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Freitag, 13. Juni 2014
ОглавлениеDarton City, Ohio
„Halt! Stopp den Wagen! Sofort!“
Sophia schlug hektisch auf die Schulter des Fahrers. Aufgeregt hüpfte sie auf der Rückbank auf und nieder.
„Tom, bitte halt an!“
Tom Jordan trat auf die Bremse und fuhr auf den Seitenstreifen. Ehe er etwas sagen konnte, hatte Sophia schon die Wagentür aufgerissen und sprang hinaus.
„Nathalie“, schrie sie und winkte zur anderen Straßenseite.
Tom fluchte und drehte den Kopf, um zu erkennen, wen Sophia da entdeckt hatte. Wer zum Teufel war Nathalie? Nur kurz erhaschte er einen Blick auf die Frau. Sie war stehengeblieben und beschattete die Augen mit einer Hand, um herüberzusehen. Offensichtlich war sie gejoggt, zumindest deutete ihr grauer Jogging-Anzug darauf hin. Von ihrem Gesicht konnte er nicht viel erkennen, da ihre halblangen Haare vom Wind durcheinandergewirbelt wurden. Tom blinzelte. Waren die Haare wirklich weiß? Nein, er korrigierte sich, eher silbergrau. Auf jeden Fall auffallend hell. Diese Frau kannte er definitiv nicht. Zumindest die Haare wären ihm in Erinnerung geblieben.
Tom sah wieder zu Sophia und zu seinem Entsetzen machte das Mädchen gerade Anstalten über die Straße zu sprinten.
„Sophia, nein“, brüllte er und riss die Tür auf. Doch es war zu spät. Das Mädchen hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Mit wachsender Panik beobachtete er, wie Sophia die stark befahrene Straße überquerte. Zu ihrem Glück war der Verkehr im Moment etwas abgeflaut, aber trotzdem! Tom stieß erleichtert die Luft aus, als sie unbeschadet die andere Straßenseite erreichte. ‚Na warte‘, dachte er grimmig.
‚Dir werde ich sowas von Feuer unterm Hintern machen!‘
Es stimmte ihn auch nicht milde, dass in dem Gesicht der Frau die gleiche Erleichterung, gepaart mit Ärger zu lesen war.
*
„Sophia, bist du von allen guten Geistern verlassen?“
Nathalie zog das Mädchen von der Straße weg auf den Fußweg.
„Das war wirklich gefährlich!“
Sophia strahlte sie unbeeindruckt von der ärgerlichen Stimme an.
„Ich bin so froh, dass ich Sie gesehen habe.“
„Sophia!“ Nathalie setzte ihre strengste Miene auf. Das Mädchen reagierte sofort und senkte den Blick - um ihn gleich darauf zu heben und die Frau mit einem strahlenden Lächeln zu entwaffnen.
„Aber ich bin ehrlich froh. Ich wollte mich doch noch bei Ihnen bedanken.“
Nathalie hob fragend die Augenbrauen.
„Wofür?“
„Ich habe die Mathearbeit mit einem „Good“ bestanden. Achtundachtzig Prozent! Vielen, vielen Dank!“
Nathalie Bates veränderte ihre Miene nicht, obwohl sie innerlich applaudierte.
„Kind, das freut mich natürlich sehr, aber das hast du allein geschafft. Ich war nicht dabei.“
Sophia grinste sie stolz an.
„Klar, aber Sie haben mir das Werkzeug dafür gegeben. Ohne Ihre Tipps wäre ich garantiert durchgerasselt.“
Nathalie schüttelte den Kopf, lächelte jetzt aber doch.
„Mag sein, aber es war trotzdem deine eigene Leistung.“
„Sie hätten das nicht tun müssen. Sie kennen mich ja eigentlich gar nicht.“
Nathalie blickte in die strahlenden Augen und hob die Hand um dem Mädchen sanft über die Wange zu streichen.
„Es war nur ein wenig Zeit für ein trauriges Gesicht und ich bin froh, dass du diese gut genutzt hast. Davon abgesehen hat es mir auch Spaß gemacht. Aber ich glaube, da sorgt sich jemand um Dich.“
Sie wies zur anderen Straßenseite, wo Tom Jordan mit verschränkten Armen stand und finster herübersah.
„Ist das dein Vater?“
Sophia schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist Tom, mein ... äh ... Onkel.“
Nathalie ignorierte das Zögern in ihrer Stimme und nickte nur. Die Geheimnisse dieses Mädchens gingen sie nichts an. Mehr Sorgen machte ihr der zunehmende Verkehr.
Auch Sophia schien auf einmal zu verstehen, in welche Lage sie sich gebracht hatte. Mit wachsender Verzweiflung sah sie von links nach rechts. Doch die vorbeirasenden Autos ließen ihr keine Chance, die Fahrbahn zu überqueren. Ratlos blickte sie zu Tom hinüber, der sichtlich nervöser und ärgerlicher wurde.
Nathalie legte beruhigend die Hand auf Sophias Schulter.
„Bleib ruhig. Hier kannst du nicht über die Straße. Wir gehen zur nächsten Ausfahrt. Dort kann dein Onkel dich wieder aufsammeln.“
Sie winkte Tom zu und deutete dann in Richtung Ausfahrt. Tom nickte und stieg ein. Glücklich sah er immer noch nicht aus.
Während die beiden Frauen in seiner Fahrtrichtung entlang gingen, bemühte er sich, sie nicht aus den Augen zu lassen, indem er langsam auf dem Seitenstreifen fuhr. Innerlich fluchte er vor sich hin. Was hatte sich diese Göre nur dabei gedacht? So wichtig konnte nichts sein, dass man sein Leben dafür aufs Spiel setzte.
Als die Ausfahrt in Sicht kam, gab er Gas.
Nathalie beobachtete, wie er durchstartete, und wies ihrem Schützling den Weg hinab, weg von der Brücke.
Sophia sprang fröhlich vor ihr die Treppe hinunter. Sie folgte etwas langsamer. Es freute sie, dass das Mädchen von ihrem Crash-Kurs profitiert hatte. Solche Erfolgserlebnisse hatte sie leider viel zu selten. Die Studenten, mit denen sie meistens zu tun hatte, fragten in den seltensten Fällen um Rat. Und dann ging es eher um Fachwissen, nicht um Methodik.
Quietschende Reifen rissen sie aus ihren Gedanken, doch es war nicht Toms Wagen, der Sophia den Weg abschnitt.
Ein blauer Transporter hinderte das Mädchen am Weitergehen und zwei Männer sprangen aus dem hinteren Wagenteil. Sie waren dunkel gekleidet, maskiert und zu Nathalies Schrecken mit Maschinenpistolen bewaffnet.
Sophia schrie panisch auf und wirbelte herum, um wieder die Treppe hinaufzulaufen. Doch sie kam nicht weit. Die Männer ergriffen sie und zerrten sie zum Wagen. Sophia kreischte und wehrte sich nach Leibeskräften.
Nathalie überwand ihren ersten Schreck und rannte los.
Gerade als die Männer ihr Opfer in den Wagen stoßen wollten, erreichte sie den Transporter und griff nach einem der Entführer. Dieser drehte sich sofort, um seine Waffe auf sie zu richten, doch er erhielt einen Schwinger gegen sein Kinn, der ihn zurückwarf. Nathalie schrie selbst auf. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Menschen geschlagen, geschweige denn einen Kinnhaken ausgeteilt, und der Schmerz in ihrer Faust war überraschend heftig. Vom eigenen Schwung getragen fiel sie dem Mann hinterher. Ihr Knie erwischte offensichtlich eine empfindliche Stelle und er brach mit einem Aufstöhnen zusammen.
Nathalie trat nach seiner Waffe, so dass sie zur Seite flog und fasste nach der Pistole des anderen. Der dreht sich überrascht um und versuchte die Waffe frei zu bekommen. Sophia nutzte die Chance und trat ihm zwischen die Beine. Auch er sackte zu Boden und dem Mädchen gelang es, sich loszureißen.
„Komm!“ Nathalie packte ihren Arm und rannte los. Das Mädchen stolperte panisch hinterher. Als sie an einem parkenden Auto vorbeikamen, erklangen Schüsse. Nathalie spürte einen Schlag im Rücken, der sie von den Beinen riss.
‚Shit‘, dachte sie nur und robbte sich zur Seite hinter das Auto. Das Mädchen ließ sie dabei nicht los und zerrte es mit in Deckung. Schwer atmend blieben die beiden liegen. Wieder erklangen Schüsse. Nathalie richtete sich langsam in geduckter Haltung auf.
„Bleib liegen“, zischte sie dem Mädchen zu, welches sie aus großen Augen anstarrte. Wage regte sich in ihr der Verdacht, dass sie verletzt war, doch wie schwer und wo, wollte sie lieber nicht wissen. Noch nicht.
„Ich liebe Endorphine! Ihr treuen Gefährten, bleibt bei mir und haltet mich aufrecht“, murmelte sie. Ein Schatten fiel vor das Auto. Nathalie spannte die Muskeln an. Als Sophia aufschrie, hechtete sie vor. Noch im Sprung wurde sie gepackt, herumgewirbelt und krachte voller Wucht gegen den Wagen. Ein Knacken ertönte und gleißender Schmerz jagte ihren Arm herauf. Das Letzte was sie wahrnahm, waren Sophias Schrei, „Tom, nein!“, und gelbe Augen, die in Flammen standen.
Dann wurde es dunkel.
*
Tom starrte auf die zusammengesackte Gestalt und fluchte leise.
Das hätte nicht passieren dürfen. Die Frau, die Sophia vor einer Entführung bewahrt hatte, lag blutüberströmt zu seinen Füßen. Mehrere Kugeln hatten ihre Schulter durchsiebt. Mehr Pein bereitete ihm jedoch der gebrochene Arm, der im rechten Winkel auf unnatürliche Weise abstand. Dieser war eindeutig seine Schuld. Sein Versagen.
„Tom.“
Sophias Schluchzen zerrte ihn aus seinen Gedanken. Rasch trat er zu dem am Boden knienden Mädchen, das tränenüberströmt zu ihm hochblickte.
„Du darfst ihr nichts tun! Sie hat mir geholfen.“
Er zog sie auf die Füße.
„Ich weiß“, knurrte er. „Bist du okay?“
Sophia nickte.
„Dann lass uns verschwinden.“
„Aber ... aber Nathalie ...“
„Wir können sie nicht mitnehmen.“
„Du hast sie verletzt!“
Der Vorwurf war nicht zu überhören.
„Verdammnis, Mädchen. Wenn du nicht aus dem Auto gesprungen wärst ...“
Das war nicht fair und er wusste das. Diese Kerle hätten jederzeit zuschlagen können. Sie waren schwerbewaffnet und organisiert genug, um Sophias Schulweg zu kennen. So wie es aussah, hatten sie nur auf eine passende Gelegenheit gewartet.
Sophias anklagender Blick ließ ihn aufstöhnen.
„Wir rufen den Notarzt.“
„Und dann?“
„Und dann wird sie ...“
Nochmals verdammt! Dann würde sie der Polizei alles erzählen, und diese stände dann über kurz oder lang vor ihrer Tür. Seinem Boss würde das mit Sicherheit nicht gefallen.
Tom hasste die eigene Gedankenentwicklung. Viele Optionen hatte er nicht, um halbwegs glimpflich aus dieser Situation herauszukommen.
Mit einem unwohlen Gefühl im Bauch bückte er sich und nahm die verletzte Frau auf die Arme. Dass ihr Blut seinen Anzug ruinierte, war noch das Geringste seiner Probleme. Er würde sich genau überlegen müssen, was er zunächst Sophias Mutter und anschließend Asher Hunter berichten sollte. Beide waren keine einfachen Arbeitgeber und konnten äußerst unangenehm werden, wenn etwas schief lief.
„Beeil dich, ab in den Wagen!“, knurrte er Sophia zu. „Wir verschwinden sofort.“
*
Detektive Lewis Thomson überblickte den Tatort mit leicht verkniffenem Gesicht. Dies war bereits der zweite Schauplatz eines Mordes in dieser Woche. Nur dass beim ersten Tatort der Hergang eindeutig war. Ehemann killt Ehefrau und ruft anschließend verzweifelt die Polizei. Das war eine dicke Schlagzeile wert gewesen und machte die Ermittlung einfach. Doch dieser Fall hier versprach ihn länger zu beschäftigen. Drei Tote und jede Menge Blut und Patronenhülsen. Zeugen gab es keine und die genaue Tatzeit würde man erst noch herausbekommen müssen.
Er seufzte und schritt zu dem älteren Mann, der vor einer der Leichen hockte.
„Und? Kannst du schon was sagen, John?“
Dr. John McMillan wiegte den Kopf hin und her.
„Die Todesursache scheint offensichtlich: Bei dem hier war es ein Schuss in den Kopf, genauso bei dem anderen da hinten. Der Kerl vor dem Fahrersitz hat ein gebrochenes Genick. Da war jemand wohl ziemlich sauer.“
Detektive Thomson schnaufte nur und sah auf den Toten. Er trug immer noch eine dunkle Maske. Sein Mörder hatte es offensichtlich eilig gehabt - oder es war ihm egal, wer hinter dem dunklen Stoff steckte. Eines war auf jeden Fall sicher: Wer sich maskierte, führte meistens nichts Gutes im Schilde. Und das verkomplizierte die Lage zusätzlich. Er konnte nur hoffen, dass die Spurensuche weitere Hinweise auf den Tathergang ergab.
Landsitz von Asher Hunter, Ohio
Tom lauschte mit einem unwohlen Gefühl in den Telefonhörer. Dass sein Gesprächspartner kurz vor einem Wutausbruch stand, konnte er heraushören. Dass er damit gerechnet hatte, senkte seine Besorgnis nicht.
Asher Hunter atmete hörbar tief durch.
„Erzähl alles!“
Gehorsam berichtete er von Sophias Spurt über den Highway und wie er gerade noch rechtzeitig kam, um die Entführer auszuschalten. Dass er dabei diese Frau verletzt hatte, unterschlug er nicht, und seine Schuldgefühle waren deutlich zu hören.
„Ich konnte sie nicht dort lassen“, murmelte er. „Sie hat immerhin Sophia gerettet und sie kennt Sophias Namen.“
„Wo ist sie jetzt?“
„Ich habe sie in einem der Gästezimmer untergebracht und die Wunden notdürftig versorgt. Allerdings stecken die Kugeln noch und ihr gebrochener Arm ... Also sie braucht dringend ärztliche Hilfe.“
„Ist sie wach?“
„Nein. Noch nicht.“
„Hm, dann sag Dr. Hopkins Bescheid. Er soll sie versorgen. Wie geht es Sophia?“
„Sie war erst ziemlich verängstigt, aber jetzt hockt sie bei der Frau und schimpft auf die Entführer und auf mich.“
Asher Hunter lachte auf.
„Das sieht ihr ähnlich. Sag ihr, dass sie mich heute Abend anrufen soll. Ich will ihre Version auch hören. Und ich will jeden Tag informiert werden. Hast du die Sicherheitsvorkehrungen überprüft und verschärft?“
„Klar.“
„Soll ich dir noch jemanden zur Verstärkung schicken?“
Tom zögerte.
„Ich weiß nicht, Boss, Julia ist ja schon mit mir überfordert.“
„Aber du hast ihr von der Entführung erzählt?“
„Ja, klar, und sie war ehrlich entsetzt.“
„Dann wird sie es wohl akzeptieren müssen, wenn noch ein weiterer Mann auf unsere Kinder aufpasst. Zumindest in der nächsten Zeit, bis wir mehr über diese Bastarde erfahren haben.“