht. Wahrscheinlich waren das nur die vielen roten Kerzen, sich in seinen Augen widerspiegelten. Von dem neckischen Zickenbärtchen, das an seinem Kinn klebte, ganz zu schweigen. Fehlten nur noch die Hörner auf seinem Kopf, dacht sie bissig. Die Scheiben waren einfach zu verdreckt und die Schwärze der Nacht tat ihr Übriges dazu.

Jetzt musste sie aber langsam einen Weg aus diesem nächtlichen Irrgarten finden, wenn sie morgen mit Ludmilla an den Monitoren durchhalten wollte. Doch das war leichter gesagt als getan. Vielleicht konnte sie sich an dem Bewuchs orientieren, der zum Waldrand hin lichter wurde? Nur wie sollte sie das anstellen, mitten in der Dunkelheit? Sie sah ja den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Frustriert hetzte sie durch die Nacht, bis sie auf eine Art Trampelpfad stieß. Sollte sie ihm folgen? Irgendwohin musste er ja schließlich führen.

Die schlechte Sicht machte ihr sehr zu schaffen und auch das Herz raste. Es war beklemmend, nicht den richtigen Weg zu finden. Schweiß rann ihr den Rücken herab, obwohl die Temperaturen stark gesunken waren. Die Mücken piesackten sie ordentlich und das ständige Knacken von trockenen Zweigen ließ sie ängstlich zusammenzucken. Ihre merkwürdigen Erlebnisse während dieser kurzen Zeitspanne würden für ein dickes Buch reichen.

Endlich lichteten sich die Baumreihen und der Mond schimmerte silbern durch das Blätterdach. Hoffnung keimte in ihr auf, es heute doch noch ins Bett zu schaffen. Die zerkratzten Arme brannten, die Mückenstiche juckten und die Füße schmerzten vom vielen Laufen. Warum musste sie auch ausgerechnet heute so unbequemes Schuhwerk tragen?

Erleichtert seufzte sie auf, als der Kies endlich wieder unter ihren Sohlen knirschte. Egal wie weitläufig diese ungepflegte Parkanlage auch sein mochte, sie würde ihre Unterkunft finden. Trotzdem hatte sie das Gefühl, noch weitere zehn Kilometer durch die Nacht zu irren, bis endlich das Gästehaus vor ihr auftauchte.

Verwundert stellte sie fest, dass ein Lichtschein aus einem der Dachfenster drang. Hatte sich ein Fremder Zugang verschafft oder war dem Personal ihr Fehlen aufgefallen? Gleich wusste sie mehr.

Die Tür knarzte beim Öffnen und der muffige Geruch strömte ihr entgegen. „Hallo? Ist hier jemand?“ Keine Antwort.

Sie hatte zumindest einen Lichtschimmer erwartet oder eine menschliche Stimme, doch nichts dergleichen sorgte für ihre innere Ruhe. Verhalten schloss sie die Tür und drückte auf den Lichtschalter. Nachdem endlich das Licht aufflammte, fühlte sie sich einen Tick wohler.

Trotzdem stellte sie noch einmal die Frage: „Ist hier jemand?“

In einem der oberen Zimmer knarrte der Dielenboden. Ihre gesamtes Hab und Gut würde sie auf der Stelle verkaufen, wenn sie dafür in einem Hotelzimmer nächtigen könnte. Und mit Sicherheit war ihr nicht zum Scherzen zumute.

Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals und die schweißnassen Hände wischte sie an ihrer Jeanshose ab. Wenn sie auf Nummer sicher gehen wollte, musste sie alle Zimmer durchsuchen. Dabei sehnte sie sich nur nach einer Mütze voll Schlaf und beschloss ernsthaft, in naher Zukunft der Forschung den Rücken zu kehren. Aus dem Alter war sie irgendwie raus …

In ihrem Inneren tobte ein Kampf und sie spürte die eigenen Ängste stärker denn je. Als kleines Mädchen fürchtete sie sich vor dem dunklen Keller, später machte ihr die Prüfungsangst zu schaffen. Aber noch nie hatte sie die ersten Anzeichen einer aufsteigenden Panik so deutlich empfunden, wie in diesem Haus. Als würde hier drinnen Etwas auf sie lauern und jeden ihrer Schritte beobachten.

Sie verharrte weitere Minuten regungslos, bis ein Ruck durch ihren Körper ging und sie sich aus ihrer Starre löste. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Raum für Raum nahm sie in Augenschein, ohne etwas Verdächtiges zu entdecken. Nur dieses Unwohlsein, diese unbändige Angst ließ sich nicht abschütteln. Vielleicht löste die Erschöpfung diese Art der Wahrnehmung aus und wer sollte das besser wissen als sie, die Psychiaterin?

Gähnend kramte sie ihre Nachtwäsche aus dem Koffer und schlurfte ins Bad. Vor der Dusche ekelte sie sich nach wie vor und wusch sich gründlich am Waschbecken. Inzwischen war ihr egal, wie muffig das Bettzeug roch. Sie sank auf das Laken, deckte sich zu und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.

Das Böse in mir

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