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Nacktheit

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Demzufolge spielte auch Kleidung in der ursprünglichen Kunst keine große Rolle. Sie gehörte nicht wirklich zum Menschen, sondern war eher ein Schutzmittel gegen eine ungnädige Umwelt oder gar eine Ver-Kleidung. Und das änderte sich auch für sehr lange Zeit nicht. Die bildliche Darstellung der Nacktheit begleitete die Entwicklung der Kunst Jahrtausende lang, angefangen mit einer der ältesten bekannten Skulpturen, der Venus von Willendorf. Aber langsam wurde Kleidung, wie etwa bei den ägyptischen Pharaonen oder ganz allgemein der politischen Oberschicht, immer mehr zu einem Statussymbol und Nacktheit zu einem Armutszeugnis. Mit dem Aufkommen der abrahamitischen Religionen und der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies bekam dann diese selbstverständliche Nacktheit erste Risse, insbesondere im Islam, wo sie am stärksten tabuisiert wurde, vor allem die weibliche Nacktheit, und verstärkt durch das Bilderverbot, was den künstlerischen Ausdruck auf Ornamentik und Architektur begrenzte. Aber auch im offiziellen Christentum wurde sie zunehmend misstraurischer beäugt, was allerdings die mittelalterliche Freizügigkeit und Badekultur und auch die künstlerische Darstellung von Nacktheit nicht wirklich beeinträchtigte. Hier breitete sich erst im viktorianischen Zeitalter nicht nur eine Ablehnung von Nacktheit, sondern eine ziemlich umfassende, allgemeine Prüderie aus, die alles Freudige, Vergnügliche und vor allem Sexuelle ablehnte und dieser Ablehnung, wie etwa bei der Frage der Selbstbefriedigung, durch Horrorgeschichten und ganz physisch durch Beschneidungsmaßnahmen Nachdruck verlieh.

Spätestens hier wurden für viele Generationen Weichen gestellt, die das Selbstwertgefühl, das eigene Selbstverständnis, die eigene Natürlichkeit und Unmittelbarkeit und auch die Wahrnehmung Anderer extrem negativ beeinflusst haben. Als etwa die Europäer auf indianische Kulturen trafen, wurde deren natürliche Haltung zu Nacktheit als Barbarei verortet und die Indianer und Indios entsprechend „minderwertig“ eingestuft, verstärkt natürlich durch religiöse Ignoranz, Missionarismus und sehr zweifelhafte Vorstellungen von Kultur.

Hier kann man klar sehen, wie sexuelle, oder vielmehr pseudo-sexuelle Fehlhaltungen und kultureller Absolutismus ganz gravierende globale Auswirkungen haben können. Und dabei ist die Nacktheit ja noch nicht einmal eine unmittelbar sexuelle Angelegenheit, sondern erst einmal ein ganz natürlicher Zustand. Die kontinuierliche Verhüllung des menschlichen Körpers, vor allem der Genitalregion und der weiblichen Brüste, wirkt wie eine Gehirnwäsche und schafft Tabus, die man sich später teilweise wieder abgewöhnen muss, wenn man in der Umkleide und den Duschräumen von Fitnessstudios und anderen Sport- und Freizeiteinrichtungen mit allgemeiner und selbstverständlicher Nacktheit konfrontiert wird. Vor allem junge Männer haben hier Probleme, weil die ungewohnte eigene und fremde Nacktheit in Verbindung mit einem aktiven Hormonhaushalt sehr schnell zu allgemein sichtbaren und noch stärker tabuisierten Erektionen führen kann.

Dieses Wechselspiel von körperlicher Sichtbarkeit und sexueller Erregung wird in der westlichen und der islamisch beeinflussten Welt als Hauptgrund für die Tabuisierung von Nacktheit angeführt. Auch soll „züchtige“ Bekleidung die sexuelle Provokation in Grenzen halten und vor daraus resultierenden sexuellen Übergriffen schützen.

Allerdings wird hier, wie fast überall im Leben, das Gegenteil von dem gemacht, was notwendig und sinnvoll wäre, und statt auf Charakterbildung und Bewusstseinswachstum wird wieder einmal auf mechanistische Prinzipien und auf eine Regel- und Verbotskultur gesetzt, und natürlich werden überlieferte Traditionen unreflektiert weitergeführt und womöglich durch fundamentalistische Einflüsse verschärft, wie etwa beim Burkazwang in verschiedenen islamischen Ländern oder einem kuriosen Gesetz in einer kleinen Gemeinde in den USA, welches das Nacktbaden in der eigenen Badewanne untersagt.

Dabei ist es doch genaugenommen so, dass diese Verbote, diese Gebräuche und dieses Verstecken genau zu dem führen, was, warum auch immer, verhindert werden soll, denn sie prägen die sexuelle Wahrnehmung und trainieren sexuelle Reaktionsweisen. Wenn also etwa in extremen islamischen Kulturen mit Bilderverbot und Burkazwang das Bild der Frau abseits von der unmittelbaren Familie aus einem abweisenden Kleidungsstück besteht, dann führt das für die Männer dazu, dass Frauen für sie keine vollwertigen Wesen sind, mit denen man nicht so einfach in Interaktion treten kann, wie dies mit anderen Männern möglich ist, sondern dass sie mehr Objektcharakter haben. Die erwachenden sexuellen Gefühle finden dann in einer Welt, in der auch Homosexualität und Sexualität ganz allgemein stark tabuisiert wird, keine Ausdrucksmöglichkeit. Neben ihrem Objektcharakter erhält die Frau dann noch einen märchenhaften, fernen Nimbus. Natürliche, ausgewogene und gleichberechtigte Beziehungen sind unter solchen Umständen ein Ding der Unmöglichkeit. Die ganze explosive Erotik konzentriert sich dann auf das, was unter der Burka irgendwann vielleicht einmal zu sehen sein wird. Dadurch wird jeder noch so kleine Körperteil einer Frau für den Mann zu einem sexuellen Reiz.

Wenn man sich jetzt das andere Extrem ansieht, also westliche FKK-Anlagen, in denen man nicht einmal eine Schnur trägt, die in manchen Eingeborenen-Kulturen noch als Kleidung gilt, sondern vollständig nackt ist, so stellt sich hier das Bild ganz anders dar. Für einen traditionellen Muslim wäre eine solche Anlage der reinste Sündenpfuhl, und er wäre hier sexuell völlig überreizt. Für den passionierten FKKler dagegen ist die Situation völlig anders. Er ist permanent von völliger Nacktheit umgeben und kann die Schönheit des menschlichen Körpers, so er einen schönen Körper sieht, ungeniert genießen. Da die meisten Menschen die Kunst der Körperformung aber nicht sonderlich pflegen, sind äußerlich wirklich schöne Menschen nur selten zu finden. Und was die sexuelle Lust in solchen Anlagen angeht, so sagen altgediente Naturisten übereinstimmend, dass es nichts Unerotischeres gibt, als eine Ansammlung dauernd nackter Menschen.

Sexuelles Interesse wird also nicht umso stärker, je mehr man von einem Menschen sehen kann, sondern je mehr er verbirgt und je stärker das Verborgene mit Tabus belegt wird. Es sind immer die verborgenen Stellen, das, was man nicht sieht, was das Interesse auslöst. Wenn nun in der darstellenden Kunst, also in der Malerei, Fotografie oder im Film auf die sogenannte frontale Nacktheit, die Darstellung von Genitalien, verzichtet wird, dann zeugt das nicht von der gewünschten „Züchtigkeit“, sondern erzeugt sexuelle Spannung und den Wunsch nach mehr.

Bei den traditionellen Moralvorstellungen werden zwei Dinge miteinander verbunden, die nicht ursächlich voneinander abhängig sind: Nacktheit und Sexualität. Nacktheit kann einen sexuellen Reiz erzeugen, muss aber nicht, und sexuelle Reize sind eher davon abhängig, was im Kopf und im Hormonhaushalt vor sich geht, und damit für jeden Menschen verschieden.

Und wenn man sich künstlerische Darstellungen von Nacktheit ansieht, so steht nur hinter wenigen die Absicht der sexuellen Reizweckung. Meist steht eher im Vordergrund, die Schönheit und Harmonie des menschlichen Körpers zu zeigen, sein Mysterium, sein verborgenes Potenzial, oder den Charakter eines Menschen herauszuarbeiten.

Nacktheit in der Kunst war darum auch lange Zeit, trotz religiöser Einflussnahme kein Problem. Erst die Prüderie der letzten Jahrhunderte, die dafür verantwortlich war, dass Bilder und Statuen mit Feigenblättern aller Art ausgestattet wurden, schuf die künstlichen Probleme und Moralvorstellungen, die jetzt so schwer wieder abzulegen sind. Nacktheit ist ein natürlicher Zustand, der nichts sexuelles oder gar obszönes an sich hat. Er symbolisiert Offenheit und macht die Menschen ein wenig gleicher.

Kleidung hat eine Funktion; sie schützt uns vor vielfältigen äußeren Einwirkungen und erlaubt uns, verschiedene Dinge ohne großen Aufwand zu transportieren und ist darum bislang unverzichtbar. Aber wir sollten uns darauf besinnen, dass sie keinen Wert an sich darstellt. Doch die Beziehung, die wir zu unserem eigenen Körper und zu anderen Menschen haben, ist ein Wert an sich. Indem wir versuchen, Nacktheit von unseren Kindern fernzuhalten, sei es in der darstellenden Kunst, in der Schamhaftigkeit von Eltern oder in deren Bestreben, den Kindern gängige Moralvorstellungen zu vermitteln und sie zu ständigem Bekleidet-sein anzuhalten, vermitteln wir ihnen, dass Nacktheit, und insbesondere die Genitalien, etwas ist, das verborgen gehalten werden muss. Die Vertreibung aus dem Paradies fing mit dieser seltsamen und falschen Schamhaftigkeit an. Wenn wir darum zu einem neuen, besseren Paradies finden wollen, müssen wir darangehen, dieses Erbe abzulegen, denn dieses Nicht-offen-sein, das sich durch diese individuelle wie kollektive Geisteshaltung bei uns eingenistet hat, ist der erste Sündenfall, und dieser behindert uns, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, in unseren Kontakten zu unseren Mitmenschen und erschwert ein Aufeinander-zu-gehen. Man versteckt etwas vor dem Anderen und weiß, dass auch der Andere etwas vor uns versteckt; das schafft Unwohlsein und Misstrauen. Nun gibt es dafür natürlich noch viel mehr Ursachen, und Nacktheit ist dafür auch kein Allheilmittel, aber eine Offenheit und Unbeschwertheit körperlichen Dingen gegenüber hilft dabei, eine etwas offenere Grundhaltung unseren Mitmenschen gegenüber einzunehmen.

Wieweit sich das im täglichen und gesellschaftlichen Leben umsetzen lässt, muss sich noch zeigen. Aber man könnte sich an den alten Griechen ein Beispiel nehmen und bei Wettkämpfen auf Kleidung verzichten oder die öffentlichen Schwimmbäder für Naturisten öffnen oder Nacktwandergebiete ausweisen. Die Medienwelt könnte, mit Unterstützung der Gesetzgebung, ihren Beitrag leisten, indem Frontal Nudity als etwas Natürliches gehandhabt wird. Und es ist ausgesprochen lächerlich und prüde, wenn die Kamera ängstlich jeden Blick auf den unbekleideten Unterleib vermeidet oder wenn ein Mann nach offensichtlichem Sex mit einer Unterhose bekleidet aus dem Bett steigt. Das ist für die Entwicklung einer offenen Gesellschaft nicht hilfreich. Die Medien haben eine große Verantwortung den Menschen gegenüber und sollten darum nicht das Bild einer prüden und repressiven Gesellschaft fortschreiben, sondern verstärkt die Werte von Offenheit, Vertrauen, Akzeptanz, Zusammenarbeit und Liebe vermitteln. Und vor allem müssen wir natürlich bei uns selbst anfangen. Unsere Einstellung gegenüber Nacktheit haben wir von unseren Eltern und unserer Gesellschaft geerbt, und zwar ganz unterschwellig und subversiv – und wir sind nicht gefragt worden, ob wir dieses Erbe auch antreten wollen. Dieses Erbe wurde uns so beiläufig untergejubelt, dass uns oft gar nicht bewusst ist, dass es da etwas in uns gibt, zu dem wir uns keine eigene Meinung gebildet haben und über das wir vielleicht doch einmal nachdenken sollten. Nacktheit ist zwar wertneutral und nicht zwangsläufig sexualisierend, aber sie ist ein Zustand, in den man sich zwecks Einleitung sexueller Aktivitäten meist begibt, und nur sie erlaubt den maximalen Körperkontakt, der für eine befriedigende Sexualität von großer Bedeutung ist. Für eine befriedigende, wenn nicht sogar erfüllte Sexualität und ein harmonisches Miteinander und eine offene Beziehung ist ein entspanntes Verhältnis zu Nacktheit in jeder Form eine wichtige Voraussetzung und ein bedeutender Einstieg.

Sexualität – Eine Zukunft für die Zukunft

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