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Samstag, 14. Juni 2014

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Landsitz von Asher Hunter, Ohio

Das Erste was sie wahrnahm, war ein dumpfer pochender Schmerz in ihrer Schulter. Dr. Nathalie Bates blieb mit geschlossenen Augen liegen und versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Eine kurze Erinnerung an gelbe Augen blitzte in ihr auf, doch dann drängte sich alles andere mit Macht an die Oberfläche. Sophia!

Sie setzte sich mit einem Ruck auf und sank dann sofort mit einem leisen Stöhnen zurück. Schmerz schoss ihr durch die Schulter und den rechten Arm. Jetzt erst registrierte sie den Gipsverband, und ein Blick auf ihren Oberkörper zeigte ihr einen dicken Verband um der linken Schulter.

Angespannt sah sie sich um. Sie war nicht im Krankenhaus, soweit war sie sich sicher. Dies sah eher nach einem privaten Gästezimmer aus und die Einrichtung war eindeutig von gehobenem Standard. Keine Billigmöbel, sondern sauber verarbeitetes Massivholz. Ein großes Fenster ließ den Blick auf einen gepflegten Garten zu, der eher wie ein Park wirkte.

Langsam richtete sie sich erneut auf und wartete, bis sich der erste Schwindel legte. Dann sah sie sich weiter um.

Neben ihr war ein kleiner Tisch, auf dem ein Glas Wasser und eine Wasserkaraffe standen. Alles wirkte sauber und gepflegt. Neben einem Kleiderschrank befand sich ein schmales Bücherregal. Auf der anderen Seite sah sie eine Kommode, über der ein altertümlicher Spiegel aufgehängt war.

Ein Tisch in der Ecke des Raumes war mit zwei gemütlich wirkenden Sesseln ausgestattet und ein kleiner Sekretär bot die Möglichkeit Korrespondenz zu erledigen.

Zwei Türen konnte sie sehen. Vermutlich führte eine in ein Badezimmer.

Wo war sie gelandet?

Es dauerte keine Minute, bis sich die Tür öffnete und ein hochgewachsener Mann eintrat. Nathalie blinzelte und erinnerte sich. Das war doch der Mann, der Sophia gefahren hatte. Neugierig betrachtete sie ihn. Seine blonden Haare hatten einen gepflegten Kurzhaarschnitt, nur ein widerspenstiger Wirbel an der rechten Schläfe störte ein wenig das Bild. Doch sie fand dies eher sympathisch. Seine Bewegungen verrieten Kraft und Ausdauer, als er an ihr Bett trat. Eindeutig kein Stubenhocker, schätzte sie. Mit einer gewissen Erleichterung registrierte sie, dass er keine gelben Augen hatte. Sie waren blau und sah jetzt ernst auf sie herunter.

„Sie sind der Onkel von Sophia!“, stellte Nathalie fest.

In seinem Gesicht zuckte es amüsiert.

„Hat sie das gesagt? Das sieht ihr ähnlich.“

„Ich hab es ihr auch nicht wirklich abgenommen“, gestand Nathalie. „Es klang nicht überzeugend. Wer sind Sie dann?“

„Ich bin für Sophias Sicherheit zuständig.“

„Oh!“ Nathalie musterte wieder seinen Körperbau und nickte dann. Das ergab eher Sinn. „Geht es Sophia gut? Ist sie verletzt?“

„Nein, sie hat ein paar Schrammen und blaue Flecken, aber ansonsten geht es ihr bestens.“

„Gott sei Dank.“ Nathalie atmete erleichtert auf. „Wissen Sie denn schon, wer diese Kerle waren?“

Er hob die Schultern.

„Soweit ich weiß, hat die Polizei ihre Identität noch nicht ermittelt, und auch wer sie beauftragt hat, wissen wir noch nicht.“

„Muss ich denn keine Aussage bei der Polizei machen? Und warum bin ich nicht im Krankenhaus?“

Jetzt zögerte er. Dann gestand er: „Die Polizei weiß nichts von Ihnen und auch nicht von Sophia. Und so soll es auch bleiben.“

Nathalie holte überrascht Luft.

„Aber ... die waren schwer bewaffnet. Wenn sie das wieder versuchen ...“

„Das werden sie nicht.“ Seine Stimme klang sanft, aber seine Augen wirkten kühl und nüchtern. „Sie sind tot.“

Für einen kurzen Moment fühlte Nathalie einen kalten Schauer durch sich hindurch wandern.

„Sie haben diese Männer getötet!“

Es war keine Frage und in seinen Augen stand die Bestätigung geschrieben.

„Oh mein Gott“, murmelte Nathalie und ließ sich wieder zurücksinken. Nach einigen Sekunden meinte sie:

„Okay, im Prinzip kann ich das akzeptieren. Diese Mistkerle haben auf mich geschossen! Und ein Kind zu entführen ist eine Riesensauerei.“ Sie stockte und versuchte den aufsteigenden Zorn in sich zu ersticken. „Aber warum sagen Sie der Polizei nicht, was passiert ist? Falls jemand im Hintergrund die Fäden zieht, muss der doch gefunden werden! Darf ich eigentlich Ihren Namen erfahren?“

„Tom. Tom Jordan. Und nein, wir wollen nicht, dass die Polizei von Sophia erfährt.“

„Und wer ist bitte schön wir?“

„Sophias Vater.“

Das war nicht weiter überraschend. Aber es war nicht in Ordnung.

„Sie lassen die Polizei absichtlich im Ungewissen, was diese toten Männer angeht? Aber wie wollen Sie denn herausfinden, wer für diesen Überfall verantwortlich ist?“

Tom Jordan zögerte, doch dann antwortete er: „Glauben Sie mir, mein Boss hat da seine Kontakte. Aber oberste Priorität hat der Schutz der Kinder. Jede Aufmerksamkeit auf sie soll vermieden werden. Und das gilt auch was Polizei, Presse oder sonst irgendwelche Leute angeht.“

„Und ich vermute mal, dass Sie jetzt von mir erwarten, dass ich den Mund halte und niemandem davon berichte.“

Er nickte bestätigend.

„So ist es. Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie eingegriffen und Sophia beschützt haben. Doch noch mehr helfen Sie ihr, wenn Sie nicht reden.“

Darüber musste Nathalie erst einmal nachdenken, und das sagte sie auch. Sie sah ihm an, dass ihm das nicht passte, doch er nickte.

„Tun sie das. Haben Sie Schmerzen?“

„Es lässt sich aushalten.“

Das war zwar nicht ganz richtig, doch sie war nicht bereit, Schwäche zu zeigen. Das war noch nie ihr Ding gewesen. Nur einmal in ihrem Leben, war ihr die Kontrolle entglitten, und das hatte sich furchtbar angefühlt. Sie hoffte, dass ihr das nie wieder passieren würde.

„Wenn Sie etwas benötigen, oder die Schmerzen zunehmen, können Sie die Glocke benutzen.“ Er wies auf eine kleine Handglocke, die ebenfalls auf dem Beistelltisch stand. „Gibt es etwas zu beachten, was Ihre Ernährungsweise angeht?“

Sie blinzelte überrascht. „Nein, nicht dass ich wüsste, aber nett, dass Sie fragen.“

Er nickte und verließ ohne weiteren Kommentar den Raum.

Nathalie stieß spontan die Luft aus. Jetzt hatte sie einiges zum Nachdenken. Dieser Mann war ihr – unheimlich. Warum konnte sie nicht sagen. Und das, was er ihr erzählt hatte, war heftig. Sie bezweifelte keine Sekunde, dass er diese Männer getötet hatte. Wie viele waren es gewesen? Doch mindestens drei! Selbst wenn er diese Kerle überrascht hatte, war das bemerkenswert. Schließlich waren die schwer bewaffnet gewesen.

Und wie sollte sie mit der Forderung umgehen, der Polizei nichts zu erzählen? Sie kam nicht weit mit ihren Überlegungen, denn die Tür wurde aufgerissen und Sophia stürmte herein. Hinter ihr lugte vorsichtig ein kleinerer Junge ins Zimmer.

„Sie sind wach“, strahlte Sophia. „Geht es Ihnen gut?“

Nathalie war froh, dass sich das Mädchen nicht in ihre Arme warf, sondern vor dem Bett stehen blieb.

„Hallo Sophia“, lächelte sie. „Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist. – Ist das dein Bruder?“

Sophia warf einen ungeduldigen Blick zur Tür.

„Komm schon rein, Benni, Nathalie ist total nett. Und unheimlich klug!“

Als der Junge zögernd das Zimmer betrat und näher kam, war deutlich zu erkennen, dass er Sophias Bruder war. Die gleichen blonden Haare, und die gleichen blauen Augen. Doch er wirkte vorsichtiger, schüchterner. Nathalie schätzte sein Alter auf ungefähr zehn Jahre.

Sie lächelte ihn freundlich an.

„Hallo Benni, freut mich, dich kennen zu lernen.“

Benedict Hunter stand mit niedergeschlagenen Augen vor ihr und seine Hände krampften sich nervös ineinander. Er wirkte, als hätte er noch nie eine fremde Frau gesehen.

Sophia plapperte dagegen sofort los.

„Tom hat gesagt, dass Sie Schmerzen haben, aber es nicht zugeben wollen. Das ist aber alles andere als klug! Ich hab mal gelesen, dass Schmerzen einen verkrampfen lassen und dann wird alles nur noch schlimmer.“

Nathalie musste lachen und verzog sofort das Gesicht.

„Dein sogenannter Onkel hätte dir das nicht erzählen sollen, Sophia. Es ist meine Entscheidung, was ich aushalten will und was nicht.“

Sie wurde sofort knallrot.

„Tut mir leid. Das mit dem Onkel mein ich. Aber wenn ich Ihnen gesagt hätte, dass er mein Leibwächter ist, hätten sie vielleicht gedacht, dass ich mich wichtigmachen will. Das wollte ich nicht.“

„Sophia, du bist wichtig! Jeder Mensch ist wichtig. Und wenn deine Eltern glauben, dass du Schutz brauchst, werden sie ihre Gründe haben und es muss dir nicht peinlich sein.“

Das Mädchen grinste wieder.

„Sie sind wirklich klug. Danke. Und noch mehr danke, dass Sie mich beschützt haben. Ich bin so froh, dass diese Bastarde Sie nicht schlimmer getroffen haben.“

„Bastarde ist kein guter Ausdruck“, tadelte Nathalie lächelnd.

„Das waren ja auch keine guten Kerle“, verteidigte sich Sophia. „Und außerdem hat Dad den Begriff benutzt. Dann darf ich das ja wohl auch.“

„Da kann ich wohl nicht widersprechen.“

Nathalie musste sich zwingen, nicht laut loszulachen. Sophia war zweifellos temperamentvoll, aber dazu ausgesprochen ehrlich in ihrer Art. Das gefiel ihr. Ihr Blick glitt wieder auf Sophias Bruder, der inzwischen vorsichtig zu ihr hochsah.

„Gehst du auch auf die Marble Hills High School?“

Er schüttelte den Kopf, aber es war Sophia, die antwortete.

„Benni hat einen Privatlehrer. Dad meint, dass das sicherer für ihn ist.“

„Hm.“ Nathalie überlegte, was sie darauf antworten sollte. Noch wusste sie zu wenig über diese Familie. Doch klar war jetzt schon, dass Sophia Hunter keiner durchschnittlichen amerikanischen Familie angehörte.

„Na, ich hoffe, der Lehrer ist wenigstens nett“, lächelte sie dann. Ein schüchternes Lächeln stahl sich auf Bennis Gesicht.

„Er ist sehr nett.“ Die Antwort kam leise aber bestimmt.

„Sehr schön. Ist Mathe zufällig auch dein Lieblingsfach?“

Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen.

„Mathe ist cool. Sophia ist nur zu dumm dafür.“

Seine Schwester schnaufte empört, aber Nathalie sah das belustigte Funkeln in ihren Augen und freute sich. Offenbar mochten die beiden Geschwister sich und das war wundervoll.

„Benni ist echt gut in Mathe“, bestätigte Sophia. „Dafür hat er überhaupt kein Gespür für fremde Sprachen. In Französisch ist er grottenschlecht!“

Benni verzog das Gesicht, aber Sophia quietschte plötzlich begeistert auf.

„Aber jetzt sind Sie ja da! Sie können ihm doch erklären, wie das mit der Lernstrategie funktioniert.“

„Das kannst du doch auch, Sophia“, wandte Nathalie lächelnd ein, aber das Mädchen schüttelte energisch den Kopf.

„Das hab ich schon versucht, hat aber nicht geklappt. Ich kann das nicht so gut rüberbringen wie Sie. Bitte! Erklären Sie es Benni auch.“

Nathalie seufzte innerlich, aber ihr war klar, dass sie nicht daran vorbei kommen würde. Schon allein deshalb nicht, weil sie Bennis hoffnungsvollen Gesichtsausdruck vor sich hatte.

„Ich hoffe ja nicht, dass ich allzu lange hier sein werde“, meinte sie, „aber gut. Ein zwei Stunden werde ich sicherlich Zeit dafür haben.“

„Ja!“ Sophia klatschte triumphierend in die Hände. „Super. Benni, glaub mir, das katapultiert dich weit nach vorne.“

„Moment“, bremste Nathalie ihre Euphorie. „Das hängt einzig und allein von deinem Bruder ab. Ich kann nur die Strategie liefern. Umsetzen muss er es alleine.“

Es klopfte an der Zimmertür und eine junge Frau trat ein.

Nathalie war erst irritiert von ihrer Bekleidung. Sie trug ein knielanges graues Kleid mit einer weißen Schürze. In den Händen hielt sie ein Tablett.

„Ich bringe Ihr Abendessen. Dr. Bates.“

Ihr Lächeln war freundlich aber distanziert.

„Oh.“ Nathalie richtete sich langsam auf. „Das ist sehr nett von Ihnen. Darf ich wissen, wer Sie sind?“

„Das ist Daisy, unser Hausmädchen“, tönte Sophia. Nathalie runzelte die Stirn und sah sie unwillig an.

„Sophia, dich habe ich nicht gefragt! Und ich denke, die junge Frau kann selber antworten.“

„Tschuldigung“, murmelte Sophia und zog den Kopf ein.

„Es ist nicht schlimm, Dr. Bates“, versicherte das Hausmädchen hastig. „Sophia meint das nicht böse.“

„Das weiß ich, Daisy.“ Nathalie lächelte sie freundlich an. „Aber es ist eine Frage des Respekts. Nochmals danke für das Essen.“

Daisy stellte das Tablett auf den Beistelltisch.

„Soll ich Ihnen helfen?“

„Danke, aber das krieg ich schon irgendwie hin.“

Als Daisy verschwunden war, meinte Sophia ärgerlich:

„Was meinen Sie mit Respekt? Ich hab doch nur ...“

„Sophia“, unterbrach Nathalie sie. „Wem habe ich die Frage gestellt?“

„Äh ... Daisy.“

„Genau. Hast du geglaubt, dass Daisy nicht in der Lage ist zu antworten?“

Sophia wurde rot.

„Nein“, murmelte sie dann.

Nathalie nickte. „Dann wirst du auch wissen, was ich damit meine. – Aber du kannst mir gerne helfen. Ich glaube, das Tablett steht auf meinen Beinen besser als auf dem Tisch da.“

Sekunden später stand vor ihr ein respektables Abendessen und sie schickte die Kinder hinaus. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Immerhin musste sie sich entscheiden, ob sie Tom Jordans Ansinnen nachkommen wollte.

Noch am gleichen Abend erhielt sie weiteren Besuch.

Julia Hunter war eindeutig Sophias und Benedicts Mutter. Das gleiche blonde Haar und die gleiche Kinnpartie. Aber ihr schien es, dass Benedict seiner Mutter mehr ähnelte, als Sophia. Vermutlich kam das Mädchen mehr nach dem Vater.

In Julia Hunters braunen Augen stand Neugier, aber auch eine gewisse Ablehnung geschrieben.

„Sie sind Professorin an der Stanford University!“

„Hm, so ist es.“

Nathalie beschloss, erst einmal unverbindlich freundlich zu sein und herauszufinden, warum Julia Hunter sie nicht mochte, obwohl sie sich nie begegnet waren.

„Sophia hat mir erzählt, dass Sie ihr bei Mathe geholfen haben.“

„Hm, auch das ist richtig. Allerdings habe ich ihr nicht unbedingt bei Mathe geholfen. Ich habe ihr nur gezeigt, wie Sie Mathe am besten lernt. Und Ihre Tochter ist erfreulicherweise klug genug, das umzusetzen.“

Ein leises Lächeln zuckte durch Julia Hunters Gesicht.

„Ja, sie ist wirklich klug. Aber manchmal auch sehr anstrengend, weil sie immer alles besser weiß.“

Jetzt musste Nathalie doch lachen und das rächte sich sofort. Ein Zucken glitt über ihre Miene, doch sie schluckte den Schmerz hinunter und meinte: „Das hört sich nach einem pubertierenden Teenager an. Die sind meistens anstrengend.“

„Haben Sie auch Kinder?“

Nathalie schüttelte den Kopf.

„Nein, leider nicht.“

Sie kannte diese Frau nicht und würde ihr mit Sicherheit nichts von ihrer privaten Hölle erzählen.

„Dann haben Sie keine Ahnung, wie das ist“, erklärte Sophias Mutter. „Seien Sie froh. – Es tut mir leid, dass Sie verletzt wurden. Aber ich muss zugeben, dass ich dankbar bin, dass es Sie getroffen hat und nicht meine Tochter. Das hört sich zwar nicht nett an, doch wenn ihr etwas passiert wäre, wäre hier die Hölle los gewesen.“

Als sie Nathalies fragende Mimik sah, schob sie nach: „Mein Mann ist ein – na, sagen wir mal ein Choleriker. Und wenn es um unsere Kinder geht, ist er besonders empfindlich.“

Nathalie wurde aus dieser Frau nicht schlau. Sie wirkte zerrissen zwischen den verschiedensten Gefühlsebenen. Liebe, Hass, Enttäuschung, Zorn, Traurigkeit. Doch welches Gefühl galt wem?

Nathalie Bates war erleichtert, als sie kurze Zeit später wieder alleine war. An was für eine Familie war sie da bloß geraten? Nichts schien hier normal zu sein. Keine Harmonie, kein übliches Familienleben. Doch was war heutzutage schon normal? Wenn sie darüber nachdachte, fielen ihr nur erschreckend wenige Familien ein, die halbwegs funktionierten, wenn man einen konservativen Maßstab anlegte. Die meisten Ehen waren geschieden, Patchwork-Familien schon eine Normalität und Alleinerziehende keine Seltenheit.

Immerhin hatten Sophia und Benedict noch Eltern.

Ob sie den Vater auch noch kennenlernen würde?

Es war später Abend, als Tom Jordan das Zimmer wieder betrat. Als sie ihn nach Asher Hunter fragte, schüttelte er den Kopf.

„Er wohnt nicht hier.“

„Und diese Entführung ist kein Grund für ihn zu kommen?“, fragte sie erstaunt.

„Den Kindern geht es gut und hier auf dem Landsitz sind sie sicher“, kam die trockene Antwort. „Er kommt nur, wenn es absolut notwendig ist.“

Das war heftig. Und seltsam.

„Sophias Mutter hat angedeutet, dass ihm sehr viel an den Kindern liegt“, hakte sie vorsichtig nach. Tom schien mit sich zu ringen, doch schließlich meinte er:

„Er wäre sofort da, wenn Julia es zuließe. Sie will nicht, dass er kommt.“

„Das – tut mir leid. Wissen die Kinder davon?“

Er nickte. Spätestens jetzt war Nathalie klar, dass sie wohl niemals Julia Hunters Freundin werden würde. Wie konnte diese Frau ihren Kindern den Vater entziehen? Das war absolut inakzeptabel. Sie seufzte.

„Und Sie können sie nicht dazu bringen, dass die Kinder ihren Vater öfter sehen können?“

„Ich bin nur geduldet, Dr. Bates. Julia kann mich noch weniger leiden als ihren Mann. Sie akzeptiert meine Anwesenheit nur, weil sie Angst um ihre Kinder hat. – Haben Sie es sich überlegt, ob Sie unserer Bitte nachkommen wollen?“

Nathalie schürzte unbewusst die Lippen.

„Wissen Sie Mr. Jordan, ich lasse mich ungern zu so einer Entscheidung drängen. Anscheinend ist hier bei Ihnen alles ziemlich kompliziert. Mir ist durchaus klar, dass mich das Familienleben der Familie Hunter nichts angeht, aber Sie verlangen von mir etwas Ungesetzliches. Wenn ich mich darauf einlassen soll, brauche ich schon etwas Überzeugenderes als Familienzwistigkeiten.“

Er nickte. „Nennen Sie mich ruhig Tom, Dr. Bates. Und es liegt mir fern, Sie zu etwas zu zwingen. Allerdings hat Asher Hunter angeordnet, dass Sie erst gehen können, wenn diese Angelegenheit geklärt ist.“

Sie blinzelte überrascht. Das klang schon beinahe danach, dass man sie hier gefangen hielt.

„Hm, also ist dieses Zimmer hier eine gemütliche Gefängniszelle?“

Jetzt lachte er, doch sie registrierte, dass seine Augen nicht mitzogen.

„Keine Sorge, Dr. Bates, sie können sich frei bewegen. Aber das Gelände sollten sie tatsächlich nicht verlassen. Noch wissen wir nichts über die Entführer und Sie sind zu schwer verletzt.“

„Das war zwar keine echte Antwort auf meine Frage“, lächelte Nathalie, „aber zumindest haben Sie nicht unrecht. Im Übrigen können Sie mich Nathalie nennen, Tom. Der Dr. ist rein akademisch.“

Jetzt lächelten auch seine Augen und sie konnte sich vorstellen, ihn zu mögen. Doch eine Sache musste sie noch klären.

„Sie haben mir den Arm gebrochen, nicht wahr?“

Diese Frage traf ihn unerwartet und für einen kurzen Augenblick wurde er rot. Nathalie blinzelte. Waren das rote Muster auf seiner Haut gewesen?

Er räusperte sich und wirkte verlegen.

„Das tut mir aufrichtig leid, Dr. Bates – ich meine Nathalie. Sie haben mich angegriffen, weil Sie wohl glaubten, dass ich einer der Entführer war und – ich hab aus einem Reflex heraus gehandelt.“

„Das dachte ich mir schon“, lächelte sie. „Und ich bin Ihnen nicht wirklich böse. Wahrscheinlich muss ich sogar froh sein, dass Sie mir nur den Arm gebrochen haben.“

Wieder flimmerte es kurz rot über seine Haut.

„Wie gesagt, es tut mir sehr leid. Glauben Sie mir, Sophia hat mir schon die Hölle heiß gemacht. Sie war ausgesprochen sauer.“

„Na, dann kann ich mir die Mühe ja sparen“, schmunzelte Nathalie und legte sich in die Kissen zurück. Tom, der neben ihrem Bett gestanden hatte, nickte und wirkte erleichtert.

„Schlafen Sie gut, Nathalie.“

Sie sah ihm mit halbgeschlossenen Augen hinterher. Er war ihr immer noch unheimlich, doch dafür hatte er einige sympathische Züge durchblitzen lassen. Die nächsten Tage würden mit Sicherheit interessant werden.

Aschenhaut

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