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Freiheit für alle!

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Die Schulklingel schien mal wieder zu spinnen. Kein Wunder, unsere Schule war sogar noch älter als die Stinkefüße von Ellis Opa.

Als Elli, Basti und ich das Klassenzimmer der 4a betraten, herrschte dort gespenstische Stille. Selbst Konstantin saß friedlich an seinem Tisch und starrte nach vorne zum Lehrerpult.

Wir schlichen an den Tischen vorbei und ließen uns geräuschlos auf unsere Stühle gleiten. Der Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich traute mich nicht, zu atmen. Erst als ich mir sicher war, dass wir es geschafft hatten, holte ich tief Luft. Unsere Verspätung war niemandem aufgefallen.

Puh! Schwein gehabt! Auf Nachsitzen hatte ich nun wirklich keinen Bock. Unpünktlichkeit hasste Frau Besserdich, unsere Deutschlehrerin und gleichzeitig die Direktorin der Schule, nämlich noch mehr als süße Hundewelpen. Ich war mir sicher, in ihrem früheren Leben musste Frau Besserdich eine Hexe gewesen sein. Obwohl es unter meinen Mitschülern ziemlich oft Streit gab, schienen sich zumindest darüber doch alle einig zu sein. Sogar die anderen Lehrer machten einen großen Bogen um sie. Ganz besonders Herr Nimmerfroh, mein Religionslehrer, bekam jedes Mal Schnappatmung, wenn er ihr im Gang zufällig begegnete. Es gab Gerüchte, dass Frau Besserdich besondere Kinder, wie zum Beispiel Konstantin, in den Pausen durch ein Fernglas beobachtete und über ihr Verhalten Protokoll führte. Aber auch sonst entging Frau Besserdichs Adleraugen nichts und niemand. Deshalb wunderte es mich auch, dass sie uns heute keinerlei Beachtung schenkte.


Mit weit aufgerissenen Augen stand sie neben der Tafel, die Arme hingen schlaff an ihrem zerknitterten Blümchenkleid hinunter. Der rote Lippenstift, den sie normalerweise peinlich genau nach jeder Stunde nachzog, war verschmiert und sah jetzt aus wie eine traurige Grimasse. Dieser Clownsmund in Kombination mit dem starren Blick jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Creepy! DAS war der Stoff, aus dem Horrorfilme gemacht wurden.

»Was ist denn mit der los?«, flüsterte ich meinem Tischnachbarn zu.

»Sie ist schon die ganze Zeit so!« Konstantin antwortete, ohne sich zu rühren. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, und das wiederum machte mir Angst. Davon abgesehen, dass Konstantin fast doppelt so groß und doppelt so breit war wie ich (was daran lag, dass er zweimal die Klasse wiederholen musste), hatte er kein besonders sonniges Gemüt. Um es auf den Punkt zu bringen: Er war ein Fiesling. Das war spätestens sonnenklar, wenn man seine Antworten in den Freundebüchern der Erstklässler las (die er ihnen übrigens immer geklaut hat!)


Eine ganze Weile musterte ich Frau Besserdich aufmerksam, dann wandte ich mich erneut todesmutig an meinen Tischnachbarn. »Sie blinzelt ja nicht einmal!«

Im gleichen Moment bereute ich es auch schon, denn er rammte mir seinen Ellenbogen in den Bauch und knurrte: »Halt die Klappe! Oder willst du, dass sie durchdreht? So schaut sie nämlich immer, wenn ich etwas angestellt habe. Und glaub mir, das würdest du kleiner Popel nicht überleben.«

Er warf mir einen vernichtenden Blick zu, bevor er seinen Kopf wieder zur Tafel drehte.

Ich sank verunsichert tiefer in meinen Stuhl. Was sich da vor meinen Augen abspielte, war einfach völlig verrückt.

So ruhig hatte ich meine Klasse noch nie erlebt. Obwohl Frau Besserdich nicht einen einzigen Ton von sich gab, saßen alle Schüler kerzengerade auf ihren Stühlen. Niemand dekorierte wie sonst die Tische mit Schimpfwörtern, schoss Papierkugeln umher oder klaute seinem Sitznachbarn Süßigkeiten aus dem Ranzen. Ganz im Gegenteil. Manche hatten sogar unser Deutschbuch aufgeschlagen und schienen freiwillig darin zu lesen.

Irre!

Unauffällig sah ich zu Basti und Elli rüber. Sie wirkten genauso verwirrt wie ich. Als Basti mit dem Finger zum hinteren Teil des Klassenzimmers deutete, riskierte ich einen schnellen Blick über die Schulter.

Verflixt und abgestaubt!

Die Uhr war weg!

Anders als zu Hause bemerkte ich das sofort, denn hier drin war die Uhr überlebensnotwendig. Sie erlöste mich täglich von den Qualen des Unterrichts. Und nun war sie nicht mehr da! Was zum Kuckuck führte der Dieb im Schilde?

Auf das Ende des Unterrichts zu warten, während man den Sekundenzeiger beobachten konnte, war schlimm. Aber im Klassenzimmer zu sitzen und nicht zu wissen, ob die Stunde überhaupt je vorbei sein würde, war unerträglich. Als wir es irgendwann alle nicht mehr aushielten und sogar die Streber ihre Bücher zugeklappt hatten, wanderten wir gemeinsam vom Deutsch- in den Matheraum.

Dort allerdings fehlte nicht nur die Uhr, sondern auch Herr Quark, unser speichelsprühender Mathelehrer.

Da waren wir nun also: 24 Kinder und Kröte Konstantin. Nervöses Gemurmel breitete sich aus, bis Elli nach vorne neben die Tafel trat und das Wort ergriff. Augenblicklich verstummten alle und richteten ihre Blicke auf sie.

»Leute! Jetzt mal keine Panik«, sprach sie mit ruhiger, selbstbewusster Stimme. Kein Wunder, dass sie zur Klassensprecherin gewählt worden war. Und zwar einstimmig. Nicht zuletzt, weil Konstantin persönlich dafür gesorgt hatte. Jeder (außer Elli) wusste, dass er in sie verliebt war. Ihn damit aufzuziehen, traute sich natürlich niemand. Es gab gewiss angenehmere Arten, ins Gras zu beißen.

Elli räusperte sich und fuhr fort: »Bleibt bitte auf euren Plätzen. Ich bin mir sicher, bald wird der Unterricht wie gewohnt …«

»… wir sollten von hier verschwinden«, unterbrach Rüdiger sie grunzend. »Kein Lehrer, kein Unterricht.« Er streckte seine Faust in die Luft. »Freiheit für alleeeeeee!«

Lautes Gejubel brach im Klassenzimmer aus. Wie in einer wild gewordenen Affenbande sprang einer nach dem anderen über die Tische und stürmte zum Ausgang, wo ihnen Konstantin jedoch den Weg versperrte.


»Ihr kleinen Popel tut das, was sie euch sagt, kapiert?« Er blähte sich zu seiner vollen Größe auf, und keiner traute sich an dem Koloss vorbei.

Elli nickte zufrieden, als sich Rüdiger mit eingezogenem Kopf zurück an seinen Tisch setzte.

Doch plötzlich war es Elli, die zum Fenster sprang und mit weit aufgerissenen Augen nach draußen deutete. »Ist das etwa ein Lagerfeuer?«

Sofort klebten alle Schüler wie Aquariumputzerfische an der Glasscheibe.

Rüdigers Mund klappte auf. »Ist das Frau Hoppe?«

Auch ich traute meinen Augen kaum. Unsere Musiklehrerin hüpfte mitten auf dem Schulhof um das Feuer herum und gab seltsame Laute von sich.

»Das ist verrückt«, murmelte ich und rieb mir die Augen. Vielleicht träumte ich ja nur? Das konnte doch schließlich alles nicht wahr sein:

Frau Besserdich starrte benommen die Wand an, Herr Quark fehlte unentschuldigt, und Frau Hoppe hielt sich offenbar für eine Feuerbeschwörerin.

Dieser Tag lief völlig aus dem Ruder.

Voll relativ! Der Tag, an dem die Zeit verschwand

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