Читать книгу Voll relativ! Der Tag, an dem die Zeit verschwand - Anastasia Braun - Страница 10

Alles dreht am Rad

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Nach der Schulhofparty beschlossen meine Freunde und ich, in den Stadtpark zu gehen. Dort wollten wir in Ruhe den Rest unseres freien Tages planen. Endlich durften wir all die Sachen machen, für die unter der Woche nie Zeit war. Wir konnten bis zum Umfallen spielen, die Grube für unser Versteck im Wald ausbuddeln, die Bürgermeisterwahlplakate mit Schnurrbärten dekorieren, bis tief in die Nacht am Computer zocken. Wir hatten ja nicht einmal Hausaufgaben auf! Was auch immer in der Schule los war, von mir aus hätte es die ganze Woche so bleiben können. Oder den ganzen Monat. Besser noch bis zum Ende des Schuljahres. Oder einfach für immer. Falls die verschwundenen Uhren etwas damit zu tun hatten, durfte der Dieb niemals geschnappt werden!

»Ich muss euch etwas erzählen«, setzte ich an. Meine Freunde saßen auf der Holzbank im Schatten einer großen Buche, während ich nachdenklich vor ihnen auf und ab marschierte. »Ich glaube, dass derselbe Dieb, der in der Schule die Uhren geklaut hat, heute Nacht auch bei uns zu Hause eingebrochen ist.«


Elli sah mich mit großen Augen an. »Bei uns haben heute Morgen auch alle Uhren gefehlt«, erzählte sie. »Ich hab aber nicht weiter darüber nachgedacht, weil ich viel zu sehr mit meinen Eltern beschäftigt war. Ihr hättet sie mal sehen sollen! So habe ich sie wirklich noch nie erlebt.« Elli klang besorgt und ein wenig traurig.

»Die kriegen sich bestimmt bald wieder ein«, beruhigte ich sie. Dass ich meine Eltern zur Abwechslung mal echt cool fand, erwähnte ich lieber nicht. Und sooo besonders war das ja nun auch nicht, schließlich waren meine Eltern nicht immer nervig. Nur unter der Woche und an Sonntagen. Aber ganz besonders an Montagen. Und manchmal, so vier- oder fünfmal im Monat, erwischte es auch mal einen Samstag. Aber sonst, an all den anderen Tagen, waren sie eigentlich echt in Ordnung.

Ich beobachtete, wie Basti seinen Unterarm anstarrte. Er blinzelte. »Verdammt! Meine Armbanduhr ist auch weg! Die lass ich sogar beim Baden an. Meine Eltern rasten aus.«

Nun musste ich mich setzen. Irgendwie wurde mir plötzlich etwas mulmig im Bauch. Eine Uhr von der Wand zu mopsen, war ja eine Sache, aber eine Armbanduhr zu klauen, war da doch eine andere Hausnummer. Das ging wortwörtlich an die Haut.


Waren die ritterlichen Absichten des Diebes doch nicht so ritterlich? Meinen besten Freund so schamlos zu bestehlen, ging nämlich zu weit.

Wir saßen noch eine ganze Weile schweigend auf der Bank und wurden einfach nicht schlau aus der Sache.

Es musste inzwischen bereits nach Mittag gewesen sein, denn die Sonne stand ziemlich hoch am wolkenlosen Himmel. Ha! Da war wohl der Pfadfinder-Schnupperkurs, zu dem mich meine Eltern gezwungen hatten, doch nicht völlig umsonst gewesen.

Ich wollte gerade fragen, ob jemand etwas anderes zum Trinken dabeihatte als Kaffee, da fiel mir plötzlich etwas auf. Ich machte einen langen Hals und sah durch die Äste. Es verschlug mir den Atem.

»Ähm … Ich glaube, deine Armbanduhr ist im Moment das kleinste Problem«, presste ich hervor. Ich wies zum Kirchturm, der zwischen den Bäumen herausragte.

»Das gibt’s doch nicht«, hauchte Elli. »Wie … wie ist so etwas möglich?«, stotterte sie.

Mit offenen Mündern starrten wir die Stelle am Turm an, wo normalerweise eine gigantische Uhr hätte hängen müssen.

Ich fand als Erster meine Stimme wieder. »Meint ihr, der Dieb hat es auf alle Uhren der Stadt abgesehen?«

Bastis Trübsal wegen seiner Armbanduhr war mit einem Mal wie weggeblasen. Seine Augen glänzten vor Begeisterung. »Wie krass ist das denn bitte? Unbemerkt eine Kirchturmuhr zu klauen. Der Dieb hatte ganz sicher eine Schrumpfkanone. So ein Ding wollte ich schon immer mal haben!« Er sprang von der Bank und feuerte mit einer imaginären Kanone um sich, während er zischende Schießgeräusche nachahmte.

Da musste ich lachen. »Basti, du liest eindeutig zu viele Comics. Wer sagt denn, dass es nur ein Dieb war? Könnte ja auch eine ganze Bande gewesen sein.«

Elli starrte immer noch den Kirchturm an. Ihre Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen, so wie sie es immer taten, wenn wir eine Mathearbeit schrieben. »Wozu klaut denn jemand eine Kirchturmuhr?«, fragte sie.

Ich kratzte mich grübelnd am Kopf. Je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir die Situation. Wenn alle Uhren aus Schnellbach verschwunden waren, dann war das mit Bastis Armbanduhr sicher nichts Persönliches. Es diente einem höheren Zweck. Da mussten nun mal auch Opfer gebracht werden.

»Ganz egal, was der Dieb mit den Uhren anstellen will«, gab ich zurück, »von mir aus kann er sie gerne für immer behalten. Ich mein wenn Zeit gar nicht mehr da ist, dann kann man auch nie wieder keine Zeit mehr haben.«

Elli blinzelte irritiert. »Was meinst’n damit?«

Ich machte eine bedeutungsvolle Pause und sah meine Freunde nacheinander an. »Damit meine ich, es gibt nie wieder ein ›Jetzt beeil dich mal!‹ Oder: ›Trödel nicht‹ und ›Du bist zu spät!‹. Versteht ihr? Unsere Eltern können uns nie wieder auf den Wecker gehen. Und die Lehrer auch nicht. Ha! Denn es gibt gar keine Wecker mehr!« Über diese lustige Redensart musste ich selbst laut lachen. »Keine Schlafenszeit, nie wieder Striche in der Schule fürs Zuspätkommen. Wir können tun und lassen, was wir wollen. Und wann wir es wollen. Nicht nur heute. Sondern für immer.«

Ich lehnte mich zufrieden in der Bank zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Erst gestern noch hatte ich alle Uhren der Welt auf den Mond gewünscht. Na ja, zumindest Mamas. Als ich ihr nämlich mein gemaltes supercooles Überschall-Raketenauto mit Methangas-Antrieb zeigen wollte, schob sie es zur Seite und schlug stattdessen ihren doofen Terminkalender auf. Der war schon an Neujahr dick gewesen, inzwischen platzte er fast. So viele Tage hatte ein Jahr doch gar nicht!


Aber: keine Uhren, keine Termine! Jetzt hatte Mama keine Ausreden mehr! Nun musste ich meine Eltern mit nichts und niemandem mehr teilen.

Ein lautes Knurren lenkte meine Aufmerksamkeit auf Bastis Bauch. Er kramte gerade die Seife aus seinem Ranzen hervor und roch daran.

»Also ich brauche keine Uhr, um zu wissen, dass die Mittagessenszeit schon längst überfällig ist«, stöhnte er.

»Du willst das doch nicht etwa essen?« Elli riss ihm das Seifenstück aus der Hand, nachdem er einmal drübergeschleckt hatte.

Schmollend verzog Basti das Gesicht. »Immer noch besser als der Stinkepantoffel von deinem Opa.«

Damit hatte er allerdings recht.

Aber da wir inzwischen alle ziemlichen Kohldampf hatten, beschlossen wir, bei Paolo vorbeizuschauen. Für das Geld, das wir zusammengekratzt hatten, würden wir zwar nur ein Pizzabrot bekommen, doch das musste vorerst genügen.

Zum Glück lag die Pizzabude nicht weit entfernt. Genau genommen direkt hinter der Parkanlage. Deshalb machten wir uns nicht die Mühe, außen herum zu laufen, und kletterten über die Steinmauer.

Dort oben, von wo aus man die beste Aussicht auf den Marktplatz hatte, verharrten wir einen Augenblick lang. Die Straßen schienen wie leer gefegt. Keine Autos, keine Radfahrer. Niemand, der sich im hektischen Gewusel anrempelte. Die Ampel schaltete völlig sinnfrei von Rot auf Grün und wieder von Grün auf Rot.

»Leute! Ich glaube, es sind nicht nur unsere Eltern und die Lehrer, die eine Schraube locker haben«, stellte ich fest.


Ich zeigte auf den Mann am Kiosk, der statt einem Hund ein schmutziges Kopfkissen an der Leine hinter sich herschleifte. Dann sah ich zum Stadtbrunnen, in dem eine Frau mit einer Vase über dem Kopf ihre Runden schwamm. Dahinter entdeckte ich einen Typen im Skianzug, der versuchte, statt Glühbirnen echte Birnen in die Straßenlaternen zu drehen.

»Sieht wohl so aus, als wären alle Erwachsenen über Nacht irre geworden.«

Voll relativ! Der Tag, an dem die Zeit verschwand

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