Читать книгу Sexualität – Eine Zukunft für die Zukunft - Anand Buchwald - Страница 8
Menschliche Sexualität und die Evolution
ОглавлениеWenn man einen Menschen fragt, von welchen Faktoren unsere Zukunft abhängt, dann bekommt man wohl vor allem Wirtschaft und Politik genannt. Die Progressiveren werden vielleicht vom Erhalt der Umwelt sprechen, von der Überwindung sozialer Krisen, von der Eindämmung des Klimawandels und der Überbevölkerung, vom Ressourcenmanagement, von der Fähigkeit zur Zusammenarbeit, von der Schaffung der Vereinigten Staaten des Planeten Erde und vielleicht noch von den wichtigsten Faktoren, dem Wachstum des Bewusstseins und der Liebe. Auf den Gedanken der Enttabuisierung und Neubewertung der Sexualität würde kaum jemand kommen, und manche würden diesen Punkt noch nicht einmal verstehen, denn schließlich scheint es in den Zeiten freier Liebe, hemmungsloser Pornografie und offen gelebter Homo-, Bi- und Transsexualität eigentlich keine sexuellen Tabus mehr zu geben. Doch bereits diese Sicht ist ein Kind der Tabuisierung der Sexualität, denn für jemand, der mit diesen Tabus aufgewachsen ist und sie vielleicht sogar verinnerlicht hat, ist der jetzige Zustand bereits mehr als der Gipfel sexueller Freizügigkeit und die eigene Haltung gequälter Duldung der Gipfel großzügiger Toleranz, und konservative bis fundamentalistische Kräfte würden immer noch lieber heute als morgen die alte Unterdrückungsmaschinerie wieder anwerfen, die Verhütung und Abtreibung verbieten, Sex nur in der Ehe erlauben und jede Abweichung von der Norm bestrafen.
Doch ist der derzeitige und durchaus noch nicht gefestigte Stand der Dinge allenfalls einer der ersten vorbereitenden Schritte zu einer wirklichen sexuellen Befreiung, vor allem in den Industrieländern. Unser Verhalten und unsere Einstellung mögen vielleicht, wenn man nicht genau hinsieht, den Eindruck von sexueller Freiheit erwecken, sind aber geprägt vom Verbergen und vom Gefühl, den gesellschaftlichen Standards nicht wirklich zu entsprechen. Eine gelungene Enttabuisierung erkennt man daran, dass kein Bewusstsein von Tabus mehr besteht, dass Sexualität so selbstverständlich geworden ist, wie etwa die Nahrungsaufnahme, und dass man darüber mit der gleichen Selbstverständlichkeit reden kann, dass die Frage nach dem Geschlecht des Partners keine Wertung mehr beinhaltet, dass man sich nicht mehr schmerzvoll, sondern freudig und unvoreingenommen auf die Entdeckungsreise in die Welt der eigenen Sexualität begibt, weil alles möglich, alles normal und alles in Ordnung ist, dass man angstfrei spielen und experimentieren kann, und dass man Beziehungen individuell und frei gestalten kann, was Menge, Art und Intensität der Zuneigung und ihres Ausdrucks und auch die Zahl der Partner betrifft. Die Uniformität in den Erwartungen an Beziehungen und in ihrem Ausdruck schwindet und macht einer ungezwungenen Vielfalt Platz, in der alles möglich ist. Und man erkennt eine enttabuisierte Gesellschaft auch daran, dass man für alle möglichen Ergebnisse, für alle Charakterkonstellationen, die auch dann nie in Stein gemeißelt sind, sondern nur Momentaufnahmen darstellen, ein Vorbild im realen Leben wie auch in der Welt der Medien findet. Doch davon sind wir noch weit entfernt, und wir müssen uns deswegen noch mit allen möglichen Einschränkungen, Sonderbehandlungen, Repressalien und, bei Abweichungen von der „Norm“, sogar mit der Angst um unser Leben herumschlagen – kurz gesagt: Wir sind nicht frei.
Aber hat diese Unfreiheit deshalb auch gleich Auswirkungen auf unsere globale Zukunft? Schließlich betrifft sie ja nur unser Privatleben und nicht die große Weltpolitik. Doch wie aus der Chaos-Theorie bekannt ist, können kleine Ursachen sehr große Auswirkungen haben; und die Sexualität ist keine kleine Ursache, sie ist eine Urgewalt. Die Kriege und Streitigkeiten, die direkt oder indirekt in der Sexualität, in Beziehungs- und Partnerschaftsproblemen und in Anspruchs- und Wunschdenken ihren Ursprung haben, beschränken sich nicht auf griechische Göttersagen oder auf den Fall von Troja – ihre Anzahl ist Legion.
Die Sexualität beherrscht unser Denken, unsere Empfindungswelt und vor allem unser Unterbewusstes in nicht zu kleinem, wenn auch individuell deutlich unterschiedlichem Ausmaß. Ob wir guten Sex hatten, schlechten Sex, gar keinen Sex, ob er uns unerfüllt zurücklässt oder das Gefühl hervorruft, die Welt umarmen zu wollen, ob wir manche Wünsche nicht zum Ausdruck bringen können oder uns beim Sex innerlich verbiegen müssen, ob Sex Ausdruck von Liebe, Freundschaft, Lust, Verlangen, Machtstreben, Unterwerfung, Manipulation, Gefälligkeit, Potenzgehabe, Pflichterfüllung, Wettstreit, Selbstbehauptung, Selbsttäuschung, Ablenkung oder sonst etwas ist, hat Auswirkungen auf unser tägliches Wohlbefinden, auf unser Selbstwertgefühl, auf die Wahrnehmung anderer Menschen, auf unsere Konzentration und Einsatzfähigkeit und -bereitschaft, auf den Grad unserer Frustration oder Zufriedenheit u.v.m. und damit auch auf die Interaktion mit unserer Umwelt.
Sind wir freudig erfüllt, so neigen wir dazu, auf die Welt zuzugehen, positiv zu denken, wohlwollend und offen zu sein, das Gute im Menschen zu sehen, unterstützend tätig zu werden und zukunftsorientiert zu handeln. Wir haben gute Laune und stecken Andere mit dieser an, so dass in unserer Umgebung der Geist der Zusammenarbeit, der Liebe und des gegenseitigen Respekts gefördert wird. Wenn dadurch auch nicht unbedingt und zwangsläufig Bewusstheit und Sachverstand gefördert werden, so schafft dieser Zustand doch eine Atmosphäre des Fortschritts und der Gemeinsamkeit, in der Krieg und Hass nicht gedeihen können, die aber statt dessen für Zusammenarbeit und Einheit offen ist – und das ist etwas, von dem wir nicht genug haben können und das wir für unseren Planeten dringend benötigen.
Sind wir mit unserem sexuellen Leben einigermaßen zufrieden, dann gehen wir vielleicht nicht ganz so freudig auf andere Menschen zu, aber wir sind immer noch grundsätzlich offen für neue Kontakte und Erfahrungen, und wir sind bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten. Wir arbeiten konzentriert, wenn auch nicht unbedingt inspiriert, und verbreiten eine Atmosphäre der Ruhe und Verlässlichkeit. Allerdings neigen wir dann auch dazu, das Leben einfach so hinzunehmen, keine Ansprüche an die Zukunft zu stellen und keine Visionen zu haben. In diesem Zustand sucht man keinen Streit, verwendet aber auch kein Herzblut dafür, ihn zu verhindern.
Ist man dagegen sexuell unzufrieden und frustriert, sei es weil der Sex schlecht war oder man nicht damit zurecht kommt, aus welchen Gründen auch immer, keinen sexuellen Ausdruck zu finden, dann wirkt sich das sehr deutlich auf die Stimmung und das Verhalten aus. Man wird unzufrieden, gereizt, unleidlich, aggressiv, unkooperativ, und das Bewusstheitsniveau und die Fähigkeit zur Selbstreflektion und zu Objektivität sinken. Statt dessen tritt das trennende Ego-Bewusstsein in den Vordergrund und beginnt, sich an allem zu reiben: an Einzelheiten der Arbeit, an der Arbeit an sich, an Eigenheiten der Mitmenschen (die immer weniger als solche empfunden werden), an den Lebensumständen, an Abläufen jeglicher Art und natürlich an den prominenten Vertretern anderer Ego-Bewusstseine. Dieser Zustand ist geprägt von Hass, Misstrauen, Ablehnung, unsozialem bis antisozialem und soziopatischem Verhalten. Wirkliche Zusammenarbeit findet nicht statt, und man sucht rücksichtslos den eigenen Vorteil und empfindet vor allem die etwas glücklicheren Menschen als Feinde. In dieser Atmosphäre gedeihen Macht- und Besitzstreben, Krieg, Ausbeutung, Manipulation, Intriganz und allgemein destruktives Verhalten – was eine sehr klare Beschreibung der gegenwärtigen Lage auf unserem Planeten darstellt und bedingt zu Rückschlüssen auf die globale Lage der sexuellen Kultur einlädt.
Natürlich gibt es für all diese Verhaltensweisen auch andere Ursachen, die letztlich alle zusammenwirken, aber wie schon Freud erkannte, ist die Sexualität neben dem Egoismus, wenn nicht von ihrem Wesen, so doch von ihrer aktuellen Bedeutung her, eine der wichtigsten davon. Und wenn wir uns den gegenwärtigen Zustand der Welt ansehen, dann liegt, wie schon angedeutet, der Schluss nahe, dass eine frustrierte Sexualität zu einem guten Teil dafür mitverantwortlich ist. Wir haben unsere Welt nicht frei gestaltet, weil wir nicht frei waren und es auch immer noch nicht sind, denn die Emotionen, die mit einer frustrierten Sexualität verbunden sind, halten uns mit festem Griff gefangen und färben oder diktieren unser Verhalten. Man könnte also sagen, dass unsere Welt das Resultat von Unbewusstheit, sexueller Frustration und Unreife ist, ein nie bewusst gestaltetes Zufallsprodukt.
Eine der Möglichkeiten, unsere Zukunft bewusst zu gestalten und aus unserer Welt einen besseren Ort zu machen, liegt also, neben einem generellen Bewusstseinswachstum, einer Entfaltung der Liebe und der Beziehungsfähigkeit, einer neuen Einstellung zu Besitz und neuen Beziehungsformen, einer reformierten Politik und Anderem auch und vor allem in einer freien und befreiten Sexualität, in einem neuen sexuellem Bewusstsein, für das eine Geisteshaltung nötig ist, deren Wachstum und Entfaltung den unerlässlichen Wandel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft durch eine neue Grundeinstellung und Offenheit deutlich erleichtern würde. All diese Bereiche bilden ein System gegenseitiger Beeinflussung, und darum hat jeder Fortschritt, der in einem Bereich erzielt wird, Einfluss auf alle übrigen Bereiche.
Mitursache für die vielen Probleme ist ein mangelndes Verständnis für die Sexualität und ihre Natur. Vor allem manche Kirchen möchten den Menschen Sex einzig und allein dann zugestehen, wenn eine bewusste Zeugungsabsicht innerhalb einer kirchlich geschlossenen Ehe der Grund für die sexuelle Aktivität ist. Selbstbefriedigung, Homo- und Bisexualität, Partnerwechsel, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Polygamie, Polyamorie, Promiskuität, Sex um der Freude willen oder gar Verhütung sind mit dieser Einstellung dann natürlich tabu, obwohl sich diese Kirchen seltsamerweise meist nicht weigern, Paare zu trauen, die auf Grund ihres Alters oder wegen Unfruchtbarkeit keine Kinder bekommen können. Diese ungesunde Einstellung zur Sexualität, die in einem eigenartigen Naturrechtsbegriff begründet ist, sichert der Kirche zwar eine enorme moralische Machtstellung, ist aber neben der allgemeinen menschlichen Unbewusstheit die Hauptursache für unseren verkrampften Umgang mit unserer naturgegebenen und – wenn man an Gott glaubt – gottgewollten Sexualität und für die daraus resultierenden Vorurteile und Neurosen.
Um den Umgang mit der Sexualität auf den Boden der Tatsachen zu bewegen, müssen wir uns ein wenig mit der Geschichte und der Natur der Sexualität befassen. Diese wurzelt in wirklich prähistorischen Zeiten und so mit einem Fuß auch in der Genetik. Die allerersten Lebensformen waren Einzeller, und diese vermehrten sich durch Zellteilung, was im Grunde genommen einer Klonung entspricht, denn die daraus entstehenden Individuen sind genetisch identisch. Evolution, und damit die Ausbildung verschiedener Arten, erfolgte zu diesem Zeitpunkt dadurch, dass infolge chemischer Unfälle oder Strahlungseinflüssen Mutationen im Genom entstanden, die unverändert an die Nachkommen weitergegeben wurden. Dieser evolutive Prozess war selbst für den Zeitbegriff der Natur etwas langsam. Aber im Laufe der Zeit bildeten sich andere Vermehrungsstrategien heraus, welche den Ablauf der Evolution ein wenig beschleunigten.
Schließlich erschien die geschlechtliche Vermehrung auf der irdischen Bühne, die Trennung des überwiegenden Teiles des irdischen Lebens in männlich und weiblich, die dafür sorgte, dass sich verwandte, aber leicht unterschiedliche Genome miteinander mischen konnten, so dass aus dieser Verbindung einzigartige Nachkommen mit einem jeweils individuellen Genom entstehen konnten. Diese Erfindung der Natur beschleunigte die Evolution ungemein und führte zu dieser überbordenden taxonomischen und genetischen Vielfalt, die wir heute kennen und die von der auf Alleinstellungsmerkmale bedachten Saatgutindustrie bei Nutzpflanzen bereits bekämpft wird.
Die Rolle der Sexualität zu diesen Anfangszeiten der Geschlechtlichkeit lag also, zumindest in der Tierwelt, darin, männliche und weibliche Vertreter einer Spezies dazu zu bewegen, Nachkommen zu zeugen und die Vielfalt zu fördern. Zu diesem Zweck, um also einen Anreiz für die sexuelle Betätigung zu bieten, entstand der Sexualtrieb, der bei geschlechtlicher Vermehrung für die Erhaltung der Art bei gleichzeitig fehlendem Bewusstsein, absolut unerlässlich ist, weshalb er auch tief in unserem tierischen Erbe verankert ist, und die Pheromone und Hormone, um die richtige Richtung vorzugeben und den Einsatz der sexuellen Betätigung zu steuern. In diesen Anfangszeiten und in der entsprechend primitiven Tierwelt fand Sexualität in einer periodischen, kompulsiven Kopulation ihren Ausdruck, während sie in der übrigen Zeit nicht existierte. Und das scheint wohl auch der Zustand und die Zeitzone zu sein, auf die sich zumindest die katholische Kirche mit ihrem nicht-christlichen Naturrecht beruft und in denen es Homosexualität nicht oder höchstens als biochemischen Unfall gab. Und da der ganze Daseinszweck dieser primitiven Ur-Fauna in der Fortpflanzung bestand, kam es bei den kurzlebigeren Arten durchaus dazu, dass das Weibchen nach der Begattung das Männchen, das seinen ganzen Daseinszweck nun fast erfüllt hatte, zum Wohle der gerade eben gezeugten Nachkommen gleich verspeiste. Diese Verhalten kann man heute noch bei der Gottesanbeterin beobachten.
Aber die Evolution blieb bei diesem Stadium nicht stehen. Zwar haben verschiedene Insekten wie Ameisen und Bienen bewundernswerte Gesellschaften geschaffen, die in sich sicherlich vollkommen sind, denen aber durch diese Vollkommenheit jeglicher Reiz für eine weitere Entwicklung fehlt. Solche Gebilde, die faktisch ausevolutioniert sind, weisen eine sozialmechanische Natur auf, das heißt, sie vermitteln den Eindruck eines gut funktionierenden Sozialwesens, doch wenn man genau hinsieht, sind alle Begegnungen der Vertreter solcher Völker extrem ritualisiert und beschränken sich auf starre Arbeitsabläufe, die starren und im Wesentlichen unveränderlichen Funktionen zugeordnet sind. Ihre Mitglieder sind, wie andere niedere Vertreter der Fauna, im Grunde genommen biologische Roboter, die ihren vorgegebenen Programmen folgen und zu sozialer Interaktion, die über diese Programme hinausreicht, genauso wenig fähig sind, wie zu Individualität.
Religionen, die sich auf das Naturrecht berufen und sexuelle Betätigung nur zum Zwecke der Zeugung von Nachkommen akzeptieren, bringen damit zum Ausdruck, dass der ideale Mensch wie solch ein Roboter sein soll, der fleißig Nachkommen zeugt und brav seinen – durch die Religion vorgegebenen – Regeln folgt und nicht nach links und rechts schaut.
Die Natur war mit diesem Konzept aber wohl nicht ganz so zufrieden, denn statt die Welt mit sozialmechanischen Völkern aller Art zu besiedeln, entwickelte sie neue Konzepte, die mit dem Aufkommen der Wirbeltiere in den Fischen, den Sauriern, in deren Nachkommen, den Reptilien und Vögeln, und schließlich in den Säugetieren, mit den Menschen als höchsten Vertretern, schrittweise entfaltet wurden. Zu diesen Konzepten gehörten soziale Interaktion und Beziehungsfähigkeit, die für ihre Entwicklung aber einer Art Abgrenzung in Form von Individualität und Bewusstsein bedurften, die parallel dazu eingeführt wurden.
Die erste Ausdrucksform davon ist der Egoismus, den es bis dahin vor allem in Form des Lebenswillens als grundlegender Komponente und nachfolgend des kollektiven Staatsegoismus gab. Dieser Staatsegoismus verhinderte sehr erfolgreich die Entwicklung der Individualität. Und auch heute noch, wo wir uns von der Stufe der Insektenstaaten evolutionär weit entfernt haben, ist dieser Staatsegoismus in der Politik, in der Wirtschaft und der Religion noch präsent und würde es lieber sehen, wenn wir ohne groß zu denken und ohne Abweichungen einfach die vorgegebenen Regeln befolgen und wie geölt funktionieren würden. Die Insektenstaaten sind im Grunde genommen totalitäre Regime, was durch die fehlende Individualität kein Problem darstellt, aber auch keinen gestalterischen und evolutionären Spielraum bietet. Auch unsere gegenwärtigen Machtsysteme haben offen oder versteckt einen Hang zum Totalitarismus und damit zu sozialer und mentaler Stagnation und Unterdrückung von Individualität.
Der Egoismus, also das Sich-Abgrenzen von Anderen, förderte in der sich höher entwickelnden Tierwelt die Auflockerung sozialer Verbände, eine Aufweichung des Gruppenegoismus, das Einzelgängertum, aber auch die Rivalität, sei es in Bezug auf Machtpositionen oder auf Paarungsmöglichkeiten. Die rituellen Aspekte der Sexualität gingen im Verlauf der weiteren Evolution etwas zurück, um mehr Individualität in den Beziehungen zu erlauben, wodurch allerdings auch mitunter blutige Beziehungskämpfe und später Balzrituale häufiger Teil der sozialen Dynamik wurden. Der Paarungstrieb war weiterhin vorhanden, aber er verlor in der evolutionären Entwicklung langsam ein wenig von seinem zwanghaften Charakter. Während es etwa in der Insektenwelt und anderen Bereichen Usus war, dass sich die Befruchtungspartner nur zum Zweck der Kopulation zusammenfanden und nach dieser wieder ihrer getrennten Wege gingen und bei Fischen und Amphibien die Befruchtung außerhalb des Körpers und ohne Sex stattfindet, was kaum zur Bildung von Paaren, Familien oder Verbänden führte, wurde die Paarung nun ein zunehmend persönlicher Akt mit Familien- und bisweilen Rudelbildung und gemeinsamer Brutpflege. Dabei wandelte sich auch die Rolle der Sexualität, beziehungsweise erweiterte sie sich. Bei Tieren, die in Verbänden leben, gibt es oft ein Alphatier, das alleinige oder überwiegende Kopulationsrechte besitzt und diese nicht nur durch Rangkämpfe verteidigt, sondern auch durch häufigen Sex mit seinem Harem. Hier dient die Sexualität nicht mehr nur der Fortpflanzung, sondern wird bereits durch eine deutliche soziale Komponente ergänzt.
Diese gewinnt bei individuelleren und sozialeren Gemeinschaften zunehmend an Bedeutung. Paradebeispiele dafür sind die Bonobos. Bei dieser Schimpansenart, die auch Oralverkehr und Masturbation kennt, dient sexuelle Interaktion, die dann alters-, geschlechts- und rangunabhängig stattfindet, auch dem Aggressionsabbau, der Festigung sozialer Beziehungen und auch schon mal dem Erbetteln von Nahrung und scheint eine ganz normale, fast beiläufige Tätigkeit zu sein, wenn sie nicht gerade der Zeugung dient.
Unterstützt wird diese Entwicklung auch durch entsprechende biologische Veränderungen im Verlauf der Evolution. So ist da, wo die sexuelle Betätigung einzig dem Zwecke der Zeugung von Nachkommenschaft dient, der Drang zur Kopulation eher von zwanghaftem Charakter und auch nur kurzzeitig oder saisonal wirksam. In diesen Fällen bedeutet Kopulation auch fast immer eine Befruchtung. Evolutionsbiologisch ist so ein Verfahren natürlich sinnvoll, weil man sich in der übrigen Zeit um das eigene Überleben kümmern und neue Energien tanken kann. Trotzdem hat die Evolution auch Verfahren entwickelt, bei denen die Empfängnisbereitschaft länger anhält und mehrere Befruchtungsversuche nötig sind, um Nachwuchs zu zeugen. Da dabei auch oft mehrere Männchen beteiligt sind, liegt der Grund dafür wahrscheinlich darin, eine Spermienkonkurrenz zu erzeugen, bei der sich die kompatibelsten oder stärksten durchsetzen.
Wenn sich die möglichen Kopulationsperioden aber ausdehnen, verliert dieser Punkt ein wenig an Gewicht und es kommt ein weiteres Element hinzu. Zumindest in der höher entwickelten Tierwelt bildet sich durch den Sex das auch beim Menschen gut bekannte Oxytocin. Dieses Hormon fördert – nicht nur bei Paaren – die Bindungsfähigkeit und auch die sexuelle Lust und ist damit auch am Zusammenhalt der Gruppe maßgeblich mitbeteiligt. Da die Oxytocin-Ausschüttung als angenehm empfunden wird, strebt man danach, die Produktion in Gang zu halten oder sie immer wieder anzustoßen, was auch durch Berührung möglich ist, also etwa durch Fellpflege und Kuscheln. Am stärksten scheint aber die sexuelle Betätigung zu wirken. Da aber dauernder Sex bei Tieren, die immer empfängnisbereit sind, schnell zu Überpopulationen führen würde, hat sich im Laufe der Evolution die Befruchtungswahrscheinlichkeit verringert, so dass für die Zeugung von Nachkommenschaft mehr Sex notwendig ist.
Natürlich folgt die Evolution im Einzelnen nicht einer durchgängigen, klaren Linie, sondern vielen Wegen, die einander vielleicht auch widersprechen, aber eine gewisse Tendenz, die im Entstehen des Menschen kulminiert, ist durchaus erkennbar. Die Natur hat sich von den sozialmechanischen Gesellschaften und biologischen Robotern im Verlauf der Evolution hin zu mehr Bewusstsein, mehr Individualität und mehr Freiheit entwickelt. Dabei wurde die Fähigkeit zu sozialer Interaktion gefördert und die Sexualität von ihrer zwanghaften Natur befreit, von ihrer Funktion für den Erhalt der Art entkoppelt und für neue Funktionen sozialer und emotionaler Art geöffnet.
Und am vorläufigen Ende dieser Entwicklung steht der Mensch, bei dem die Sexualität sehr vielfältige Funktionen erfüllt. Die Fortpflanzung, der Ausgangspunkt der Sexualität, erfolgt nicht mehr zwanghaft, sondern kann bewusst durchgeführt werden, wodurch der Mensch, zumindest theoretisch, über das Mittel verfügt, eine drohende Überbevölkerung zu regulieren, wenn er lernt, global zu denken und bewusst zu handeln. Und das Bewusstsein ist auch der Knackpunkt bei den ganzen Problemen, die uns die Sexualität zu bescheren scheint, denn für sich allein genommen, ist die Sexualität problem- und wertfrei.
Wenn man noch einmal kurz auf die „natürlichen“ Verhältnisse zurückblickt, dann drücken diese sich in den Tieren ganz „normal“ und ungezwungen aus. Tiere mögen, vor allem wenn sie höher entwickelt sind, Lust und Freude an der Sexualität empfinden, aber sie empfinden keine Scham, kein Bedauern, keine Schuld, keine Unsicherheit. Wenn sie der Drang oder die Lust überfällt und sich ein williger Partner findet, dann geben sie sich dem hin, ohne sich weitere Gedanken oder Sorgen zu machen.
Diese gehören zur Domäne des Menschen, und erst beim Menschen ist die Sexualität Ausgangspunkt mannigfacher Probleme. Nun – wir sind keine Tiere und stellen den derzeitigen, jedoch nicht den finalen Endpunkt der Evolution dar. Unsere Sexualität kann und sollte sich von der tierischen in dem einen oder anderen Punkt unterscheiden und über diese hinausführen. Wenn die Sexualität also Probleme verursacht, dann liegt das sicherlich nicht in ihrer Natur, und wir müssen uns fragen, was die Ursachen sind und was man für eine Harmonisierung unternehmen muss. Einfach nur willkürlich irgendwelche Regeln und Ge- und Verbote aufzustellen, trifft sicherlich nicht den Kern der Sache, sondern ist nur eine kosmetische Verdrängung, und die menschliche Sexualität auf die Fortpflanzungsfunktion zu reduzieren, ist Ausdruck eines extremen, anti-evolutionären Konservativismus und sogar Ausdruck der Bemühung um Stagnation und Regression.
In der Tierwelt ist das einzige Problem mit der Sexualität mit eben dieser Fortpflanzungsfunktion verknüpft: die Rivalität. Bei den Tieren mit kurzer Fruchtbarkeitsperiode werden die Männchen, die sich bis dahin vielleicht gut verstanden oder einander einfach nur ignoriert haben, für diesen Zeitraum zu Rivalen und tragen dann mitunter sehr heftige Kämpfe um die Gunst des Weibchens aus, um danach zu ihrer anderen Normalität zurückzufinden. Beim Menschen gibt es diese Tendenz auch, aber aufgrund der permanenten weiblichen Fruchtbarkeit nur unterschwellig. Andernfalls müssten die Männer ihre ganze Energie in den Ausdruck ihrer Rivalität stecken und kämen nicht zu der kreativen Betätigung, die für die Ausgestaltung unserer Gesellschaft notwendig ist, sondern würden in unmittelbarer Nähe des Tierstadiums verbleiben und würden die Intelligenz, mit der sie ausgestattet wurden, dazu nutzen, einander mit allen Mitteln zu bekämpfen, was zu Hass, Zerstörungswut und Grausamkeit führen würde.
Welches sind nun die Probleme, die beim Menschen mit der Sexualität einhergehen? Wenn man sie auf ihre Basis reduziert, dann gibt es neben der Rivalität noch die Homophobie, die Scham, die Exzessivität und die Unsicherheit.
Die Rivalität ist, wie erwähnt, ein Erbe aus der Tierwelt und ein Mittel der Evolution, um die Arten durch natürliche Auslese gesund zu erhalten und zu perfektionieren. Aber das trifft nur auf die biologische Evolution zu. Wollte man dieses Prinzip auch für die mentale Evolution anwenden, die im Wesentlichen im Menschen ihren Ausgangspunkt hat, dann würde es zu einer sehr kriegerischen Menschheit führen, die immer neue Vernichtungswaffen und -strategien ersinnt und so letztlich auf einen Untergang zusteuert, der bedeuten würde, dass der Mensch ein fehlgeschlagenes Produkt der Evolution war. Und die Geschichte zeigt, dass genau diese Entwicklung eingetreten ist und wir uns in den letzten hundert Jahren rasant auf diesen Punkt ohne Wiederkehr zubewegt haben.
Allerdings fand diese Bewegung nicht einhellig statt. Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte gab es eine anfangs sehr schwache, aber langsam an Einfluss gewinnende Opposition, die sich darum bemüht hat, die mentale Evolution von den tierischen Wurzeln zu lösen und auf eigene Beine zu stellen. Diese Opposition manifestierte sich in der Fähigkeit, Gefühle der liebevollen und intimen Verbundenheit zumindest ansatzweise zu entwickeln und damit ein Bindeglied für ein sich herausbildendes Sozialwesen darzustellen; sie manifestierte sich in den Regeln des Zusammenlebens die sich daraufhin bildeten, in der Einsetzung einer Rechtsprechung, die begann, der Rivalität Zügel anzulegen, im Aufkommen der Religion, die durch das Einbringen der Willensbekundungen höherer Wesen zusätzlich auch das Unterbewusste ansprach und einen moralischen Druck aufbaute und in der Gesellschaft etablierte; und sie manifestierte sich in einem der Eltern der Religion, der Philosophie, die stets auf der Suche nach der wahren Natur des Menschen und nach seiner Bestimmung war und den Geist und die menschliche Natur über die tierische Natur stellte, und führte schließlich zu einem Humanismus, der den Menschen in seinem Menschsein und seinen edleren Qualitäten fördert und bestärkt. Diese Einflüsse haben die zweifellos ursprünglich starke Rivalität erst domestiziert und dann langsam abgebaut, konnten sie aber nicht gänzlich zum Verschwinden bringen. Wo sie ein wenig transformiert werden konnte, äußert sie sich in der Bemühung, in irgendeinem Gebiet der Beste zu sein und ist so gesehen eine Antriebskraft für den wissenschaftlichen Fortschritt, in ihrer kurzsichtigen Form aber auch die Ursache der Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität und der daraus folgenden Umweltzerstörung.
Für eine harmonischere Sexualität muss unter anderem die Rivalität weiter abgebaut werden; ein vollständiger Abbau dürfte aufgrund ihrer biologischen Verankerung vorerst kaum möglich sein, würde aber zur Transzendierung unserer tierischen Grundlagen und damit zu einem Aufstieg auf der Evolutionsleiter führen. Dass die Evolution nicht abgeschlossen ist, scheint kaum jemandem bewusst zu sein, weil sie eher als geschichtlicher Ablauf wahrgenommen wird und in der Regel in Zeiträumen stattfindet, die etwa die bekannte menschliche Geschichte übersteigen. Die langen Zeiträume hängen aber auch damit zusammen, dass die Vielfalt an Veränderungen, welche für ihren Vorgang notwendig sind, vor allem auf genetischen Mutationen beruht, die für unser Zeitempfinden nicht sehr häufig vorkommen. Allerdings wurde dieses Evolutionsverständnis vor Kurzem durch die Entdeckung der epigenetischen Marker erweitert, die Veränderungen in der Aktivität von Teilen des Genoms durch Umwelteinflüsse ermöglichen. Welche Einflussmöglichkeiten hier existieren, ist noch Gegenstand der Forschung. Aber dies zeigt, dass Evolution immer noch stattfindet und auch wahrnehmbar ist und beeinflusst werden kann. Das bedeutet auch, dass wir an der menschlichen Evolution mitwirken und den Zufall durch Bewusstsein ersetzen können, und Bewusstsein bedeutet hier nicht blindwütiges Experimentieren, sondern das Erforschen und Verstehen von Zusammenhängen und dem großen Bild. Und während biologische Erkenntnisse wichtig sind, liegt der Schwerpunkt unserer Evolution aber an anderer Stelle. Die Biologie mag zwar unsere Basis ausmachen, aber in dieser Basis wurzelt unser gesamtes Sein, und so, wie wir für unser Wohlbefinden von einem gesunden Körper abhängen, ist unser Körper für seine Gesundheit auch von unserem geistig-emotionalen und seelischen Wohlbefinden abhängig, was sich dann eben auch in epigenetischen Wirkungen ausdrücken kann.
Unsere Geisteshaltung und seelische Bewusstheit kann also, auch wenn sie nur andeutungsweise biologische Ursachen hat, sich biologisch ein wenig niederschlagen und so die weitere Entwicklung etwas erleichtern. Diese findet für uns Menschen aber hauptsächlich in unserer individuellen Entwicklung statt (wenn man an Reinkarnation glaubt vor allem durch die Evolution der Seele), die sich dann in unserer Gesellschaft niederschlägt, die als Ganzes ebenfalls eine Evolution durchläuft. Und hier ist der evolutionäre Vorgang deutlich sichtbar und von uns, wenn wir aufhören unbewusste und triebgesteuerte Wesen zu sein, auch beeinflussbar. Wir sind der Evolution also nicht blind ausgeliefert, sondern können an ihrem Ablauf mitwirken und vielleicht sogar irgendwann das Steuerrad in die Hand nehmen.
Und wie bereits ausgeführt, ist die Sexualität von dieser Evolution nicht ausgenommen, sondern ein Teilaspekt von ihr. Diese Evolution hat uns eine eben typisch menschliche Sexualität beschert, und unsere mentale, vitale, soziale und religiöse Entwicklung hat aus dieser ursprünglichen und halbwegs unbeschwerten Form einen Quell stetiger Konflikte gemacht, aber auch eine überbordende und zu tierische Sexualität etwas gezähmt und bewusster gemacht, doch nur im Rahmen eines sozialverträglichen Mindestmaßes und hat dabei die angeführten künstlichen Probleme geschaffen, die durch die Instrumentalisierung der Sexualität nach der Devise „Teile und herrsche“ das unbedarfte Volk, wenn auch nicht ohne Rückwirkungen auf die weltlichen und religiösen Herrscher, leichter beherrschbar machten. Für unsere weitere sexuelle Evolution müssen wir uns nun nicht nur von diesen Klammern befreien, sondern auch nach einem Weg in die Zukunft suchen.
Die Sexualität unterliegt wie alle Bereiche des menschlichen Lebens der Evolution, und wie bei allen anderen Bereichen auch sind auftretende Probleme eine Folge und ein Ausdruck mangelnder Bewusstheit. Wenn wir diese Probleme und die schwerwiegenden Folgeprobleme wirklich lösen und in den Griff bekommen wollen, dann müssen wir einen Prozess der Bewusstwerdung anstoßen und dauerhaft beibehalten. Dieser Prozess muss alle wichtigen Aspekte der Sexualität aufgreifen und in ihrer Beziehung zu allen wichtigen Bereichen des menschlichen Lebens studieren. Und in diesem Bewusstwerdungsprozess werden sich auch wie selbstverständlich Lösungsmöglichkeiten für alle echten und vorgeblichen Probleme einstellen.
Als Fahrplan für diese Erforschung der Sexualität und für die progressive sexuelle Bewusstwerdung dient Michel Montecrossas Bewusstseinsrad, das schematisch die Entwicklung des Bewusstseins beschreibt und mit dessen Hilfe man die wesentlichen Bewusstseinsbereiche aufgreifen und dann zu einem großen und integralen Bewusstseinsbild zusammensetzen kann. Diese Bereiche folgen in der individuellen Bewusstseinsentwicklung wie auch in der Evolution der Gesellschaft aufeinander und ermöglichen so eine umfassendes Bild, das zum Beispiel in diesem Fall die menschliche Sexualität und ihre verschiedenen Aspekte und Entwicklungsstufen darstellt.
Näheres hierzu:
Michel Montecrossa, Zeichen der Zeit, Mirapuri-Verlag