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Die Körper lagen schon lange Zeit reglos auf der Straße. Niemand hatte gewagt, sie anzurühren, obwohl sie schon von Scharen von Fliegen umschwirrt wurden. Sie wurden vom Geruch das Blutes angelockt, das den staubigen Straßenboden um die Leichen tränkte. Die Einwohner blieben in ihren Häusern, sofern sie nicht mit Gewalt herausgezerrt wurden, und die Fremden, die um die Mittagszeit in die Stadt geritten waren und hier nun ihr Lager aufgeschlagen hatten, kümmerten sich nicht weiter um diejenigen, die sie getötet hatten. Inzwischen wehrte sich niemand mehr gegen die Fremden. Man hoffte nur, dass sie schnell das finden würden, was sie suchten, und sich dann wieder auf den Weg machen würden. Die Neuankömmlinge waren alle in derselben Art gekleidet: dunkler Stoff und Lederharnische, die mit geschwärztem Stahl beschlagen waren, dazu Stahlhelme, ebenfalls geschwärzt. Sie mussten unter der Hitze leiden in ihrer schweren Kleidung, doch sie zeigten keine Zeichen der Erschöpfung. Sie beachteten nicht die Körper der Opfer, die hier und da verstreut lagen, sondern gingen an ihnen vorbei oder stiegen über sie hinweg, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Auf dem Marktplatz hatte ihr Anführer Stellung bezogen. Dort ließ er sich öfter Bericht erstatten und brüllte hin und wieder einige Einwohner an. Kurz nachdem sein Trupp in die Stadt geritten war, hatte er sich in der Mitte des Marktplatzes aufgestellt und in lautem Korvanisch verkündet, dass die Stadt nun Eigentum des Königs von Korva sei und jegliche Gegenwehr hart geahndet würde. Danach war er zu dem mit Palisaden befestigten Anwesen gegangen, das auf einer kleinen Anhöhe am Rand der Ortschaft stand, und hatte seine Ansprache wiederholt. Anschließend hatte er den Herrn der Festung aufgefordert, vor die Tore zu treten und sich bedingungslos zu ergeben. Nachdem sich mehrere Minuten nichts in den Gebäuden hinter dem Wall gerührt hatte, wiederholte er seine Forderung und fügte noch einige Drohungen hinzu. Als auch dies unbeantwortet geblieben war, ließ der Anführer einige seiner Männer am Tor zurück und ging wieder zum Marktplatz. Es war schon einige Zeit vergangen, als ein alter Mann mit weißen Haaren vor ihn geschleppt wurde. Die Kleidung des Greises war staubig und zerrissen, und auf seinem Gesicht blühten mehrere frische Blutergüsse auf. Der Alte sah äußerst erschöpft aus, bemühte sich aber gleichzeitig, seine Angst zu verbergen, als er vor dem glattrasierten, muskulösen Mann mit den kurzen schwarzen Haaren und den harten Gesichtszügen auf die Knie gezwungen wurde. Einer derjenigen, die ihn herbeigezerrt hatten, trat an die Seite des Anführers und sagte: „Wie es aussieht, ist das der Einzige in diesem Drecksnest, der sich halbwegs auf Korvanisch verständlich machen kann.“

Der Angesprochene musterte den Alten kurz und sagte dann: „Verstehst Du, was ich sage?“

„Ja, Herr“, beeilte sich der Greis zu antworten.

Der Anführer fuhr fort: „Ich nehme an, meine Männer haben dir schon verdeutlicht, was wir mit deiner Familie machen werden, wenn du uns keine zufriedenstellenden Antworten gibst?“

„Ja, Herr“, kam es mit gebrochener Stimme zurück.

„Gut, dann sag mir zuerst, wer der Herr dieser - nennen wir es mal Burg - ist.“

„Graf Thakan herrscht hier.“

„Jetzt nicht mehr. Dein Herr ist schon so gut wie tot. Du bist jetzt Untertan des Königs von Korva. Wo ist dieser Thakan jetzt? Ist er ausgeritten oder verkriecht er sich nur hinter seinen Palisaden?“

„Ich - ich glaube, er ist daheim.“

„Einen feinen Lehnsherren hast du da. Zu feige, gegen ein paar Reiter anzutreten. Aber weiter: Vor einiger Zeit war ein Fremder hier. Ich welche Richtung ist er fortgeritten, und wie lange ist das her?“

„Welcher ...“

„Stell dich nicht dumm!“ brüllte der Soldat. „Ich weiß, dass er hier war. Ein Mann, der so aussah wie wir. Was hat er hier gewollt? Und seit wann ist er fort?“

„Er - das war vor vier Tagen“, stammelte der Alte. „An dem Tag sollten zwei Gefangene dort drüben aufgehängt werden.“ Er deutete zu dem Galgenbaum am Rand des Marktplatzes. „Es waren Viehdiebe. Der Fremde kam plötzlich mit einigen anderen Männern herangestürmt und erschlug die Wachen. Dann schnitt er die Fesseln der Diebe durch und floh mit ihnen.“

„In welche Richtung?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, nach Süden.“

Der Fragensteller betrachtete seinen Gegenüber mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen. „Genauer geht es wohl nicht, was? Hat dieser sogenannte Graf nicht die Verfolgung aufgenommen?“

„Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Vielleicht hat er nur einige Männer geschickt.“

„Du willst mich wohl für dumm verkaufen! Der Fremde tötet Wachen, aber du will nicht wissen, ob er verfolgt wurde!“

Der Soldat, der daneben stand, ergriff das Wort: „Wir haben ihn schon deswegen ausgequetscht, Hauptmann. Aber er bleibt bei dieser Geschichte.“

„Dann nehmt ihn euch weiter vor. Tötet irgendwelche seiner Verwandten, wenn es sein muss, das übliche Verfahren. Ich werde mich nicht länger mit diesem stammelnden Idioten befassen.“ Er erhob sich. „Vielleicht kommt bald der Späher zurück. Dann könnten wir mehr wissen. Inzwischen kümmern wir uns um diesen widerspenstigen Grafen. Wir versuchen erst, irgendjemanden aus diesem jämmerlichen Holzverhau von einer Burg lebendig zu fassen zu kriegen. Aber zu lange warte ich nicht. Wenn nichts hilft, schießen wir ein paar Brandpfeile hinein und räuchern sie aus.“

Der Hauptmann ging die Straße entlang, die vom Marktplatz zum Burghügel führte, vorbei an einer eingetretenen Haustür und einer daneben am Boden liegenden Leiche, stieg die Anhöhe hinauf und trat zu den Soldaten, die dort Wache standen. „Besonders kräftig sieht das Tor ja nicht aus“, sagte er, als er den vorderen Teil des Palisadenzaunes musterte. „Aber es geht wohl schneller, jemanden hinüber klettern zu lassen, als es einzureißen. Wie ich den Menschenschlag hier unten einschätze, würden die nicht einmal einen Schuss mit dem Bogen wagen.“

„Hauptmann!“ rief einer der Soldaten, zum Himmel deutend. Fast gleichzeitig war ein schriller, unmenschlicher Schrei zu hören. Der Hauptmann wandte sich zu der Lärmquelle um, in deren Richtung auch der Soldat gedeutet hatte. Er hob den Arm mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht, der fast ein Lächeln hätte sein können.

Das geflügelte Wesen, das den Schrei ausgestoßen hatte, flog in die Richtung des Burgtors und setzte sich schließlich auf dem Ast eines verkrüppelten Baums in der Nähe nieder. Der Hauptmann hatte seinen Arm vorsichtshalber vorher gesenkt. Er hatte kein Interesse daran, das Wesen auf seinem Arm Platz nehmen zu lassen. Die dunkle Kreatur war weder ein Vogel, noch eine Fledermaus, ein Reptil oder ein Insekt. Es hatte von allem etwas. Lederartige Flügel senkten sich über mehrere dürre, klauenbewehrte Gliedmaßen. Der Körper war mit einer Art von glänzenden Platten gepanzert. Die schwarzen Augen waren in dem langgezogenen, dunklen Kopf erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Unruhig tänzelte das Wesen, das fast die Größe eines ausgewachsenen Adlers besaß, auf dem Ast und warf dabei dem Hauptmann einen Blick zu, der auf unheimliche Weise Intelligenz verriet.

Der Hauptmann wandte sich an einen der Soldaten. „Ich werde jetzt mit dem Späher sprechen. Das kann einige Zeit dauern. Ich muss mich an einen ruhigen Ort zurückziehen. Bewacht die Burg, aber unternehmt noch nichts. Sagt den anderen, sie können sich in der Zwischenzeit ruhig Frauen nehmen und sich mit ihnen vergnügen. Aber macht dabei nicht zuviel Unruhe.“

Er stapfte den Hügel hinunter zu dem Haus mit der eingeschlagenen Tür. Von der Leiche neben der Tür stoben bei seiner Ankunft unzählige Fliegen auf. Er kümmerte sich nicht darum und wiederholte mit seinem erhobenen Arm die Geste, die dem Späher bei seiner Ankunft gegolten hatte. Das Wesen erhob sich daraufhin wieder in die Luft und flog auf die Hütte zu. Als der Hauptmann durch die dunkle Türöffnung trat, folgte es ihm ins innere. Es landete auf dem Boden und kroch schwerfällig in einem gleich bleibenden Abstand hinter dem Menschen her. Dieser ließ sich in der Mitte des Raumes im Schneidersitz nieder. Durch die geschlossenen Fensterläden drang nur wenig Licht. Gedämpfte Gespräche und Rufe waren aus Richtung des Marktplatzes zu hören. Der Hauptmann griff in die Tasche seines Mantels und holte einen kleinen, glänzenden Gegenstand hervor. Der Späher hatte sich gegenüber dem Menschen niedergelassen und verhielt sich nun so reglos, dass er für eine bizarre Skulptur aus Obsidian oder Basalt hätte gehalten werden können.

Der Hauptmann hielt den Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger vor sein Gesicht und fixierte ihn eindringlich. Es handelte sich um einen glänzenden, geschliffenen Stein, der Ähnlichkeit mit einem Bergkristall besaß. Er war etwa so groß wie ein Hühnerei, und das Licht brach sich darin in einem verwirrenden Muster. Indem der Hauptmann den Kristall vor seine Augen hielt, wurde dieser von dem Licht der Türöffnung dahinter angestrahlt. Die Geste wirkte, als versuchte der Träger etwas im Inneren des funkelnden Steins zu entdecken.

Plötzlich gellte der Schrei einer Frau aus der Richtung des Marktplatzes auf, um schon kurz darauf mit einem gurgelnden Laut abzubrechen. Die einzige Reaktion des Hauptmanns auf diese Störung war ein kurzes zusammenkneifen der Augen, die dann weiterhin wie gebannt in die Tiefen des Kristalls starrten. Seine Atmung wurde immer ruhiger und gleichmäßiger, und die Körperhaltung entspannte sich noch mehr. Einem Beobachter dieses Geschehens wäre kaum aufgefallen, dass die behandschuhten Finger den Kristall langsam hin und her bewegten, immer nur ein winziges Stück. Das funkelnde Labyrinth im Innern des Steins schien sich dadurch zu bewegen und seine Beschaffenheit zu ändern. Der Hauptmann nahm nichts mehr wahr außer dieser glänzenden, erstarrten Welt. Er schwebte durch sie hindurch, ständig auf der Suche nach dem Zugang. Das durchsichtige Labyrinth schien sich unendlich weit in sämtliche Richtungen zu erstrecken. Dennoch war die Suche nicht willkürlich. Der schwebende, körperlose Geist folgte zum Teil seinem eigenen Willen, zum Teil wurde er gezogen. Je näher er dem Zentrum dieses verwirrenden Universums kam, desto schneller nahm die Dunkelheit zu, bis er nur noch durch eine unendliche, schwarze Leere flog. Dann sah er weit vor sich wieder das eisige, kristallene Glitzern. Je näher er kam, desto deutlicher wurde das Mosaik aus glänzenden Blöcken, von dessen halb durchsichtigen Tiefen ein schwaches Leuchten ausging. Bald entdeckte er den Zugang in dieser Wand. Er erreichte die glatte Oberfläche, spürte zum ersten Mal wieder seine Füße und den Boden, auf dem sie standen, und starrte in das Dunkel vor ihm. Ohne zu zögern schritt er durch den Zugang, der sich zwischen den kristallenen Blöcken auftat. Der glänzende, unnatürlich glatte Boden wurde unvermittelt von einem felsigen Untergrund abgelöst. Auch Wände und Decke zeichneten sich nun in derselben unregelmäßigen Beschaffenheit ab. Dämmeriges Licht fiel indirekt, von unsichtbaren Quellen ausgehend, in diesen Tunnel. Der Hauptmann sah sich um. Der Zugang war verschwunden, der Tunnel erstreckte sich hinter ihm genauso weit wie vor ihm. Bald erreichte er die ersten Abzweigungen. Noch konnte er sich nicht orientieren. Er entschied, so lange geradeaus weiterzugehen, bis er in vertrautere Regionen kam. Er wusste, dass diese Wanderung lange dauern konnte. Es wäre sogar möglich, dass er niemals sein Ziel erreichen und für immer verloren gehen könnte, doch verschwendete er daran keinen Gedanken. Er kam nun an eine Stelle, an der ein schmalerer Gang den seinen kreuzte. Die Wände dieses Ganges waren von ebenmäßigerer Beschaffenheit, und er hörte und spürte einen starken Luftzug, der dort hindurch pfiff. Der Lufthauch war kalt und trug einen schwer zu beschreibenden, aber unangenehmen Geruch mit sich. Der Hauptmann ging abermals weiter. Eine zeitlang ging er an mehreren, höchst unterschiedlich geformten Türen und Toren auf beiden Seiten des Tunnels vorbei. Er wusste, dass es sein Verderben sein könnte, eine dieser Türen zu öffnen. Nach einer langen Zeit, in der er dem Gang in einer langen Kurve gefolgt war, mündete dieser in eine Runde Halle. Auf den zweiten Blick erwies sie sich nicht als wirklich rund, sondern in ihrer Grundfläche als Zwölfeck. Boden und Wände bestanden aus einem Gestein, das an schwarzes, poliertes Marmor erinnerte. Genau im Zentrum des Saals führte eine steinerne, frei stehende Wendeltreppe nach oben. Sie verlor sich dort in einer unermesslichen Dunkelheit, ohne dass eine Decke zu erkennen wäre. Der Hauptmann wusste, dass er diesen Weg keineswegs einschlagen durfte, zumindest heute nicht. Sein Ziel war die atmende Kammer, und der weg dorthin führte nach unten. Er sah sich um und entdeckte mehrere Gänge, die aus der Halle hinausführten. Er entschied sich für einen leicht abschüssigen Gang, dessen polierter Boden und die Wände aus demselben dunklen, glatten Gestein bestanden wie die Halle mit der Treppe. Die Neigung machte es notwendig, sich äußerst vorsichtig fortzubewegen, um nicht zu stürzen. Dennoch wäre der Hauptmann beinahe in den Schacht gestürzt, in den der Gang mündete. An den Wänden dieses weiten Schachtes führten mehrere schmale, halsbrecherische Treppen hinauf und hinab. Von dem Treppenabsatz, auf dem der Hauptmann stand, konnte er erkennen, dass sowohl oben als auch unten weitere Gänge verschiedenster Größe in den Schacht mündeten. Vorsichtig macht er sich an den Abstieg. Mehr von Ahnungen als von bewussten Entscheidungen geleitet, betrat er in einen Gang, der bald wieder zu einem Schacht führte. So irrte er eine lange Zeit durch das Labyrinth senkrecht und waagerecht verlaufender Tunnel, bis er endlich eine Öffnung entdeckte, die keine saubere rechteckige Form hatte, sondern aussah, als wäre etwas mit enormer Kraft und Gewalt von außen in den Schacht eingebrochen. Diesen Weg wählte er nun. Nach einem kurzen Marsch über die raue Oberfläche des Tunnels kam er zu einem vage rundem Schacht, an dessen Wänden sich eine schmale Treppe in die Tiefe wand. Erleichtert erkannte der Hauptmann, dass er sein Ziel nun bald erreicht haben würde. Die Treppe führte ihn spiralförmig den Schacht hinab, der sich in regelmäßigen Abständen ein wenig verengte und dann gleich wieder erweiterte. Es war, als stieg der Hauptmann die versteinerte Speiseröhre eines gigantischen Lebewesens hinunter. Die Luft veränderte sich, wurde mit jedem Schritt feuchter und wärmer. Die Stufen waren glitschig, so dass der Hauptmann jeden Schritt behutsam setzten musste. Schließlich endete die Treppe in einer Höhle, deren Ausmaße nur schwer erkennbar waren, weil sie von Nebelschwaden durchzogen wurde. Der Zugang zum Treppenschacht befand sich in einer Wand dieser Höhle. Der Hauptmann ging nun entschlossenen Schrittes in die der Wand entgegengesetzte Richtung. Nach einer Weile lichtete sich die Nebelschwaben, während das beunruhigende, gleichmäßig auf- und abschwellende Zischen lauter wurde. Vor ihm er streckte sich nun ein Teich in der Mitte der Höhle. Das Licht der Höhle ging offenbar zum größten Teil von dieser leuchtenden, spiegelglatten Flüssigkeit aus.

Auf der anderen Seite des Teiches, nah, aber zu weit zum Hinüberspringen, saß der Späher. Hier in der Höhle überragte die Größe der Kreatur die des Hauptmanns. Er musste den Kopf anheben, um dem Wesen in die Augen zu sehen. Es hockte dort noch immer in derselben Haltung, die es schon in der Hütte eingenommen hatte. Das zischende Atmen ging eindeutig nicht von der dunklen Gestalt aus, sondern umgab den Teich und die beiden ungleichen Besucher vielmehr von allen Seiten. Der Hauptmann zögerte nur einen kurzen Augeblick und trat dann an den Rand des leuchtenden Teiches. Er ging in die Hocke und berührte die Flüssigkeit flüchtig mit der Spitze seines Fingers. Von der Stelle, an der die Fingerkuppe eingetaucht wurde, breiteten sich ringförmig Wellen von einer Stärke aus, die in keinem Verhältnis zu der schwachen Geste stand. Die gesamte Oberfläche des Teiches kräuselte sich und wechselte ihre Farbe in schneller Abfolge. Als sich die Flüssigkeit wieder beruhigte, formten sich die öligen, vielfarbigen Schlieren mit einer unwirklichen Schnelligkeit zu einem Bild. Der Hauptmann erhob sich und betrachtete das, was sich jetzt zu seinen Füßen zeigte. Der Anblick war schwindelerregend. Der Teich schien verschwunden zu sein und einem Loch im Boden gewichen, durch das der Betrachter aus großer Höhe auf eine Landschaft blickte. Der Blickwinkel hätte der eines Raubvogels sein können. Tief unten waren Bäume, Büsche, Hügel und Grasebenen zu sehen. Die Landschaft glitt langsam unter der Öffnung hindurch, oder vielleicht bewegte sich auch die Öffnung über das Gebiet. Nach kurzer Zeit kamen neue Landschaftsmerkmale in Sicht. Eine Felswand durchzog die Ebene, als sei das Land an dieser Stelle aufgebrochen, und ein Teil der Erdkruste sei aus dem Boden gerissen worden. Am Fuß der Felswand trat ein Fluss zutage, der sich wie eine blaue Schlange durch das menschenleere Land wand. Die Felswand kam immer näher, bis sich die Blickrichtung veränderte und nur noch der Fluss weit unten zu sehen war. Der Anblick wurde für kurze Zeit undeutlich, und als die Sicht wieder klar wurde, war sie leicht verzerrt. Der Fluss und seine Ufer in der Mitte der Öffnung waren jetzt deutlich zu erkennen und dem Betrachter etwas näher. Bald tauchten zwei Gestalten aus dem Gebüsch auf und bewegten sich entlang des Ufers. Eigentlich waren es vier Gestalten, denn es handelte sich eindeutig um zwei Reiter. Sie hielten am Ufer und saßen ab. Einer der beiden Reiter war dem Hauptmann unbekannt. Er wirkte auf unbeschreibliche Weise fremdartig, ein Eindruck, der sowohl auf seine Körperhaltung, die Art, sich zu bewegen und vor allem auf seltsame Hautfarbe zurückging. Den zweiten Reiter erkannte der Hauptmann sofort. Er hatte genug gesehen, um diesen Ort nun verlassen zu können. Er schloss die Augen, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich nach hinten fallen. Der Schmerz des Aufpralls auf den Boden blieb jedoch aus. Stattdessen hatte er das Gefühl, in einen Abgrund direkt hinter ihm zu fallen. Der Eindruck des tiefen Sturzes durch ewige Dunkelheit war so überwältigend, dass der Hauptmann nahe daran war, laut aufzuschreien. Doch dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass er schon seit längerer Zeit den Kristall vor seinen Augen anstarrte. Er sah die Gestalt des Spähers dahinter, nun nicht mehr erstarrt, sondern unruhig tänzelnd. Er senkte seine verkrampfte, schmerzende Hand und wandte leicht seinen mit kaltem Schweiß benetzten Kopf. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen wieder an die bekannten Abmessungen der halbdunklen Kammer der Hütte. Als er sich aus der sitzenden Stellung zu erheben versuchte, rebellierte sein gesamter Körper teils mit Schmerzen, teils mit Starrheit. Während ein Kribbeln seine Gliedmaßen durchlief, musste er sich auf seine Hände stützen, um aus der Hocke auf die Beine zu kommen. Als er stand, streckte er seinen Körper, bis er sicher war, aus dem Haus gehen zu können, ohne zu stolpern. Der Späher war nach dem Ende ihrer Verbindung gleichgültig aus dem Raum gekrabbelt und hatte sich im Freien sofort in die Luft erhoben. Der Hauptmann trat mit blinzelnden Augen vor die Tür und wandte sich in Richtung Marktplatz. Es dauerte nicht lange, bis er seine Männer wieder zusammengerufen hatte. Das, was sie in dieser Stadt zu erledigen hatten, hatten sie größtenteils schon hinter sich gebracht. Als sie sich wieder geordnet auf dem Marktplatz aufgestellt hatten, befahl der Hauptmann: „Schafft mir noch einmal den alten Mann her für eine letzte Frage. Danach macht ihr euch sofort bereit zum Aufbruch. Wir werden hier keine Zeit mehr verschwenden. Schießt genügend Brandpfeile in die Burg, um sie in Flammen aufgehen zu lassen, aber lasst die Hütten in der Stadt stehen. Wir werden uns später einmal um diesen Ort kümmern. Den Rest des Tages werden wir noch eine gute Anzahl Wegstunden zurücklegen. Ich bin zuversichtlich, dass wir in ein paar Tagen unsere Aufgabe erfüllt haben werden.“

Die toten Städte

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