Читать книгу Die toten Städte - Andé Gerard - Страница 7

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In dieser Nacht träumte er natürlich wieder von ihm, so wie er es in den letzten Wochen immer getan hatte. Er befand sich an einem unbekannten Ort, in einem Raum, dessen Abmessungen er nicht im Entferntesten abschätzen konnte. Vielleicht besaß dieser Raum auch überhaupt keine Grenzen. War er durch ein Tor getreten, hinter dem ein fahler Feuerschein zu sehen war? War dieses Licht erloschen, als sich das Tor hinter ihm geschlossen hatte? Ihm war, als hätte er seltsame Verzierungen auf den Torflügeln gesehen. Doch er erinnerte sich nicht deutlich. Erinnerung war hier und jetzt ein zu klarer und zu anstrengender Gedankengang. Nun herrschte jedenfalls völliges Dunkel. Diese Dunkelheit war nicht bloß die Abwesenheit von Licht, sie war vielmehr mit etwas angereichert und erfüllt, das alles Licht aufzehrte. Es war etwas Lebendiges und Bösartiges überall um ihn herum. Ihm war, als hörte er ein Flüstern oder leises Singen, doch sehen konnte er nichts, außer ihm. Er schien in dieser endlosen Dunkelheit den Mittelpunkt zu bilden, um den sich alles drehte. Warum er ihn überhaupt sehen konnte, hier, wo es doch keine Lichtquelle gab, die ihn anleuchten konnte, war eine Frage, die er sich nicht stellte. Das Wesen leuchtete im fahlen Widerschein einer unsichtbaren Lichtquelle, so dass die tiefen Schatten jeden Muskel des unmenschlichen Körpers hervortreten ließen. Er nahm nicht die kauernde Stellung ein, in der er im Wachzustand zu sehen war, so wie er ihn üblicherweise kannte. Er stand stattdessen in gebieterischer Pose in der Dunkelheit, die gewaltigen Arme von dem Brustkorb verschränkt, stumm in eine Richtung starrend. Auch der Körperbau war verändert. Dieser Traum-, nein, Alptraumkörper zeigte hier die unbändige Kraft und Gewalt, die in der wachen Welt (gab es eine wache Welt?) nicht zu sehen war, eine Kraft, die man dort nicht einmal ansatzweise ahnen konnte. Der Körperbau war dennoch menschlich, wenn auch abscheulich verzerrt, der Kopf war es jedoch ganz und gar nicht. Er hatte die Form eines Tierkopfes, vielleicht eines Hirsches oder eines Stiers, oder einer Mischung aus beidem. Auch die gewaltigen Hörner auf dem Kopf ließen diesbezüglich keinen eindeutigen Schluss zu. Der Kopf lag, vor allem dort, wo bei einem Menschen das Gesicht wäre, auf seltsame Weise im Schatten, wie von einem schwarzen Nebel verschleiert. Doch selbst durch diesen Nebel drang der bösartige Blick der Augen, ein Blick, der keinerlei menschliche Empfindung verriet, sondern von kalter, teilnahmsloser Grausamkeit war. Und dieser Blick richtete sich nun auf ihm.

Er wollte schreien, er wollte vor Furcht sterben, nur um von diesem Ort zu entkommen, doch er war wie gelähmt. Dann kam plötzlich eine Veränderung; er konnte zuerst nicht sagen, ob zum Guten oder zum Schlechten. War etwas Anderes als das Letztere denkbar? Seine Furcht steigerte sich ins Unermessliche. Die Dunkelheit veränderte sich, gewann eine andere Qualität. Er sah nun Schemen und Schattierungen von dunklem Grau. Dann bemerkte er, dass er aufgewacht war.

Er schreckte mit geöffnetem Mund auf, heftig ausatmend, doch ohne einen lauten Ton von sich zu geben, obwohl sein Gesichtsausdruck der eines schreienden Menschen war. Eine Schweißschicht lag unangenehm kalt auf seiner Haut. Als nächstes bemerkte er, dass jemand mit ihm sprach, und zwar in einem eindringlichen Flüsterton. Er konnte nun auch den Kopf des Sprechers vor sich sehen, der sich über ihn beugte. Das Gesicht war nur ein dunkler Fleck, in dem aufgrund der Dunkelheit des nächtlichen Waldes keine Merkmale auszumachen waren. Es war fast wie eine unheimliche Fortsetzung der Traumgesichte.

Er bemühte sich nun, auf die Worte der Schattengestalt zu achten. „Churon, verstehst Du mich? Bist du jetzt wach?“ Trotz des Flüstertons meinte Churon, Couriks Stimme zu erkennen. Er räusperte sich und antwortete: „Ja, ich bin wach. Was ist los?“

„Jemand ist in der Nähe. Nalvil hat auf seiner Wache Lichter gesehen, Feuerschein. Sieh es dir lieber an. Dort hinter den Bäumen.“

Churon schnellte hoch und versuchte auf die Beine zu kommen. Er kämpfte einen Anflug von Übelkeit nieder. Die Bilder des Traumes brannten noch in seinem Kopf. Er versuchte sie zu verdrängen und sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Zuerst konnte er nur dunkle, konturlose Schatten erkennen, die das Blauschwarz des Nachthimmels verdeckten. Allmählich traten jedoch die Umrisse der Bäume und Büsche deutlicher hervor. Sich vorsichtig durch die Dunkelheit vortastend, erkannte er nun auch menschliche Gestalten, die sich, wie er bemerkte, in gedämpftem Ton unterhielten. Als er sich ihnen näherte, sah er schließlich auch den Lichtschein zwischen den Bäumen. Rötliches, unsicheres Flackern drang von einem Ort durch das Geäst, der offenbar außerhalb des kleinen Waldstücks lag, in dem Churon und seine Männer ihr Lager aufgeschlagen hatten. Bei den Beobachtern, die sich am Rande der Lichtung unterhielten, handelte es sich um Pinro und Nalvil, die wohl schon länger wach sein mussten. Trego kam wie Churon selbst eben hinzu. Als sie die Neuankömmlinge bemerkten, beendeten sie ihr Gespräch. Churon fiel die Stille auf, die für die nächtliche Wildnis ungewöhnlich war. Nur das Zirpen einer Grille und das leise Rauschen des Windes in den Baumwipfeln war zu hören. Nalvil wandte sich nun an ihn: „Churon, siehst du es? Was hältst du davon?“

Er nahm sich Zeit mit seiner Antwort. Er fixierte den Schein des Feuers, bis er schließlich sagte: „Sieht nicht nach einem Lagerfeuer aus, mehr nach einer Fackel. Es sieht so aus, als ob es sich bewegt.“

„Genau“, stimmte Nalvil zu. „Und es kommt so ungefähr in unsere Richtung. Außerdem sind es mehrere Feuer.“ Churon konnte mit Mühe die Geste erkennen, mit der Nalvil auf eine dunkle Stelle zwischen den Bäumen deutete. „Warte einen Augenblick.“ Er verharrte in dieser Stellung. Dann sah Churon plötzlich den zweiten Lichtpunkt an der angezeigten Stelle aufscheinen und kurz darauf wieder verschwinden.

„Hast Du es gesehen?“ fragte Nalvil.

„Ja. Seltsam. Wer treibt sich stockdunkler Nacht hier in der Einöde herum? Was suchen die?“

„Wenn wir Pech haben, uns.“ Es war das erste Mal, dass sich Trego zu Wort meldete. Churon erkannte ihn auch ohne hinzusehen am Lispeln, das nicht zu dem dunklen, rauhen Ton seiner Stimme passte. „Könnte das Jalos Etyras mit seinen Leuten sein? Vielleicht haben sie uns endlich eingeholt.“

„Unwahrscheinlich. Das hätte ich mitbekommen“, entgegnete Churon etwas ungeduldig. "Aber wir sollten trotzdem vorsichtig sein. Ich dachte, wir wären weit entfernt von menschlichen Ansiedlungen.“

„Stimmt“, sagte Courik. „Wir sind jetzt drei Tagesritte südlich von Siyebo. Die nächste Ansiedlung müsste Elir sein, ziemlich genau im westlicher Richtung gelegen, vielleicht einen Tagesritt.“

„Wenn die da vorne aus Elir sind, kommen die aber aus der falschen Richtung“, bemerkte Trego. „Oder sie wollen dorthin zurück.“

„Sei es, wie es will“, sagte Churon, „Sie kommen uns auf jeden Fall zu nahe. Wir sollten uns schleunigst aus dem Staub machen. Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Wir gehen ihnen besser aus dem Weg.“

„Oder wir kämpfen“, entgegnete Trego. „Wenn es nur ein paar Jäger sind, können wir sie überwältigen, vielleicht sogar durch einen Hinterhalt.“

„Und wenn es nicht nur ein paar Jäger sind?“ erwiderte Churon. „Warum sollten die nachts mit Fackeln durch die menschenleere Wildnis reiten? Die Gefahr ist mir zu hoch. Ich habe zwar gesagt, dass ich nicht glaube, dass es Jalos sein könnte, aber völlig sicher...“

„Es wäre für dich doch leicht herauszubekommen, woran wir bei denen sind“, warf Pinro ein, der bislang das Gespräch schweigend verfolgt hatte. „Schließlich war das der wichtigste Grund, warum wir dir gefolgt sind. Du hast gesagt, du könntest jeden Feind erkennen, bevor er uns gefährlich werden kann. Mit deinem Glücksbringer.“ Churon zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Der Traum, aus dem er erwacht war, war noch allzu gegenwärtig. Wenn er eines jetzt nicht wollte, dann war es, sich diesem Grauen so schnell wieder auszusetzen. Obwohl der Vorschlag, nüchtern betrachtet, vielleicht vernünftig war. Doch Pinro trug das Amulett nicht. Niemand konnte diese Erfahrung nachvollziehen.

„Nein“, sagte er schließlich, wobei in seiner Stimme die Verärgerung darüber mitklang, dass seine Gefährten sein Zögern mit ziemlicher Sicherheit bemerkt hatten. „Ich habe entschieden. Und ich werde diese Macht nicht unnötig beanspruchen. Eines solltet ihr nie vergessen: Ihr würdet ohne mich schon längst von irgendeinem Baum am Wegestrand baumeln, mit oder ohne Talisman. Ich habe euch oft genug den Kopf gerettet. Also, wir werden jetzt einfach Deckung suchen und abwarten.“

„Warum?“ fragte Trego, während sich Churon schon in Richtung Lager umwandte. „Es ist doch nicht das erste Mal, dass wir Reisende überfallen. Uns gehen allmählich die Vorräte aus, und vielleicht haben diese Kerle auch Wertsachen dabei. Ich habe auch mal wieder Lust auf...“

„Willst Du wieder Ärger machen?“ unterbrach ihn Churon mit einem kalten Ton in der Stimme, während er ihn eindringlich fixierte.

Trego zuckte kaum merklich zusammen und sah einen Augenblick wortlos in Churons Richtung. „Nein.“ sagte schließlich mit leiser Stimme. „Will ich nicht.“ Das Lispeln, das während des Gesprächs nicht zu überhören gewesen war, war erst seit kurzem ein Merkmal Tregos; es war eine Folge der Auseinandersetzung, als er das letzte Mal „Ärger gemacht“ hatte. Die fehlenden Vorderzähne verursachten den Sprachfehler, der so gar nicht zu der dunklen, rauhen Stimme passte.

Churon wandte sich nun von seinem störrischen Gefolgsmann ab und deutete ungeduldig zu der Gruppe von Bäumen, an denen die Pferde festgebunden waren. „Los jetzt. Wir reiten zu dem ausgetrockneten Bach. In seinem Bett können wir schnell vorwärtskommen, ohne dass wir irgendwelche Hindernisse fürchten müssen. Außerdem bietet das Ufer Deckung.“

Zu seinem Missfallen handelten nicht alle seiner Begleiter so schnell, wie er es erwartet hatte. Trego und Courik bewegten sich zwar so zügig vorwärts, wie es im Dunkel der Bäume und Sträucher möglich war, doch Pinro und Nalvil zögerten noch und schienen leise miteinander zu reden. Möglicherweise erörterten sie trotz der gefallenen Entscheidung noch Tregos Vorschlag. Es sind undisziplinierte Leute, dachte Churon, das muss mir immer bewusst sein. Vielleicht sind es gute Kämpfer, rücksichtslos und zäh, aber es sind keine Soldaten. Sie sind ohne Drill und ohne Sinn für Befehlsketten. Diese Wegelagerer können vielleicht Reisenden auflauern und sie ausrauben oder in einer Kneipenschlägerei mit schmutzigen Tricks den Gegner außer Gefecht setzen, aber zur wirklichen Zusammenarbeit sind sie nicht fähig. Das kann mir vielleicht den Hals kosten, wenn ich mir dessen nicht ständig bewusst bin. Ich muss mich ihrer früher oder später entledigen, auf die eine oder die andere Weise. Es werden nie zuverlässige Gefolgsleute. Aber vorerst brauche ich sie, bis ich genug gelernt habe, um mich selbst in diesem Land zurecht zu finden.

Während er diesen Gedanken nachhing, bahnte er sich so schnell, wie es unter der gebotenen Vorsicht möglich war, den Weg durch den nächtlichen Wald. Pinro und Nalvil setzten sich nun endlich auch in Bewegung. Churon hoffte, dass die Geräuche, die seine Gruppe zwangsläufig verursachte, soweit vom Wald verschluckt würden, dass die Fremden nichts mitbekamen. Wie nah diese inzwischen waren, ließ sich schlecht einschätzen. Wieder wurde Churon die Stille bewusst, die für die Nacht hier in der südlichen Wildnis so ungewöhnlich war.

Als sie auf die Pferde aufsaßen, hatte er kurz den Eindruck, als ob er eine größere Gestalt zwischen den Bäumen gesehen hätte. Sollten die Fremden sie schon entdeckt haben und sich nun anpirschen? In der Dunkelheit zwischen den Bäumen war jetzt jedoch nichts Auffälliges mehr zu erkennen. Selbst der Fackelschein drang nicht bis hierhin durch, sofern die Fackeln überhaupt noch brannten. Churon hielt sich nicht mit weiteren Mutmaßungen auf, sondern versetzte sein Pferd in Trab. Er hoffte, dass sie sich im Dunkeln nicht völlig in der Richtung irrten, sondern den ausgetrockneten Bach schnell fanden.

Der Ritt dorthin war beschwerlich und verursachte mehr Lärm, als Churon lieb war. Weder Pferde noch Reiter waren daran gewöhnt, sich in der Dunkelheit den Weg durch das tückische Unterholz in der Wildnis zu bahnen. Churon befürchtete ständig, dass ein Pferd über eine Wurzel oder eine Ranke stolpern und sich ein Bein brechen könnte. Es würde dann mit lautem Wiehern seinem Schmerz Ausdruck verleihen und nebenbei vielleicht auch noch den Reiter verletzen. So bewegte sich die Gruppe nur mit äußerst geringer Geschwindigkeit voran; dennoch waren das laute Knacken brechender Äste, das Rascheln von Laub und die nur halb unterdrückten Flüche der Männer ständige Begleiter. Wie weit sie schon vorangekommen waren, konnte Churon nur schwer einschätzen, da sie bisher immer nur tagsüber geritten waren, wenn sie ihren Weg klar sehen konnten und daher wesentlich schneller voran kamen. Dann, nach einer endlos scheinenden Zeitspanne, als Churon schon fast zu dem Schluss gekommen war, das sie sich verirrt haben mussten, tauchte urplötzlich vor ihm die Senke des ausgetrockneten Flusses auf. Er lenkte sein Pferd hinein und wartete, bis seine Männer ihm nachgefolgt waren, bevor er sich an sie wandte: „Wir folgen dem Bach am besten in süd-südwestlicher Richtung. Damit kommen wir nicht zu weit von unserem früheren Weg ab. Wir können jetzt zum Glück schneller reiten. Nach einer Weile können wir das Bachbett dann wieder Richtung Osten verlassen. Also los.“ Er gab seinem Pferd die Sporen.

Obwohl der Boden im Bachbett weniger tückisch war als im Wald, kamen sie langsamer voran als erwartet. In der nahezu völligen Dunkelheit, die auch der jetzt sichtbare Sichelmond über ihnen kaum erhellen konnte, mussten sie ständig auf Biegungen des Bachlaufes achten. Oft kam es vor, dass jemand versehentlich einen Teil der Böschung hinaufritt und umständlich wenden musste. Sie waren erst kurze Zeit unterwegs, als plötzlich links vor ihnen, leicht erhöht, Fackellicht zwischen den Bäumen auftauchte. Der Feuerschein war so nah, dass Churon einen verblüfften Ausruf unterdrücken musste. Er zügelte etwas zu ruckartig sein Pferd, das darauf mit lautem Schnauben antwortete. Die Reiter hinter ihm hatten die Gefahr offenbar genauso schnell bemerkt und stießen leise Flüche aus. Als die gesamte Gruppe angehalten hatte, starrte Churon angespannt und völlig regungslos auf die tanzenden Lichter. Zu seinem Unglück musste er feststellen, dass sie genau auf das Bachbett und seine Gruppe zuhielten. „Wie haben die das geschafft?“ fragte er leise, mehr zu sich selbst als zu seinen Begleitern gewandt. Nach einem Augenblick des Abwägens ergriff er schließlich doch die Kette an seinem Hals, zog die Figur daran hervor und ließ sie sehen.

Er bemerkte noch kurz das Funkeln der zwei roten Augenpunkte in der Dunkelheit, bevor sich seine Sicht in ein scheinbares Durcheinander aus Formen von Rot, Schwarz und Blau auflöste. Er sah, wie üblich, menschliche Umrisse, doch nicht so, wie sie ein Mensch üblicherweise sah. Die Farben schienen falsch, verschoben, als ob sie ihre Plätze getauscht hätten. Licht und Schatten waren nicht so verteilt, wie sie es sein sollten. Es entstand der eigenartige (doch inzwischen fast vertraute) Eindruck, dass er nun bestimmte Dinge sah, Farben und Formen, die eigentlich nicht vorhanden sein dürften. Auf der anderen Seite waren wiederum einige ganz vertraute Farben und Formen aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.

Was er sah, war ein Gewirr aus kämpfenden Gestalten, Menschen und Pferden, spritzendes Blut, stürzende Körper, sich in Schmerzen zusammenkrümmende Menschen, ein Durcheinander fuchtelnder Waffen. Wie üblich war es, als würde er auch Schreie hören, Hufgetrappel, Klirren der Waffen, und als würde er das Blut riechen und auf der Zunge schmecken, und vor allem: den eigenen Schmerz spüren. Es kamen allmählich aber auch andere Empfindungen hinzu, schwach zuerst, doch dann immer eindringlicher, fremdartig und zunächst nicht einzuordnen, doch auf gewisse Weise nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil. Als die Gefühle stärker wurden, ließ er den Gegenstand los, bevor er davon überwältigt werden konnte. Das Amulett rutschte wieder unter sein Hemd. Als er wieder in die vertraute Kälte der nächtlichen Wildnis zurückkehrte, musste er wie immer mit einem Würgen die Übelkeit niederkämpfen, die fast so überwältigend war wie das Gesicht, das ihm soeben zuteil geworden war.

„Schnell weg hier!“ war der Satz, den er herauszuschreien versuchte, der jedoch nur als heiseres Krächzen herauskam. Die Männer schienen nicht zu begreifen, denn sie sahen unschlüssig und nervös zwischen ihm und den Fackelträgern hin und her, die nun die Böschung hinabkamen.

Churon hatte sich wieder einigermaßen zusammengerissen und saß jetzt angespannt in aufrechter Haltung im Sattel, die Hand am Schwertgriff an seiner Seite. Zur Flucht war es nun zu spät, da die Fremden sie bereits gestellt hatten. Zumindest schätzten seine Gefährten jetzt ebenfalls die Lage richtig ein und lenkten ihre Pferde so zusammen, dass eine Abwehrstellung entstand, wie Churon zu seiner Erleichterung bemerkte. Die Gruppe vor ihnen war nun so nahe gekommen, dass die Zahl der Fackeln eindeutig erkennbar war. Sieben dieser Lichtquellen tauchten ihre Träger in einen schwach rötlichen Schein. Wieder stahl sich eine vage, unangenehme Erinnerung in Churons Gedanken, doch er schüttelte sie schnell ab. Er konnte nun sehen, dass es sich bei den Neuankömmlingen offenbar nicht um Soldaten handelte, zumindest nicht aus Korva. Dafür war ihre Kleidung zu verschieden geschnitten, zu wenig gepanzert und zu bunt. Überhaupt machte die Gruppe den Eindruck eines bunt zusammengewürfelten Haufens. Deroer schienen ebenso darunter zu sein wie Leute aus dem Süden oder von der Küste. Der Anführer an der Spitze des Trupps mochte ein Mann aus dem Norden sein, nach seiner Kleidung zu schließen. Obwohl sich Churon noch keinen Reim auf das Ganze machen konnte, war ein großer Teil seiner Anspannung von ihm abgefallen. Jalos Etyras hatte offenbar noch nicht aufgeholt. Der schwerste Kampf war erst einmal aufgeschoben. Dennoch hatte das eben Gesehene einen zu starken Eindruck hinterlassen, um Churon leichtsinnig werden zu lassen. Stand das, was er gesehen hatte, noch bevor, oder war es Vergangenheit? Es war besser, mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Der fremde Reitertrupp hatte nun eine keilförmige Stellung eingenommen und unmittelbar vor Churon Halt gemacht. Der Anführer, nur zwei Schritt vor Churon, streckte langsam seine Fackel vor, um seinen Gegenüber in Augenschein zu nehmen. Nun sah Churon, dass es sich tatsächlich um einen Deroer handelte, wie er selbst einer war. Vermutlich kam er aus Elnanbia, worauf die Kleidung nach Art eines Waldläufers schließen ließ. Auch der kurze, nicht ungepflegte Vollbart und der Backenbart waren nach der Art der Grenzländer gestutzt. Die wettergegerbte Haut und die rötliche Knollennase gaben dem Reiter, zusammen mit dem stämmigen Körperbau, ein verwegenes Aussehen. Nachdem er Churon einen kurzen Augenblick stumm gemustert hatte, setzte er zum Gruß an. „Hej, einen schönen guten Abend wünsche ich“ sagte er im Dialekt des östlichen Elnanbia. Obwohl Churon die Sprache noch nicht vollendet beherrschte, meinte er doch, einen leicht amüsierten oder ironischen Unterton in der Stimme feststellen zu können.

„Hej“, erwiderte er mit ausdrucksloser Mine und bemühtem Gleichmut. „Was führt euch zu einer solch ungewöhnlichen Zeit in diese götterverlassene Gegend?“ Obwohl Churon sich anstrengte, den für ihn fremden Dialekt zu imitieren, machte er sich keine falschen Hoffnungen, seine Herkunft damit zu verbergen. Auch ohne den immer noch starken Akzent gab seine schwarze, nunmehr abgetragene, aber dennoch unverwechselbare Kleidung beredt darüber Auskunft.

„Dasselbe könnte ich euch ebenfalls fragen.“ Der Fremde grinste. „Und ihr hättet mit ziemlicher Sicherheit die interessantere Geschichte zu erzählen.“ Er musterte Churon, immer noch grinsend, und ließ dann seinen Blick in das Dunkel dahinter schweifen. „Aber ich will nicht unhöflich sein. Ihr habt immerhin zuerst gefragt. Nun, mein Name ist Crujas, und ich bin mit meinen Leuten auf der Jagd, gewissermaßen. Nur geht es uns nicht um einen saftigen Braten, sondern um eine ganz bestimmte zweibeinige Beute.“

Churon musste sich zusammenreißen, um ein Zusammenzucken zu verbergen, als er seine Befürchtung bestätigt sah.

„Eine solche Beute kann den Magen häufig besser füllen als jedes Wild, das man erjagen kann,“ fuhr Crujas fort, „wenn man sie gegen klingende Münze tauscht.“

„Davon habe ich auch schon gehört. Nur kann eine solche Beute oft gefährlicher sein als jedes wilde Tier.“

Sieben zu fünf, dachte Churon, während er die letzten Worte aussprach. Doch es sind Gegner von schwer einzuschätzender Kampfkraft. Erfahren sind sie aber auf jeden Fall.

Die Fremden, die hinter Crujas ausharrten, waren nur als Schattengestalten zu erkennen, da sie ihre Köpfe unter den Kapuzen ihrer Mäntel verbargen. Es mochten zwei oder drei Elnanbier dabei sein, nach der Kleidung zu schließen, die anderen konnte er nicht einordnen. Vielleicht waren auch Leute von der Küste darunter.

Crujas' Grinsen wurde noch breiter. „Das kommt ganz darauf an. Wie hilflos stellt sich mancher tapfere Mann doch an, wenn er in der pechschwarzen Nacht in der Wildnis umherirrt. Aber im Großen und Ganzen habt ihr recht. Manche Haut ist teuer verkauft.“ Er schien Gefallen an seiner Plauderei gefunden zu haben. „Aber der Lohn wiegt die Gefahr wieder auf, zumal sich letztere doch für den erfahrenen Jäger gut einzuschätzen lässt.“ Er streckte den Kopf, als er Churons Gruppe in Augenschein nahm. „Wo ich eben von teurer Haut spreche, da geht doch gerade das Gerücht, dass eine Bande von Dieben und Halunken vor einigen Tagen aus Siyebo Richtung Süden geflohen sein soll. Namen kann ich mir so schlecht merken, aber es kommt mir so vor, als ob ich das eine oder andere bekannte Gesicht im Dunkeln gesehen hätte. Oder spielt mir mein Verstand da einen Streich?“

Erfahrene Kopfgeldjäger gegen eine Gruppe von Strauchdieben, dachte Churon. Ich kann es mit zweien oder vielleicht auch dreien von ihnen gleichzeitig aufnehmen, dennoch würde der Ausgang des Kampfes wohl ungewiss sein. Jetzt darf Nalvil endlich zeigen, ob er wirklich so gut im Kampf ist, wie er immer behauptet. Mit Tregos Fähigkeiten hatte sich Churon ja schon gemessen. Churon beschloss, dass er die Überraschung auf seiner Seite haben musste. Wenn er plötzlich zuschlug, konnte er vielleicht den Anführer außer Gefecht setzen und damit einen entscheidenden Vorteil gewinnen.

Bevor Churon handeln konnte, hatte Crujas den Blick von seinen Gefährten ab- und ihm wieder zugewandt. „Es muss wohl so sein, denn es kann doch gar nicht möglich sein, dass sie auch noch von einem Fremden angeführt werden, der so aussieht, als wäre er direkt aus der korvanischen Armee...“ Crujas brachte den Satz nicht zu Ende, weil Churon mit einer fließenden Bewegung, die von einem kaum hörbaren Kratzen von Metall begleitet wurde, das Schwert aus der Scheide gezogen hatte und dessen Klinge nun zielsicher auf den Hals des Fackeltägers zuschnellen ließ. Crujas blieb zu wenig Zeit, um bewusst zu reagieren. Selbst sein Gesicht zeigte noch immer das Grinsen, das sich erst allmählich auflöste, um irgendwann einem Ausdruck der Überraschung Platz zu machen. Es mochte eine instinktive Handlung oder auch nur Zufall sein, dass sein rechter Arm in eben diesem Moment einen Ruck nach oben machte und damit den Griff der Fackel zwischen sich und die heransausende Schwertklinge brachte. Dies reichte zwar nicht aus, um den kraftvollen Hieb gänzlich aufzuhalten, genügte aber, um dem Angegriffenen vorläufig das Leben zu retten. Die Fackel wirbelte durch die Luft und die nunmehr leere Hand krallte sich in der Mähne des sich aufbäumenden Pferdes fest, im Bemühen, dem Schwung, der den Reiter aus dem Sattel zu tragen drohte, entgegenzuwirken.

Churon erkannte sofort, dass der Hieb sein Ziel verfehlt hatte, der Augenblick der Überraschung aber noch nicht ganz vorüber war. Der nächste Hieb musste sitzen, bevor sein Gegner das Pferd soweit unter Kontrolle gebracht hatte, dass er seinerseits die Waffe bereit machen konnte. Allerdings war Churon nun in einer deutlich schlechteren Angriffsstellung. Er musste entweder sein Pferd weiter voran treiben oder einen sehr waghalsigen Stoß nach vorn riskieren.

Er entschied sich für die zweite Möglichkeit und stemmte sich mit den Füßen in die Steigbügel, um den Körper zu strecken und zusätzlichen Halt für den Stoß zu bekommen. Noch während er ihn ausführte, bemerkte er, dass sich nun die übrigen Reiter vor ihm allmählich zu regen begannen. Als die Schwertspitze auf den Lederwams des Gegners traf, durchzuckte Churon die Erkenntnis, dass dieser Angriff sowohl ihn als auch sein Ziel aus dem Sattel tragen musste, wenn der Treffer tödlich sein sollte. Er verlagerte sein Gewicht nach vorn und machte sich bereit, seinen eigenen Sturz abzufangen, und zwar am besten, indem er den Körper seines Feindes als Polster benutzte.

Das Schwert bohrte sich tief in den Oberkörper, ein recht sicheres Zeichen für eine tödliche Wunde, doch auch eine Erschwernis für den weiteren Kampf. Die übrigen Jäger trieben ihre Pferde nun vorwärts, mindestens zwei von ihnen genau auf Churon zu, die anderen an ihm vorbei, was entweder bedeutete, das die Fremden die Initiative ergriffen hatten, oder dass seine Gefährten sich ebenfalls für den Kampf entschieden hatten. Letzlich mussten diese gesuchten Gesetzlosen die Möglichkeit der Einigung mit einer überlegenen Truppe Kopfgeldjäger doch als eher unwahrscheinlich erachten.

Churon musste schnell handeln, um seiner äußest ungünstigen Lage zu entkommen. Während er im Augenblick unbewaffnet am Boden kauerte, konnten seine Gegner ihn aus einer sicheren Stellung angreifen. Zwar wurden sie durch ihre Fackeln leicht behindert, doch konnten sie diese einerseits schnell loswerden, andererseits sich auch entscheiden, ihn einfach niederzureiten. Mit der Kraft der Verzweiflung riss Churun mit der linken Hand sein blutbesudeltes Schwert aus dem Körper unter ihm, während er gleichzeitig mit der rechten nach Crujas' Schwert griff, das dieser schon halb aus der Scheide gezogen hatte. Er versuchte erst gar nicht, es fest zu ergreifen, sondern warf es, sobald es frei war, mit einer ruckartigen Handbewegung nach vorn. Zielsicher traf das Schwert mit der Spitze voran den Körper des Pferdes direkt vor ihm, das nun schmerzerfüllt zu wiehern begann und sich halb aufbäumte, halb zur Seite taumelte. Der Reiter, zu überrascht, um sich auf diese blitzschnelle Handlung seines Gegners vorbereiten zu können, verlor den Halt im Sattel und stürzte in die Dunkelheit, während die Fackel mit einem Funkenschweif durch die Luft wirbelte.

Der zweite Reiter beachtete diese Wendung nicht, sondern holte zum Schlag mit seinem bereits gezogenen Schwert aus, während er den Zügel in der linken Hand hielt. Seine Fackel lag irgendwo hinter ihm am Boden. In letzter Sekunde konnte Churon sein Schwert hochreißen und es zwischen sich und die heransausende Klinge bringen. Durch die unglückliche Haltung wurde der Schlag nicht gänzlich aufgehalten, sondern nur soweit abgelenkt, dass sich Churon mit einem ungelenken Sprung in Sicherheit bringen konnte. Er stolperte in der Dunkelheit über etwas unbekanntes, vielleicht Mulhegs Leiche, und konnte sich nicht richtig abfangen. Während er über den Boden an den Rand der Böschung rollte und so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kommen versuchte, durchfuhr ein lähmender Schmerz seinen linken Arm. Bei dem nur halb gelungenen Versuch, den Schlag des Reiters abzublocken, musste er sich Muskeln und Sehnen gezerrt haben. Dies würde ihn im weiteren Kampf behindern. Nach einem hastigen Blick auf den Gegner, der dabei war, sein Pferd zu wenden, zog er sich am Ufer des ausgetrockneten Baches hoch und kroch auf das Unterholz über ihm zu. Im Wald war ein Kämpfer zu Pferd gegenüber einem Kämpfer zu Fuß im Nachteil. Dies war der einzige vernünftige Ausweg, der Churon in seiner jetzigen Lage blieb. Er musste die Deckung des nächtlich Waldes nutzen, sofern sein Gegner dumm genug war, ihm zu folgen ohne abzusitzen.

Tatsächlich setzte ihm der Reiter ohne zu zögern nach, doch wurde die grimmige Freude über diesen Fehler seines Feindes dadurch getrübt, dass Churon nun einen weiteren Kämpfer über die Böschung kommen sah. An dem leicht hinkenden Schritt erkannte er den Mann, den er kurz zuvor unsanft aus dem Sattel befördert hatte. Er war also doch nicht, wie Churon gehofft hatte, unter seinem Pferd begraben worden. Die Blessuren seines Gegners musste Churon sich zunutze machen, wenn er verhindern wollte, dass die beiden Verfolger ihn in die Zange nahmen. Halb hinter einem Baum verborgen, holte er das Jagdmesser aus seiner Gürteltasche hervor. Nach einem winzigen Augenblick, den er sich zum Zielen Zeit nahm, schleuderte er mit der rechten Hand das Messer auf den Schatten, der sich vor dem schwachen Fackelschein abzeichnete. Einen Atemzug später wäre dieses klare Ziel Teil des dunklen Gewirrs aus Baumstämmen und Ästen geworden. Ohne das Ergebnis seines Angriffs abzuwarten, rannte Churon tiefer in den Wald, stets nach der richtigen Deckung für den Hinterhalt suchend, in der rechten Hand das Schwert, während er den linken Arm möglichst wenig zu bewegen versuchte.

Als er meinte, einen genügend großen Vorsprung gewonnen zu haben, um den Reiter über seinen genauen Standort im Unklaren zu lassen, zog er sich mühsam auf den niedrigen Ast einen Baumes. Er konnte nicht vermeiden, den linken Arm zu Hilfe zu nehmen, um eine sichere Angriffsstellung einnehmen zu können. Mit verbissener Miene sein Keuchen unterdrückend, spähte er durch die Zweige in Richtung des Baches, wo er die Geräusche des heranreitenden Verfolgers zu hören hoffte.

Tatsächlich hörte er das erwartete Knacken der Zweige und das Rascheln des von Hufen niedergetretenen Laubes. Doch viel zu weit entfernt! Wenn sein Gegner versuchen sollte, ihn zu umkreisen, war das ein dummer Fehler. Sollte er die Spur verloren haben und nun ziellos durch das Gehölz irren, hatte Churon sogar noch leichteres Spiel. Als er den Schatten des langsam dahintrabenden Pferdes zwischen den Zweigen auszumachen meinte, verließ er vorsichtig seine Lauerstellung und setzte, verbissen den pochenden Schmerz im linken Arm ignorierend, zur Verfolgung an. Kaum hatte er die ersten Schritte getan, als ihn eine plötzliche Erkenntnis wie ein Keulenschlag traf: Das Pferd war reiterlos! Hastig wirbelte Churon herum, eher ahnend als wirklich hörend, was nur zwei oder drei Schritte hinter ihm herankam. Es war zu wenig Zeit, um den Gegner als etwas anderes als eine vage, wirbelnde Masse in den umgebenden Schattierungen von Nachtblau und Schwarz zu erkennen. Churon wagte einen weit ausholenden Schwertstreich, der einen waagerechten Halbkreis vor ihm beschrieb. Offenbar war dies genug, um den zu Fuß heranstürmenden Gegner zurückschrecken zu lassen, doch nicht genug, um mehr als ein wenig Zeit zu gewinnen.

Nun begann ein Zweikampf, den Churon zu seinem Bedauern nicht nach den ersten Hieben beenden konnte. Er schätzte die Kamperfahrung des nur schemenhaft zu erkennenden Gegners geringer ein als seine eigene, doch forderten Schmerz, Erschöpfung und die mehr als schlechte Sicht ihren Tribut. Zudem trug das schwierige Gelände im Wald dazu bei, dass er ständig fürchten musste, durch einen dummen Zufall außer Gefecht gesetzt zu werden. Ein Sturz über eine Wurzel oder einen Ast konnte ausreichen, den Kampf endgültig zu entscheiden, zum guten oder zum schlechten.

Churon bemerkte bald, dass sie sich während dieses Kampfes wieder der Bachsenke genähert hatten, aus der noch der rötliche Fackelschein drang. Es war ihm zunächst jedoch nicht möglich zu erkennen, wie sich das Gefecht entwickelt hatte. Es drang immer noch Kampflärm aus dem Flussbett. Sobald einer der beiden Kämpfer an den Rand der Böschung gedrängt würde, wäre er in einer denkbar schlechten Verteidigungsstellung. Churon setzte alles daran, dass sein Gegner dieser Kämpfer sein würde.

Es gelang nicht wie geplant. Als die zunehmend erschöpften Gegner immer verzweifelter und verbissener aufeinander eindrangen, sah es für einen Augenblick danach aus, als könnte Churon die Oberhand gewinnen. Doch als plötzlich ein weiterer Angreifer hinter ihm auftauchte, musste er einen Ausfall wagen und in Kauf nehmen, zusammen mit seinen Gegner das Ufer hinabzustürzen. Der neu aufflammende Schmerz trieb die Müdigkeit zwar wieder zurück, doch hatte Churon nun eine Übermacht gegen sich. Denn offenkundig war es seinen Gefolgsleuten schlecht ergangen. Nur ein Kämpfer – Churon konnte nicht erkennen, wer es war – hielt sich noch auf den Beinen. Doch auch er selbst wurde hart bedrängt. An Flucht war nun endgültig nicht mehr zu denken, und ein Sieg so gut wie aussichtslos. Mit dem Entschluss, seine Haut wenigstens so teuer wie möglich zu verkaufen, stürmte er mit verzweifelter Wut auf die noch übrig gebliebenen Jäger ein. Tatsächlich konnte er sie zunächst einige Schritte zurückdrängen, doch schon bald ergriff erneut bleierne Müdigkeit von ihm Besitz, die den Kampfrausch allmählich abschwächte. Nur vage bekam Churon mit, dass nun auch der letzte seiner Mitstreiter gefallen war.

Doch dann bemerkte er eine neue Entwicklung, die ihn so überraschte, dass er es ihn aus Unachtsamkeit fast das Leben gekostet hätte. Es gab einen neuen Mitstreiter! Trotz des fahlen Fackelscheins war deutlich genug zu erkennen, dass eine fremde Gestalt Churons Verfolger bedrängte. Viel mehr als ein dunkler Mantel und eine Kapuze waren nicht zu erkennen, doch der Fremde führte sein Schwert geschickt, fast anmutig, gegen die Jäger. Denjenigen, der Churons letztem Gefährten ein Ende gesetzt hatte, schickte der Neuankömmling nun ebenso schnell zu Boden. Da Churon ebenso verblüfft war wie seine Gegner, gelang es ihm zunächst nicht, einen Vorteil aus dieser unerwarteten Wendung zu ziehen, sondern nur, seine Verteidigung aufrecht zu halten. Nun waren die Feinde gezwungen, ihr gemeinsames Vorgehen gegen Churon aufzugeben und sich aufzuteilen. Mit neuer Hoffnung und einer grimmigen Entschlossenheit setzte Churon nun seine ganze Kampferfahrung gegen den einen verbliebenen Gegner ein, dem er keine Blöße gab, während er auf dessen ersten und alles entscheidenden Fehler lauerte.

Dieser Moment kam früher als erwartet. Fast zur gleichen Zeit durchbrachen Churon und sein neuer Kampfgefährte die Deckung des jeweiligen Gegners und entschieden damit den Kampf für sich. Churon tötete seinen Widersacher mit einem einzigen Stoß, der das Schwert tief in den Körper trieb. Der zusammenbrechende Mann starb, ohne einen Laut von sich zu geben. Mühsam zog Churon das Schwert aus dem Körper. Nachdem die Überlebenden einige Atemzüge lang die Toten betrachtet hatten, traf sich ihr Blick fast gleichzeitig. Genau genommen konnte Churon den Blick des Fremden nur ahnen, als der Kopf unter der Kapuze sich ihm zuwandte. Zwei der am Boden liegenden Fackeln waren bereits verloschen. Der nachlassende Feuerschein beleuchtete den Ort des furchtbaren Gemetzels nur zum Teil.

Churon ließ den Fremden nicht aus den Augen, erlaubte es sich aber, sein Schwert hängen zu lassen und eine entspanntere Körperhaltung einzunehmen. Er wusste, dass der Schmerz und die Erschöpfung, die der Kampfrausch für kurze Zeit zurückgedrängt hatte, sich bald wieder bemerkbar machen würden, und zwar zehnfach verstärkt. Er selbst atmete heftig und stoßweise, konnte aber bei seinem Gegenüber kein solches Zeichen der Verausgabung feststellen. Allerdings hatte sein unerwarteter Retter wohl auch erst spät in den Kampf eingegriffen.

Schließlich war es der Fremde, der das Schweigen brach. „Du brauchst mir nicht zu danken.“ Die Stimme war dunkel und ohne die Spur einer Gefühlsregung. „Das wäre angesichts der Verluste wohl auch etwas unangebracht“, fuhr er fort. Churon meinte nun, in dem Elnanbisch, das der Fremde sprach, einen kleinen Unterschied zur Sprechweise seiner verblichenen Gefährten zu erkennen, die Spur eines Akzents.

„Um diese Schakale tut es mir nicht leid“, erwiderte nun Churon, während er mit dem Fuß die Leiche des Mannes vor ihm umdrehte, „aber um meine Leute ist es schade. Es waren zwar nur Halsabschneider, die ich noch nicht lange kannte, dennoch war dies hier unnötig.“ Zumal dies seine Pläne wieder ein Stück weit zurückgeworfen hatte. Zumindest brauchte er sich jetzt keine Gedanken mehr darum zu machen, wie er sie später los werden sollte. Er ging langsam über den Kampfschauplatz und musterte die Leichen der Kopfgeldjäger sorgfältig. Er spürte Erschöpfung, Übelkeit und einen pochenden Schmerz im Arm, doch noch war keine dieser Empfindungen überwältigend.

Der Fremde ergriff wieder das Wort. „Ich bedaure, dass ich euch nicht früher geholfen habe. Ich wollte erst abwarten, wie das Gespräch verlaufen würde.“ Gebildete Ausdrucksweise, bemerkte Churon. Der Fremde fuhr fort: „Dass es so enden musste ist schrecklich.“ Churon erwiderte: „Ist vielleicht besser, als wenn man sie hingerichtet hätte. Das wäre eine größere Demütigung gewesen.“ Zumindest, wenn die Hinrichtungen mit denen in Korva vergleichbar wären, dachte er.

Der Fremde fuhr fort, als hätte er Churon nicht gehört. „Um so bedauerlicher ist es, dass ich es wohl bin, dem ihr diese tragische Begegnung zu verdanken habt.“ Bei dieser Bemerkung hielt Churon inne und sah in die Richtung des Sprechers, der immer noch am Rand des Kampfplatzes stand, sein Schwert aber inzwischen wieder in die Scheide gesteckt hatte. Churon erinnerte sich, dass es sich dabei um eine gebogene Klinge handelte, in einer Form, wie er sie bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Einige der Waffen der Gegner waren ähnlich beschaffen. Er schwieg weiterhin.

„Diese Leute waren nicht hinter euch her, zumindest nach allem, was ich weiß“, sagte der Fremde. „Sie begegneten euch nur zufällig. Ich bin es, den sie verfolgten.“

Churon wandte sich müde ab. Erzähl mir etwas über sinnlosen Tod, dachte er. Bevor er etwas erwidern konnte, bemerkte er etwas seltsames an der Leiche eines der Jäger, die in der Nähe einer glimmenden Fackel lag. Er griff nach der Fackel und sagte: „Wir sollten für etwas mehr Licht hier sorgen. Ich möchte diese Kerle gern durchsuchen.“ Er hielt die wieder aufflackernde Fackel über den Kopf des Toten und hielt verblüfft die Luft an. Es war kein menschliches Gesicht, das er da sah. Haut von seltsam rauer Beschaffenheit, Nasenlöcher ohne Nase, ein breiter Schlitz als Mund, dem Lippen fehlten, und im Tode aufgerissene Augen, die seltsam golden leuchteten und schlitzartige Pupillen aufwiesen. Die Erkenntnis durchzuckte ihn unvermittelt. „Ich fasse es nicht. Das ... muss ein Schlangenmensch sein.“

„Tatsächlich?“ fragte der Fremde ohne ein Anzeichen von Überraschung in seiner Stimme.

Churon starrte den Toten weiterhin unverwandt an. Er wandte den Blick jetzt dem Körper zu und betastete dabei suchend dessen Kleidung. Sie bestand aus mehreren Schichten, wie er feststellte. Unter dem Lederwams fühlte er einen seltsam weichen und dünnen Stoff, dessen Farbe er im Dämmerlicht nicht genau feststellen konnte. Das Hemd war nun zu einem großen Teil mit Blut durchtränkt. Die raue, in kurzen Klauen auslaufende Hand hielt immer noch die Waffe umklammert. Dabei handelte es sich um ein Schwert von einer fremdartig anmutenden Form, das eine gewisse Ähnlichkeit mit den gebogenen Klingen der Menschen aus Ialontena aufwies. Andererseits war es viel schmaler und wirkte eleganter, ein Eindruck, der durch den kunstvoll geschnitzten Griff und die Gravuren im Metall noch verstärkt wurde.

„Das ist das erste Mal, das ich eine von diesen Kreaturen zu Gesicht bekomme. Warum war sie mit richtigen Menschen unterwegs? So als wäre das Ding ein ganz gewöhnliches Mitglied der Gruppe.“

„Willst du mich auf den Arm nehmen?“ fragte der Fremde. „So weit aus dem Norden kannst du doch gar nicht kommen, um so ahnungslos zu sein. Oder...“ Der Fremde stockte, als würde ihm plötzlich etwas einfallen. Churon beachtete ihn nicht weiter, weil ihm nun selbst ein Gedanke kam. Er richtete sich auf und hastete von einer Leiche zur nächsten, bis er fand, was er suchte.

„Tatsächlich. Hier ist noch einer von der Sorte. Kaum zu erkennen hier im Halbdunkel und unter der Kapuze.“ Er begutachtete den letzten Toten. „Das ist wieder ein Mensch. Also fünf Menschen und zwei von diesen Echsen.“ Er verharrte in Gedanken versunken im fahlen Lichtkreis der glimmenden Fackeln. „Die waren wohl wirklich nicht hinter mir und meinen Leuten her.“

„Ich störe dich nur ungern in deiner Andacht“, warf der Fremde ein, „doch sollten wir überlegen, was wir als nächstes tun. Der Blutgeruch wird Raubtiere anlocken. Also sollten wir entscheiden, ob wir die Leichen verscharren oder uns weit genug von diesen Schlachtplatz entfernen. Zumindest wäre etwas mehr Feuer angebracht.“

Churon stimmte dem zu. „Ja, ich bin auch für mehr Helligkeit. Entfachen wir erst einmal ein größeres Feuer und entscheiden dann, was wir weiter unternehmen. Im Augenblick bin ich noch zu geschafft für größere Anstrengungen.“

Als sie die Fackeln sammelten und trockenes Holz zusammensuchten, sprach der Fremde das Thema an, das Churon schon länger im Kopf herumging, das er aber anzuschneiden bis jetzt gezögert hatte. „Wie sieht eigentlich dein weiterer Weg aus? Wäre es nicht sinnvoll, wenigstens einen Teil davon gemeinsam zu gehen, nun, da du deine Gefährten eingebüßt hast?"

Churon überlegte nur einen kurzen Augenblick. „Der Vorschlag erscheint mir wohl sinnvoll.“ Er sah in Richtung des Fremden. „Es könnte jedoch gefährlich für dich werden. Du solltest wissen, dass ich auf der Flucht bin."

„So ein Zufall, das bin ich ebenfalls“, erwiderte der Fremde. „Vielleicht flieht es sich gemeinsam leichter?“

„Nun gut. Ich denke, ich habe von dir nach dieser Geschichte nicht viel zu befürchten. Und was meinen Weg betrifft, so war ich mir darüber weniger im klaren, als ich gegenüber meinen Leuten zugegeben habe. Mein Ziel war und ist im Grunde nur der Süden.“ Das stimmt zwar nicht ganz, sollte aber fürs erste reichen, dachte Churon.

„Euer Vertrauen ehrt mich“, sagte der Fremde, der nun näher zum Lagerfeuer trat. „Der Vorteil gegenseitigen Schutzes und einer Aufteilung der Wache überwiegt in unserer Lage wohl die erst Furcht vor dem Fremden.“

Nach der letzten Bemerkung stahl sich ein spöttisches Grinsen auf Churons Gesicht, und er sah auf, um zu einer Entgegnung anzusetzen, woraufhin jedoch das Grinsen einem verblüfften Ausdruck wich und ihm die Worte im Halse stecken blieben. Der Fremde musste dies bemerkt haben, denn er sagte mit einem ironischen Unterton in der Stimme. „Ja, hier im Süden kann man schneller in seltsame Gesellschaft geraten, als man denkt. Das dürfte doch einige deiner vorherigen Fragen beantworten.“ Churon starrte auf das Gesicht vor ihm. Er erinnerte sich plötzlich an das Schwert des Fremden, das ihm sofort aufgefallen war, die Ähnlichkeit in der Form. Er hatte einfach den Zusammenhang nicht erkannt. Erst jetzt, als er in das grünliche, lippenlose Gesicht mit den gelb leuchtenden Augen sah, begriff er.

Die toten Städte

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