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Sexualität

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Aber letztlich ist Pornografie nur eine Darstellung, ein Hilfsmittel bei der Ausübung der Sexualität. Die Praxis, die Sexualität selbst, ist eine eigene Kunstform. Dass dies oft nicht bemerkt wird, liegt vielleicht an dieser seltsamen religiösen Einstellung zur Sexualität und der in diesem Zusammenhang oft strapazierten und völlig fehlinterpretierten Naturrechtslehre, die auf dem Bild einer statischen und den Menschen determinierenden Natur beruht. Hier ist die Sexualität ein Mittel zur gottgewollten Fortpflanzung und ausschließlich als Solches zu gebrauchen und aus Gründen, die wohl nicht im Naturrecht liegen, gleichzeitig eine schmutzige Angelegenheit, an der man, bei ganz puritanischen Ansichten keine Freude haben sollte. Ein solches Bild führt im Extremfall zu einer lieblosen und neurotischen Rein-Raus-Sexualität, bei der die Frau ihre Vagina für den Orgasmus des Mannes zur Verfügung stellt, was äußerlich durchaus dem Verhalten mancher Tierarten entspricht, bei denen Männchen und Weibchen kurz zusammenfinden, ohne großes Vorspiel die Kopulation vollziehen und dann so tun, als sei nichts gewesen.

Aber diese Art der Sexualität reduziert den Mann zu einem Lustmolch und die Frau zur Sexsklavin, denn eigentlich kommt nur der Mann dabei zu einem kurzen orgastischen Höhepunkt. Das liegt daran, dass die Natur beim Menschen, anders als – vermutlich – bei den meisten Tieren die sexuelle Erregbarkeit bei Mann und Frau unterschiedlich eingerichtet hat. Der Mann ist leicht und schnell erregbar, während die Frau nur langsam in Schwung kommt und mehr Stimulation benötigt, um zu einem Orgasmus zu gelangen. So gesehen könnte man sagen, dass Mann und Frau nicht zueinander passen, wenn man nicht aus dem Naturrecht schließen möchte, dass der Orgasmus der Frau nicht von Bedeutung ist, was dann im Extremfall zu Auswüchsen wie der Vaginalbeschneidung bei vielen afrikanischen Stämmen führen kann.

Wenn man das Thema aber evolutionär angeht und sich fragt, warum die Natur (oder Gott) so scheinbar unlogisch handelt, dann führt uns das zurück zum Prinzip der sozialen Evolution. Wenn man davon ausgeht, dass die Frau nicht dem Manne untertan ist und auch das gleiche Recht auf Freude und sexuelle Erfüllung hat, dann führt das notwendigerweise dazu, dass der Mann sich anstrengen und auf die Bedürfnisse der Frau eingehen muss, um ihr einen Orgasmus zu ermöglichen, der gleichzeitig mit seinem oder auch früher stattfindet. Dazu ist ein ausgedehntes Vorspiel nötig, eine umfassende Wahrnehmung der Partnerin, ein Einklang, ein inneres Näherkommen. Im Gegensatz zum reinen Fortpflanzungs- oder Rein-Raus-Sex ist diese Auffassung der Sexualität Ausdruck von Beziehungsfähigkeit und dient zum Aufbau einer zumindest grundlegenden sozialen Beziehung, sei es in Form eines lockeren Netzwerkes und/oder einer Vertiefung der Paarbeziehung.

Während nun der Fortpflanzungssex eher rituellen Charakter hat, ist diese der menschlichen Natur eher entsprechende Art von Sozial- oder Beziehungssex wesentlich individueller und auch nicht mehr auf gegengeschlechtliche Paare beschränkt; durch die Möglichkeit der Ausübung einer gleichgeschlechtlichen Sexualität kann die gesellschaftliche Vernetzung nun auch innerhalb der Geschlechtergrenzen stattfinden und aus der gesellschaftlichen Zweiheit oder Halb-Apartheid des Geschlechterdualismus zunehmend eine Einheit formen, wenn denn die Religion und die von ihr gelenkte Gesellschaft die Stigmatisierung von Bi- und Homosexualität und die ausschließliche Sanktionierung der Zweierbeziehung abbaut und einen Freiraum schafft für den Abbau von künstlichen Geschlechtsatavismen und die Entwicklung einer offeneren, beziehungsfähigeren Gesellschaft.

Dabei sollte vor allem klar sein, dass Beziehungsfähigkeit nicht mit Sexualität gleichzusetzen ist. Sexualität ist ein Ausdruck von Beziehungsfähigkeit, also ein Werkzeug; sie ist ein Mittel, aber kein Allheilmittel. Wenn man aber die bisweilen sehr heftige und restriktive Sexualpolitik der meisten etablierten Religionen betrachtet, so könnte man meinen, dass sie wichtiger ist als Mitgefühl, Nächstenliebe und Liebe an sich und als die Suche nach Gott. Man könnte meinen, dass die Einhaltung ihrer sexuellen Vorstellungen automatisch näher zu Gott führt oder dass Gott ein sehr persönliches Interesse daran hat, dass unsere Sexualität in bestimmten, von ihm vorgegebenen Bahnen abläuft, die er für jede Religion unterschiedlich ausgestaltet hat, und dass die Vertreter dieser Religionen eine Carte blanche für die Interpretation seines göttlichen Willens haben und er seinen Willen somit den religiösen Institutionen unterwirft.

Sexualität ist die erste Form der Beziehungsfähigkeit, und die Einschränkungen, welche die Religion für diese bereitstellt führen sicherlich nicht zu einer besseren Beziehungsfähigkeit auf den höheren Ebenen. Die höchste Ebene ist die direkte und unmittelbare Beziehung zu Gott, und wenn man die Beziehungsfähigkeit, also die Fähigkeit, sich zu öffnen, zu vertrauen, sich zu interessieren, sich auszutauschen und zu kommunizieren nicht von Grund auf lernt und übt, dann stehen die Chancen, eine aktive Beziehung zum Göttlichen aufzubauen, eher schlecht.

Die Sexualität ist dafür nun das erste Übungsfeld. Als Ausdruck einer wie auch immer gearteten Beziehung verlangt sie Kreativität, Hingabe, Offenheit, Ausdruckskraft, Kommunikation, Austausch, Kunstfertigkeit und den Ausdruck von Schönheit, Harmonie und Gefühlen – sie ist also eine Kunstform, die mit einer Kontaktaufnahme anfängt, sich in Berührungen ausdrückt und in einen sexuellen Höhepunkt und vielleicht sogar in einer kurzzeitigen inneren Vereinigung mündet.

Berührung ist die erste Form der äußeren Kontaktaufnahme (wobei die allererste Form die seelische Kontaktaufnahme ist, die meist außerhalb unserer Bewusstseins- oder Wahrnehmungsschwelle stattfindet) und hat für sich genommen noch keinen sexuellen Charakter, sondern ist die einzige Möglichkeit eines materiellen Kontaktes. Für die Entwicklung und das Wachstum von Neugeborenen ist ein intensiver Hautkontakt absolut unverzichtbar. Er vermittelt den Kindern Akzeptanz, Geborgenheit, Liebe und eine Einbettung in das soziale Gefüge. Wenn das Ausmaß dieses körperlichen Kontaktes zu gering ausfällt, wird der sich entwickelnde Mensch verhaltensgestört und neurotisch und ist im Extremfall nicht lebensfähig. Viel Berührung ist also in den ersten Lebensjahren essenziell, auch wenn das Bedürfnis danach mit zunehmender Individualisierung und Abnabelung nachlässt und in der Pubertät bisweilen als Ausdruck eines Unabhängigkeitsstrebens – sowohl gegenüber Eltern als auch gegenüber Gleichaltrigen – scheinbar abgelehnt wird.

Ein Grund für das in der Pubertät scheinbar nachlassende Verlangen nach Körperkontakt liegt aber auch in gesellschaftlichen Verkorkstheiten, die manchmal auf Traditionen und Rituale (Mannbarkeitsriten, englisches Abhärtungsideal, Konkurrenzmentalität...), überwiegend aber auf religiöse Einflüsse zurückzuführen sind. Die Religion ist eine eigenartige Sache. Auf der einen Seite propagiert sie im Hinblick auf die Naturrechtslehre eine sehr urtümliche Form der Nützlichkeits-Sexualität, auf der anderen Seite lehnt sie jegliche außereheliche und „nicht-traditionelle“ Sexualität sowie in Teilen in Hinblick auf eine postulierte Immaterialität des Göttlichen alle Körperlichkeit ab. Gemeinsam aber haben beide Seiten eine gewisse Ausdrucksarmut und Berührungsfeindlichkeit. All das hat dazu geführt, dass vor allem bei den jungen Männern im westlichen Kulturkreis und zunehmend überall sonst auf der Welt seit einigen Jahrhunderten Berührungen, körperliche Nähe und Gesten der nicht-ritualisierten Vertrautheit (wie etwa bei Männerbünden oder beim Fussball) misstrauisch beäugt werden. Man kann dieses Phänomen gut beobachten, wenn Paare oder Gruppen zusammentreffen und sich begrüßen: Die Frauen umarmen sich meist, die Männer, vor allem ältere, schütteln einander die Hände und klopfen sich eventuell auf die Schultern, einige jüngere Männer haben mittlerweile auch die Umarmung gelernt, und die Jungmänner pflegen manchmal Begrüßungsrituale mit Faustspielen, bei denen die Berührungen minimalisiert werden. Ursache ist dabei sicherlich auch eine Medienpräsenz, die dieses Bild beziehungsunfähiger oder zumindest -minimalistischer Männer festschreibt und natürlich eine überwiegend anerzogene Angst, als schwul wahrgenommen zu werden, die es in dieser Virulenz in früheren Gesellschaften nicht gegeben hat. Welche Verhaltensvariante aber jetzt als schwul gilt, ist von Kultur zu Kultur, von Gesellschaftsschicht zu Gesellschaftsschicht und sogar von Individuum zu Individuum sehr verschieden und zum Teil auch widersprüchlich. So hatte etwa ein asiatischer Minister T-Shirts mit V-Ausschnitt bei Männern als schwules Kennzeichen ausgemacht. Und in arabischen Kulturen ist zwischen Männern eine körperliche Nähe Standard, die in westlichen Kulturkreisen als eindeutig schwules Verhalten gilt. Diese Angst, als homosexuell zu gelten, ist natürlich umso stärker, je mehr die Homosexualität stigmatisiert wird. Da diese Angst sich selbst am Leben erhält, können die Männer erst dann zu einer neuen Beziehungskunst erwachen, wenn zumindest diese Negativität in Zusammenhang mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen abgebaut ist.

Doch Berührungen sind, wie bereits erwähnt, in erster Linie eine körperliche Kommunikationsform und nicht per se sexueller Natur. Die Sexualität ist eine Ausdrucksform der Lebenskräfte und entsteht nur zum Teil aus Pheromonen und Hormonen, zum vermutlich größeren Teil aber aus den Gefühlen, die aus der Vitalebene stammen, und vor allem im Kopf. Damit eine Berührung als sexuell empfunden wird, ist nicht nur und nicht unbedingt eine sexuelle Absicht der Berührenden nötig, sondern vor allem eine subjektive Wahrnehmung oder eine Resonanz, die einer Berührung eine sexuelle Natur verleiht. Bei pubertierenden Jugendlichen, bei denen sich die Lebenskräfte in voller Blüte befinden, hat eigentlich schon fast jede Berührung zumindest eine sexuelle Konotation, was für eine berührungsfreundliche Entwicklung in einer berührungsfeindlichen Umwelt kaum Möglichkeiten bietet und die Haltung des inneren Mauerns unterstützt.

Die Kunst der Sexualität beruht auf der Kunst der Berührung. Wer hier Defizite ausweist, hat einen schlechten Start bei der Erforschung und beim Erleben der Sexualität und hat nachfolgend, wenn der Sex nicht so harmonisch läuft, in Folge der Probleme bei der körperlichen, non-verbalen Kommunikation auch Probleme, über die Sexualität und die individuellen Knackpunkte zu sprechen. Zwar lässt sich das natürlich trainieren, aber die Ausgangslage ist einfacher und breiter, wenn man ohne Berührungsfeindbild durch das Leben gehen kann.

Die Kunst in all ihren Formen ist eine Grundlage für unsere charakterliche und seelische Entwicklung, sei es nun die aktive Kunst oder der passive Kunstgenuss, die klassische darstellende Kunst in all ihren Ausdrucksformen oder die Kunst, sein Leben zu gestalten. Wichtig dabei ist weniger die äußere Form und Perfektion, als vielmehr der innere Gehalt, die Offenheit, der Blick auf das Wesentliche und die Authentizität.

Sexualität – Eine Zukunft für die Zukunft

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