Читать книгу Die toten Städte - Andé Gerard - Страница 5

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Die Möwen kündigten es zuerst an. Man sah sie wie eine weiße Sturmwolke vor den graugrünen Hügeln jenseits des Strandes umherwirbeln. Ihr Gekreisch wurde meilenweit durch die Seeluft an das Schiff herangetragen. Ständig über den Abfällen des Hafens kreisend, waren sie wie ein lebendes, lärmendes Leuchtfeuer für jeden, der sich von See oder Land näherte. Es dauerte lange, bis schließlich der Leuchtturm als zweites sichtbares Zeichen hinzukam. Er war immer das erste Gebäude, das man erkannte, gefolgt von der glänzend weißen Kuppel des Tempels im Stadtzentrum. Kerim erinnerte sich an die Möwen erst jetzt, da er sie wieder sehen und hören konnte. Er hatte sie nie wirklich beachtet, als er noch in der Stadt wohnte, doch nun riefen nur sie ihm ein Bild seiner Heimat vor Augen, das so deutlich und lebendig war, wie es keine Erinnerung und kein nächtlicher Traum in der Fremde je sein konnte. Er wusste, wo er den Leuchtturm suchen musste und wo die Kuppel des Asal-Tempels als nächste Wegmarke erscheinen musste. Er konnte die Segel der vor der Stadt ankernden Dhaus schon vor sich sehen, die sich kaum von den dahinter liegenden hellen Fassaden der Kaufmannshäuser und Lagerhallen abheben würden. Nur drei Gebäude würden aus dieser Front herausstechen: Neben dem Leuchtturm noch die riesige alte Festung mit ihren Rundtürmen und der neue Palast des Patriarchen.

„Pavat“, sagte Kerim, und holte tief Luft. „Gleich werden wir den Hafen sehen können.“

„Deine berühmte Heimatstadt?“ war eine raue Stimme hinter ihm zu vernehmen. Kerim zuckte zusammen. Er hatte sich über die Reling gelehnt, den Blick bislang immer starr auf die Küste gerichtet. Er hatte gedacht, dass nur sein Diener bei ihm wäre, und nicht gehört, wie Gereth hinzugekommen war. Er drehte sich lächelnd um. „Ja, sie muss gleich in Sichtweite sein“, wiederholte er etwas zerstreut. „Bist Du schon gespannt?“

Gereth antwortete nicht, sondern lehnte sich lässig an die Reling, ein schiefes Lächeln auf dem stoppelbärtigen Gesicht. „Das Gekreische hört man ja bis hierher. Diese Biester sind ein gutes Zeichen. Das bedeutet eine reiche und fette Stadt. Wenn auch die Freudenhäuser was taugen, werde ich mich schon wie zu Hause fühlen. Diese glutäugigen Frauen bei euch hier unten wären genau das richtige nach der langen Überfahrt.“

Kerims Stimmung schlug plötzlich um. Er wandte seinen Blick wieder auf die See, ohne Interesse an einer Fortsetzung des Gesprächs. Die lange Seefahrt war Kerim wie trotz aller Strapazen wie eine Erholung vorgekommen, vor allem geistiger Art. Für einige kostbare Wochen hatte er keine Geschäfte zu tätigen, Unterredungen zu führen oder Verpflichtungen nachzukommen gehabt. Andere erledigten während diese Zeit die Arbeit. Sobald er wieder einen Fuß an Land setzen würde, wäre diese Rast vorüber. Die meiste Zeit hatte er es tatsächlich geschafft, gelassen in sich zu ruhen, ohne in dunkles Brüten zu verfallen. Wenn er doch einmal in eine melancholische Stimmung verfiel, war es meistens Gereth Cordren, dem es mit seinen Scherzen gelang, ihn wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuholen. Gereth schien der einzige unter der Mannschaft zu sein, der wirklich Interesse an einem Gespräch mit Kerim hatte. Selbst Kapitän Yandrol, obwohl meistens gut gelaunt, begegnete seinem Reisegast oft nur mit einer Art höflicher Zurückhaltung. Zu Gereth dagegen hatte sich während der Reise fast so etwas wie Freundschaft entwickelt, was daran liegen mochte, dass er in gewisser Weise ebenfalls ein Außenseiter wie Kerim war. Er war der einzige Urdländer unter der Besatzung des Schiffes.

Kerim lehnte weiter an der Reling, während er abwechselnd die Küste beobachtete und in Gedanken versunken ins Nichts starrte. „Stell dich am besten weiter vorne am Bug auf, dann kannst du dich als Gallionsfigur nützlich machen“, waren die Worte, mit denen Gereth sich wieder entfernte.

Langsam kamen nun tatsächlich die Gebäude des Hafens als gezacktes, helles Band am Ufer in Sichtweite. „Soll ich unser wichtigstes Gepäck schon bereitstellen?“ Dieses Mal war es die Stimme seines Dieners, die Kerim aus seinem Grübeln riss.

„Du musst Dich nicht beeilen, Taref. Dafür haben wir auch nach dem Anlegen noch genug Zeit.“ Die scheinbare Eilfertigkeit seines Bediensteten besserte Kerims Laune nicht. Dann fügte er doch noch hinzu: „Aber es kann auch nicht schaden, schon einmal alles zusammenzusuchen und zu überprüfen.“ Damit wäre Taref wenigstens für eine Weile beschäftigt. Es sollte auch nicht so aussehen, als würde Kerim absichtlich Zeit schinden. Der kleine, aber kräftig gebaute Mann deutete kurz eine Verbeugung an und verschwand dann unter Deck.

Als das Schiff schließlich in die schmale Bucht von Pavat einlief, bot sich Kerim der vertraute Anblick der unzähligen vor dem Hafen ankernden oder an den Holzstegen festgemachten Dhaus. Nur im Süden des Hafens war eine Störung des gewohnten Bildes auszumachen. Dort lag am Steinkai, dem einzigen, der bis jetzt fertiggestellt war, ein breite Kogge. Kerim wusste, dass sie nur den Tenarsons gehören konnte, der einzigen urdländischen Kaufmansfamilie, die bisher einen festen Wohnsitz hier im Süden bezogen hatte. Die andere Seite des Kais, der weiter in die Bucht hineinragte als die älteren Holzstege, war noch frei für ein zweites großes Schiff. Dort, wo der Kai am Ufer endete, begann eine Straße, die vom Hafen aus zwischen den neuen Steinhäusern geradewegs auf den Basar im südlichen Teil von Pavat zuführte. Kerim erinnerte sich noch daran, dass sich in seiner Kindheit auf der südlichen Straßenseite anstelle der heutigen Steinhäuser der wohlhabenden Kaufmanns- und Handwerkerfamilien noch die ärmlicheren Hütten der Lehmstadt erstreckt hatten. Sie waren inzwischen zurückgedrängt worden, so wie sich die gesamte Lehmstadt nach Norden, Süden und Westen verschoben hatte. Die Stadt war gewachsen.

Je näher sie der Anlegestelle kamen, desto mehr verbanden sich nun auch Geräusche und Gerüche zu einem vertrauten Muster, das Kerim wohl auch mit verbundenen Augen jederzeit als die Stadt erkennen würde, in der er aufgewachsen war. Hin und wieder schloss er tatsächlich für einige Zeit die Augen, als würde dies seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. Wenn er die Augen öffnete, fiel sein Blick nacheinander auf einzelnen Gebäude des Hafens, dem Kurs des einlaufenden Schiffes folgend: zuerst die Häuser der nördlichen Lehmstadt, dann die Flussmündung, dann die ältesten Häuser der Steinstadt mit dem Leuchtturm in ihrer Mitte, dann die prunkvollen Häuser der wohlhabenden Kaufmannsfamilien, das Haus der Khadris-Familie...

Kerim beschloss unvermittelt, unter Deck zu gehen und Taref bei den Vorbereitungen zu helfen, anstatt weiter abzuwarten, bis das Schiff einlief. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es die alles beherrschende alte Festung an der Kanalmündung passiert haben würde, um schließlich am Steinkai seinen vorläufigen Ruheplatz zu finden. Kerim eilte die Treppe hinab unter Deck, wo Taref die Arbeit fast schon beendet hatte. Kerim schaffte es jedoch, diese einfache Tätigkeit noch solange durch Ausräumen und erneutes Packen von Kisten und Koffern hinauszuzögern, bis das Schiff längst am Kai vertäut war.

Als er wieder an Deck kam, sah er dort zu seiner Überraschung inmitten des hektischen Durcheinanders einen Mann, der sich mit Kapitän Yandrol unterhielt, aber nicht zur Besatzung gehörte. Der Neuankömmling war in der farbenfrohen Art der elurnischen Kaufleute gekleidet. Einen Atemzug später erkannte Kerim ihn als seinen Bruder. Khamir hatte sich in den zwei Jahren der Abwesenheit kaum verändert, so dass Kerim sich fragte, weshalb er für einen kurzen Augenblick verwirrt gewesen war. Vielleicht war es einfach dessen plötzliches, unerwartet schnelles Erscheinen an Deck. Vermutlich hatte man Yandrols Schiff schon von weitem erkannt, so dass der Empfang entsprechend vorbereitet werden konnte. Jetzt fielen Kerim auch die Leute in Begleitung seines Bruders auf, die respektvoll Abstand hielten: der unvermeidliche Anhang, bestehend aus mindestens zwei Bediensteten, ohne die kein Kaufmann, der ein gewisses Ansehen genoss, außer Haus gehen würde. Kerim erkannte den Majordomus, der gleichzeitig die Aufgabe eines Leibwächters erfüllte, sowie den Leibdiener seiner Eltern, beziehungsweise nunmehr nur noch seiner Mutter.

Kerim wandte den Blick wieder seinem älteren Bruder zu, der sich bis eben noch mit heiterer Miene mit Kapitän Yandrol unterhalten hatte. Kerim fand diese Fröhlichkeit im Anbetracht der Umstände etwas unpassend, bis er sich erinnerte, dass die Heimkehr des Bruders durchaus ein Anlass zur Freude war.

Khamir hatte seinen kleineren Bruder jetzt entdeckt und kam ihm hastig mit strahlender Miene entgegen. Der Empfang war wie zu erwarten herzlich, fast stürmisch. Kerim musste sich erst wieder an die kräftigen Umarmungen gewöhnen, mit denen man hierzulande seine Freunde und Bekannten zu begrüßen pflegte. Es war erstaunlich, wie schnell ihn diese einfache Geste seine vorherige düstere Stimmung vergessen ließ und ihm bewusst machte, wie sehr er seine Stadt und seine Familie vermisst hatte.

„Kerim, willkommen zu Hause! Zwei lange Jahre! Lass dich ansehen.“ Sein Bruder musterte ihn kurz. „Du bist blass geworden. Dort oben hat die Sonne wohl wirklich nicht sehr viel Kraft. Aber das wird sich ändern. Zuerst werden wir ein großes Festmahl veranstalten. Wir haben uns so viel zu erzählen.“ Khamir schien etwas in Kerims Gesicht zu lesen. „Aber das hat Zeit. Komm, gehen wir zusammen nach Haus, ganz ohne Hast. Möchtest Du am Strand entlang oder durch die Stadt, über den Basar?“

"Das Gepäck und die Waren..."

„Mach dir keine Sorgen, das wird Taref schon allein hinbekommen. Ich habe mit Kapitän Yandrol schon das Wichtigste besprochen. Er ist ein zuverlässiger Mann. Er hat sicher gut auf dich aufgepasst.“

„Ja, er war oft eine große Hilfe. Aber was ist mit der...“

„Ja, ja, ich weiß, Tamur hat sich dessen schon angenommen. Er wird die Urne sicher für uns nach Haus bringen.“

Kerim sah sich um und entdeckte den Majordomus, wie er bereits mit dem in Leinen eingeschnürten Gegenstand in beiden Händen an Deck stand und zu ihnen hinüber sah. Er schien das Gespräch der Brüder gelassen abzuwarten. Kerim wandte sich wieder Khamir zu. Er konnte einen entschuldigenden Tonfall nicht ganz vermeiden, als er sagte: „Es entsprach zwar nicht genau Vaters Vorstellungen über die Zeremonie, aber es war die einzige Möglichkeit, dort eine Bestattung nach den richtigen Riten zu ermöglichen. Es war besser, die Überreste zu überführen. Die Verbrennung habe ich überwacht, sie benutzen dafür auch Brandgruben ähnlich den...“

„Lass es gut sein“, warf Khamir sanft ein, „hier ist nicht der richtige Ort

für solche Gespräche. Ich ziehe es vor, zunächst zu erfahren, wie es meinem lebendigen Bruder ergangen ist. Endlich sind wir wieder vereint.“

Kerim wusste für einen Moment nicht, welche Worte er wählen sollte, um das Gespräch fortzusetzen. Schließlich sagte er etwas unbeholfen: „Ich bin auch froh, wieder bei euch zu sein. Natürlich bin ich neugierig, was ihr - du mir zu erzählen hast.“

„Komm erst einmal von Bord, wir wollen den Männern nicht im Weg herumstehen.“ Khamir legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter und schob ihn sanft in Richtung der Planke, die auf den Steinkai führte. Als sie auf das Ufer zugingen, deutete Kerim auf die Kogge zu ihrer Linken und fragte: „Wie oft laufen Schiffe der Tenarsons hier ein?“

Khamir schien kurz über etwas zu grübeln, antwortete dann aber wie beiläufig: „Ach, das ist ein Kommen und Gehen, fast das ganze Jahr über. Außer natürlich im Winter, wenn die Winde ungünstig sind.“

„Schattenzeit“, murmelte Kerim.

„Was?“

"Die Urdländer nennen es die Schattenzeit. Die kälteste Zeit im Jahr. Sie unterscheiden sechs Jahreszeiten, nicht vier. Aber das weißt du wohl schon.“

„Ich habe davon gehört. Nun, am Strand entlang oder über den Basar?“ Sie waren an der Hafenmauer angekommen.

"Ich würde gern durch die Stadt gehen." Dieser Weg würde länger dauern, was Kerim entgegenkam. Er musste sich eingestehen, dass er das zwanglose Geplauder mit seinem Bruder durchaus genießen konnte. Außerdem brannte er tatsächlich darauf, wieder durch das Gewimmel seiner Heimatstadt zu gehen und sich dabei an die Farben, die Geräusche und die Gerüche zu erinnern.

Sie schlugen den Weg in die Hafenstraße ein, die sie direkt zum Basar führen würde. An der zweiten Kreuzung kamen sie an einem Bettler vorbei, der an der Ecke im Schatten eines der neuen Steinhäuser auf der Südseite der Straße saß. Für Kerim war dies ein gewohnter Anblick, den er auch während seines Aufenthalts in der Stadt Imgalion hoch im Norden nicht hatte entbehren müssen. Der einzige Unterschied war, dass der Bettler hier in der üblichen Art der Inselleute gekleidet war. Er war der erste, den Kerim nach seiner Ankunft zu Gesicht bekam. Da er zur Linken seines Bruders ging, kam er nah an dem Mann vorbei, so dass dieser ihn ansprach. Zumindest glaubte Kerim das, als der Bettler murmelte: „Ein Almosen gegen das Verderben. Die Flut kommt.“

Kerim war nicht sicher, ob es wirklich das war, was er gehört zu haben glaubte. Er blieb stehen und wandte sich dem Bettler zu. „Was habt ihr gesagt?“

Der Bettler erhob nun leicht den Kopf. Die obere Hälfte seines Gesichts war zuvor durch das tief hinunter gezogene Kopftuch verborgen gewesen, doch nun erkannte Kerim zweierlei: Der Bettler war zwar schmutzig und ausgemergelt, doch noch recht jung. Die vermutliche Ursache für seinen erbärmlichen Zustand wurde nun sichtbar. Er war mit Blindheit geschlagen, allerdings wohl nicht von Geburt an. An der Stelle, wo seine Augen sein sollten, war grausig vernarbtes Gewebe zu sehen. Er sprach jetzt etwas deutlicher. "Bitte ein Almosen für einen dem Verderben anheim gefallenen Mann. Die Götter werden es euch danken.“

Kerim erwiderte nichts, sondern grübelte darüber nach, was der Bettler zuvor gesagt hatte. Mit Sicherheit hatte er seine Worte nicht genau wiederholt. Es schien fast unmöglich, dass jemanden seine Ohren so sehr täuschen konnten. In Gedanken versunken holte Kerim eher unbewusst seinen Geldbeutel aus seinem Gewand hervor. Überraschend schritt sein Bruder nun ein und griff nach seinem Arm. "Lass das sein, komm weiter." Er riss Kerim förmlich mit sich, als er, zwar nicht eilend, aber doch entschlossenen Schrittes, den Weg zum Basar fortsetzte. Bevor Kerim etwas sagen konnte, erklärte er: "Chulefan hat das Betteln innerhalb der Steinstadt verboten. Nicht nur die Bettler, auch diejenigen, die dort Almosen geben, werden bestraft."

Kerim ging einen Augenblick schweigend weiter, bevor er fragte: "Aber welchen Sinn soll dieses Gesetz haben? Man hat hier doch immer Almosen gegeben."

"Du weißt doch wie das ist. Fürst Chulefan folgt oft seinen Launen bei solchen Erlässen. Es lohnt sich nicht, nach dem Grund zu fragen. Aber wir sollten uns bei einem Gesetzesverstoß lieber nicht sehen lassen."

Kerim war verwundert. „Wer soll uns denn hier beobachten? Außerdem, was könnte denn schlimmstenfalls passieren?“ Die Angst seines Bruders wegen dieser Lappalie kam ihm geradezu lächerlich vor und passte gar nicht zu dessen Charakter.

„Vielleicht bist Du nicht ganz im Bilde, dass wir bei der Herrscherfamilie zur Zeit nicht besonders gut angesehen sind.“ Khamir schwieg einen Augenblick. Etwas schien in ihm zu arbeiten. Er fuhr fort: „Außerdem sollte man heute nicht mehr jede Art von Pack unterstützen. Die Zeiten haben sich geändert.“

Für Kerim hörte sich das wie eine lahme Ausrede an, um von dem wahren Grund abzulenken. Er hätte nie gedacht, seinen lebensfrohen Bruder einmal über den Verfall der Sitten nörgeln zu hören wie einen greisen Priester des Asal. Außerdem passte derartige Knauserigkeit nicht zu Kerims Bild von den Gebräuchen seiner Inselheimat. Er knüpfte an das vorherige Thema an. "Wie sehr mischen sich die Tenarsons in die Stadtpolitik ein?"

"Genug, um es nicht vor den Augen der Einheimischen verbergen zu können, wie du vielleicht an der stolzen neuen Erweiterung unseres Hafens sehen konntest."

"Soll das heißen, die Pavatras haben den Kai auf eigene Kosten gebaut?"

"Wusstest du das nicht? Wie sagt man bei euch oben in Urdland? Eine Hand wäscht die andere. Ein kleines Entgegenkommen für den Reichtum, den die Geschäfte der Tenarsons in die fürstlichen Schatzkammern strömen lassen."

Inzwischen hatten sie den Basar erreicht. Die Luft war hier, im Gedränge schwitzender Körper, noch stickiger als in der übrigen Stadt. Hinzu kamen die Angriffe der Fliegen und Bremsen, ein weiteres Erkennungszeichen der Städte im Süden, aber eines, das Kerim nicht unbedingt vermisst hatte. Das Ungeziefer verfolgte die Brüder schon seit Betreten des Hafens, doch hier im Gemisch verschiedenster, teils angenehmer, doch größtenteils abstoßender Gerüche, schien die wahre Heimat dieser Quälgeister zu sein.

Sie schlugen den Weg nach Norden zur Kanalbrücke ein, der sie über den nördlichen Teil des Basars führen würde. Der Markt, auf dem Lebensmittel, Stoffe, Haustiere und Dinge des täglichen Bedarfs verkauft wurden, zog sich in der Form eines Halbmonds um den südwestlichen Teil die Steinstadt und trennte diesen Kern Pavats somit von der Lehmstadt, der Ansammlung an Häusern und Hütten, aus denen sich die Außenbezirke zusammensetzten. Die unregelmäßige Front dieser gelblich-braunen Behausungen war über den bunten Baldachinen der Verkaufsstände zur Linken zu sehen. Als Kerim den Blick durch die Schatten darunter schweifen ließ, aus denen ein ständiges Stimmengewirr drang, stellte er nach einiger Zeit fest, dass sich auch im Warenangebot die neuen Zeiten bemerkbar machten. Zwischen den gewohnten Anblicken der Stände der Vogelhändler, die Grudars, Zamivus oder Orluri-Falken feilboten, preiste zumindest einer mit lauter Stimme exotische Tiere vom Festland an, hauptsächlich wohl Katzen und Hunde.

"Ich habe Dich noch gar nicht gefragt, ob du eine angenehme Reise hattest", fragte Khamir.

"Ich kann mich nicht beklagen. Das Wetter war sogar die meiste Zeit ausgezeichnet, und wir wurden von bösen Überraschungen verschont."

"Du meinst damit Seeräuber, nehme ich an?" Kerim nickte. Sein Bruder fuhr fort: "Jetzt, da der Schiffsverkehr nach Urdland durch die Handelsverbindungen immer mehr zunimmt, wäre ein Schiff wie unseres schon ein dicker Brocken für dieses Gesindel gewesen, hätten sie davon erfahren."

"Wir hatten Glück. Wir kamen der Inselgruppe ziemlich nah, auf der sie ihre meisten Stützpunkte haben. In Imgalion habe ich gehört, dass während des letzten Jahres fast ein Dutzend Schiffe auf diesem Seeweg verschwunden sind."

"Irgendwann wird eine von beiden Seiten Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Auf die Dauer kann es so nicht weitergehen. Übrigens haben wir hier in den südlichen Gewässern während deiner Abwesenheit ebenfalls Probleme mit verschwundenen Schiffen bekommen."

"Das wundert mich nicht. Es fahren ja auch viel mehr Schiffe zwischen den Inseln und dem Festland als früher, sogar hinunter bis Onsaria. Es ist fast schon seltsam, dass die Piraterie nicht viel früher angefangen hat."

"Halte mich nicht für verrückt, aber ich wäre fast froh, wenn sich herausstellen würde, dass wirklich nur Seeräuber dahinterstecken."

Kerim sah seinen Bruder verwundert an. "Das musst Du mir erklären."

"Nun ja, es hat vor kurzem böse Omen gegeben. Es sind nur Gerüchte, aber anscheinend hat Kedran Maresi mit dem Herrscher über bestimmte Zeichen gesprochen. Die Asal-Priester machen die Stadt verrückt mit ihren Andeutungen. Es gab keine Verlautbarung, jedenfalls noch nicht, aber offenbar hat Chulefan die Warnungen ernst genommen. Es gab eine Reihe merkwürdiger Erlässe, wie das Bettelverbot, von dem ich dir erzählt habe. So etwas geschieht doch meistens, wenn Kedran mal wieder schlecht geträumt hat."

"Du nimmst das also nicht wirklich ernst?"

"Für uns wäre es besser, wenn sich die Lage so schnell wie möglich entspannen würde, bevor der Handel davon beeinträchtigt wird. Du weißt ja, ich bin immer zuversichtlich in solchen Dingen. Daher hoffe ich, dass sich bald herausstellt, dass nichts Ernstes dahintersteckt."

Die Brüder gingen eine Weile schweigend weiter. Sie hatten jetzt den Basar verlassen und gingen auf die Kanalbrücke zu, hinter der die Altstadt lag. Nachdem sie die Brücke überquert hatten, nahmen sie das Gespräch wieder auf, plauderten aber nun über leichtere Themen. Sie gingen über den Tempelplatz in nördlicher Richtung, bogen an der zweiten Kreuzung nach links ab und dann wieder nach Norden. Als sie endlich an ihrem Haus angekommen waren, hatte Khamir seinen kleinen Bruder wieder auf den neuesten Stand gebracht, was das Geschehen in der Stadt Pavat betraf. Kerim redete wenig. Er nahm an, dass sein Bruder sich das Verhör über Kerims Erlebnisse in Urdland für die größere Runde zu Hause aufsparte, bei der der gesamte männliche Teil der Familie anwesend sein würde.

Tatsächlich hatten sich seine Verwandten bereits in der Eingangshalle und im Innenhof zum Empfang eingefunden. Sein Onkel Anduri kam ihm als Erster entgegen. Der grauhaarige kleine Mann war auch im Halbdunkel des Hauses unverwechselbar, weil sein Gesicht immer noch so glattrasiert war, wie Kerim es seit seiner Kindheit kannte. Der Bruder seines verstorbenen Vaters hatte es stets abgelehnt, einen Bart zu tragen, wie es für einen Mann seines Standes eigentlich üblich war. Er sah somit eher wie ein Hausdiener oder wie ein Fremder aus Terengan aus. Auch seine Kleidung war passend dazu von auffälliger Schlichtheit; auffällig wegen des Gegensatzes zu seinem selbstbewussten Auftreten, das keinen Zweifel daran ließ, dass er ein Herr und kein Diener war. Wie sein Bruder und dessen erstgeborener Sohn verfügte er über die Fähigkeit, einen Raum mit Menschen völlig zu beherrschen, wenn er dies wünschte. Trotz seines einnehmenden Charakters war er Kerim aber sonst immer als rücksichtsvoller und bescheidener Mann erschienen. Er selbst hatte von ihm die Angewohnheit der Bartlosigkeit übernommen, nicht aber die Gabe, Gespräche mit Leichtigkeit an sich zu reißen.

Anduri fragte nach dem Verlauf der Reise, Kerims Gesundheit und seinem sonstigen Befinden und schien im Allgemeinen vorerst noch nicht über geschäftliche Dinge sprechen zu wollen. „Du musst sehr erschöpft sein. Ich habe Sinaf angewiesen, ein Bad für dich vorzubereiten. Ich kann mir denken, dass du dich danach sehnst, den Schmutz der Seereise abwaschen.“

Kerim kam kaum zu Wort, weil seine Verwandten ihn der Reihe nach mit ihren Willkommensgrüßen und danach mit ihren Fragen bestürmten. Am erdrückendsten war die Umarmung seiner Mutter Kenola, der die Trauer über den Abwesenheit ihres Ehemannes während dieses Empfangs nicht anzusehen war. Während der kommenden Trauerfeier würde sich dies aber mit Sicherheit ändern.

Nachdem Kerim das Begrüßungsritual auch mit seiner Tante Mihrema, Anduris Frau, hinter sich gebracht hatte, trat er aus der schattigen Empfangshalle in den etwas helleren Innenhof. Wie bei allen größeren Häuser in Pavat war der Innenhof ein unverzichtbarer baulicher Bestandteil. Im Zusammenspiel mit den offenen Fenstern in der Südseite des Hauses wirkte er wie ein Kamin, der ständig frische Luft hereinsog und für damit für Kühlung sorgte. Im Erdgeschoss war der Hof von schattigen Arkaden umgeben, direkt darüber im ersten Stock befanden sich auf drei Seiten Galerien, über die man die Gemächer erreichen konnte. Auf die mittlere Galerie führte eine breite Treppe, der Kerim nun gegenüberstand.

Vor der Treppe hatten sich seine übrigen weiblichen Verwandten aufgestellt: Ayanla, Khamirs Frau, und Sheza, die Tochter Anduris und Mihremas. Auf das Wiedersehen mit Sheza hatte sich Kerim am meisten gefreut. Mit ihrer lebhaften und aufgeweckten Wesensart hatte sie Kerim seit ihrer Geburt für sich eingenommen. Obwohl er sich hütete, dies jemals laut zu sagen, hatte er Sheza gegenüber Khamir immer als Spielkameradin vorgezogen. Sie waren noch zusammen durch das Haus getobt, als Kerim eigentlich schon zu alt für derart wilde Spiele war. So oft es ging, und das war selten genug, schlichen sie sich zusammen aus dem Haus und erkundeten die Stadt. In den letzten Jahren war ein weiterer Spielgefährte hinzugekommen, der Sheza nie von der Seite wich: ein kleines Kropona-Äffchen, das ihr Anduri zu ihrem 14. Geburtstag geschenkt hatte. Das Haustier musste Sheza bald öfter trösten, weil Kerim nun tatsächlich begann, sich für zu erwachsen für ihre früheren Spiele zu halten. Der Hauptgrund für das allmähliche Lösen ihrer einst so engen Beziehung war jedoch ein anderer: Kerim hatte eine andere Person getroffen, mit der er nun seine meiste Zeit verbrachte. Dennoch waren Sheza und Kerim bis zu seiner Abreise immer noch vertrauter miteinander als mit allen anderen Familienmitgliedern. Sie vertrauten sich ihre Geheimnissee an und mussten nur einen Blick austauschen, um ihre Gedanken zu erraten. Kerim wollte Sheza gerade als Erste umarmen, um herauszufinden, wie sehr sich das Mädchen während seiner Abwesenheit verändert hatte, als sein Blick auf den kugelrunden Bauch seiner Schwägerin Ayanla fiel.

Nach einem Augenblick der Verblüffung wandte er sich zu seinem Bruder um. „Khamir, du Mistkerl...“ Der Angesprochene lachte ihn still an. Die Umstehenden taten es ihm daraufhin gleich. "Du hast es also nicht für nötig gehalten, dieses Thema einmal kurz zu erwähnen?“ frage Kerim mit gespielter Wut.

„Deinen Gesichtsausdruck wollte ich mir einfach nicht entgehen lassen, kleiner Bruder und demnächst Onkel.“

Kerim wandte sich wieder den jungen Frauen zu. „Nun ja, die Überraschung ist dir gelungen. Gut zu wissen, dass du in der Beziehung immer noch der Alte bist.“

Nun konnte sich auch Kerim ein Grinsen nicht mehr verkneifen. „Meinen Glückwunsch, Schwägerin“, sagte er, als er mit ausgebreiteten Armen auf Ayanla zuging.

„Ich danke dir, Kerim“, antwortete sie, „und herzlich willkommen. Wir haben dich wirklich vermisst. Nimm meinem Mann diesen Streich nicht übel“ sagte sie, wobei sie kurz einen nicht ganz ernst gemeinten vorwurfsvollen Blick in Khamirs Richtung warf. „Er ist sehr stolz darauf, jetzt endlich ein Erben zu bekommen.“

Kerim erinnerte sich an das Ereignis, auf das sie anspielte. Es war nicht ihre erste Schwangerschaft. Schon vor seiner Abreise hatte sie ein Kind geboren, das aber kurz nach der Geburt im Kindbett gestorben war. Solche frühen Tode waren zwar im allgemeinen keine Seltenheit, selbst bei der sehr guten ärztlichen Versorgung, die sich die wohlhabenden Familien leisten konnten, doch warf es damals einen Schatten auf die bevorstehende Unternehmung. Es wurde als schlechtes Omen für die Fahrt und die Verhandlungen in Urdland angesehen. Auch wenn dies kaum jemand offen aussprach, musste man kein Gedankenleser sein, um zu wissen, was damals in den Köpfen seiner Verwandten vorging.

Dabei fiel Kerim jetzt ein, dass man das tragische Ereignis im Nachhinein tatsächlich als schlechtes Vorzeichen deuten konnte. Immerhin war das Familienoberhaupt der Helessans fern der Heimat gestorben, in einem Land voller fremder Barbaren. Sollte sich diese Kette von Unglücksfällen vielleicht noch fortsetzen? Hatten sie womöglich alle einen völlig falschen Weg eingeschlagen?

Eine helle Stimme riss ihn aus dem düsteren Gedankengang, der ihn gegen seinen Willen heimgesucht hatte.

„Ich glaube, du hast sie lange genug umarmt, kleiner Mann.“ Shezas Stimme vollbrachte das kleine Wunder, ihn sofort wieder in eine fröhliche Stimmung zu versetzen. Er war froh, dass durch die Umarmung niemand seine plötzlich ernste Miene bemerkt hatte. Fast ein wenig zu heftig löste er sich von Ayanla, um sich dem Mädchen zuzuwenden, das nunmehr schon eine junge Frau war, wie er bemerkte.

„Aber, aber, Sheza“, erwiderte er, als er ihr lächelnd gegenüberstand, „mit mir bist Du immer noch nicht auf Augenhöhe, obwohl du aufgeholt hast.“

Tatsächlich war Sheza während der zwei Jahre gewachsen. Zudem hatte ihre Schönheit mit dem Erblühen zur Frau noch zugenommen. Sie trug ihre Haare jetzt etwas länger. Aber noch etwas anderes fiel ihm auf. Ein ernster, oder vielleicht sogar trauriger Gesichtszug stahl sich zwischen ihr Lächeln.

„Ich habe dafür aber noch Zeit“, sagte Sheza, „du siehst aber so aus, als ob Du während der Reise noch geschrumpft wärest.“

Als sich Kerim aus ihrer Umarmung gelöst hatte, fragte er: „Wo ist denn dein Begleiter, der kleine Kneifer?“

„Ach, der ist vor ein paar Monaten gestorben.“ Nun setzte sie einen eindeutig betrübten Gesichtsausdruck auf.

„Das tut mir sehr leid. Vielleicht schenkt dir Onkel Anduri einen anderen?"

„Ach, ich weiß gar nicht, ob ich noch mal ein Haustier haben möchte“, erwiderte Sheza, während sie düster ins Leere starrte.

Kerim wunderte sich. Sie hatte ihren Affen zwar sehr geliebt, doch dass ihr der Verlust noch nach Monaten so nahe gehen würde, hätte er nicht gedacht.

Irgendwann rang sie sich jedoch wieder ein Lächeln ab, und sie scherzten noch ein wenig miteinander, bis sich Kerim wieder seinem Onkel zuwandte. „Du hattest etwas von einem Bad erwähnt, Anduri?“

Sein Onkel lachte. „Ich hoffe, dass es nicht schon kalt ist. Lass Dich nicht aufhalten. Wir erwarten Dich dann wieder zum Abendessen in einer Stunde.“ Dies war das Zeichen für die Familienmitglieder, die Versammlung aufzulösen.

Kerim verbrachte lange Zeit im Bad, das er überaus genoss. Er schaffte es, die düsteren Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen und sich stattdessen der angenehmen Leere des Halbschlafs zu ergeben.

Als er das Bad verließ, begab er sich in den ersten Stock, wo sein Zimmer lag. Es war ein schmaler Raum auf der Nordseite der Galerie in der Nähe des Zimmers seines verstorbenen Vaters.

Als er es betrat, stellte er fest, dass es fast so aussah, wie er es in Erinnerung hatte. Möglicherweise hatte er es etwas unordentlicher verlassen, doch es schien noch alles an seinem Platz zu sein. Die Truhe mit seinem Reisegepäck stand bereits in einer Ecke des Raumes. Also war Taref schon vor ihm eingetroffen. Da er noch etwas Zeit bis zum Abendessen hatte, vertrieb er sie sich damit, die Dinge zu betrachten, die er in seinem Zimmer zurückgelassen hatte. Zufällig fiel ihm ein Lederbeutel mit klackenden, kleinen Gegenständen in die Hände. Es handelte sich dabei um sein altes Sigeca-Spiel. Er schüttete die sechs großen Würfel auf sein Bett, ein jeder mit einem anderen kunstvoll geschnitzten Bild auf jeder seiner sechs Seiten verziert. Als Kerim noch klein war, hatte er das Würfelspiel unter den Habseligkeiten seines Vaters entdeckt. Als dieser bemerkte, wie fasziniert sein Sohn immer wieder die rätselhaften Bilder auf den Würfeln betrachtete, schenkte er ihm das Spiel. Jeden Erwachsenen, der geduldig genug war, fragte Kerim nach den verschiedenen Spielregeln und Wurfmethoden aus, von denen es unendlich viele zu geben schien. Als er mitbekam, dass Sigeca auch zum Wahrsagen benutzt wurde, regte das seine Fantasie noch mehr an. Er konnte nicht sagen, wie oft er mit Sheza zum Würfelspiel zusammengesessen hatte. Diese Gegenstände riefen, wie zuvor die Geräusche und Gerüche des Hafens, viele Erinnerungen in ihm wach.

Aus einer Laune heraus entschloss er sich, die Würfel zu werfen. Er warf sie einzeln nacheinander auf das Bett, nach der Methode, die "Weg" oder "Fahrt" genannt wurde. Der Elementewürfel, den er zuerst warf, zeigte auf der Oberseite Wellenlinien. "Wasser", murmelte Kerim, "davon habe ich erst einmal genug." Der Tierwürfel kam mit dem Bild des Kraken zum liegen. Kein gutes Zeichen. Es folgte der Menschenwürfel, der das Bild des Bettlers zeigte. Unwillkürlich erinnerte sich Kerim wieder an die seltsame Begegnung auf der Straße zum Markt. Er ärgerte sich darüber, dass er nun gegen seinen Willen wieder ein leichtes Unbehagen niederkämpfen musste. Er rollte den nächsten Würfel auf das Bett. Das Bild des Schlüssels kam zu Vorschein. Es folgte der Orte-Würfel, der das Motiv des Schiffes zeigte. Auch darauf kann ich erst einmal verzichten, dachte Kerim. Der Ereignis-Würfel blieb mit dem Bild einer leicht gebückt gehenden Gestalt liegen, die eine Laterne trug. Dies war das Symbol für „Suche“. Als letztes warf Kerim den Himmelswürfel auf das Bett, der ihm den „Neumond“ auf seiner Oberseite zeigte. Kerim betrachtete die Bilder stirnrunzeld. Alles in allem kein glückliches Omen. Er sammelte die Würfel wieder in den Beutel und verschnürte ihn.

Er vertrödelte die übrige Zeit bis zum Abendessen in seinem Zimmer, ging dann die Galerie entlang zur gegenüberliegenden Seite des Hauses und betrat das Esszimmer. Er roch den Duft von Speisen, wie er sie in dieser Form seit zwei Jahren nicht mehr genossen hatte. Er konnte nicht vermeiden, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Der Anblick der dort aufgetragenen und lange vermissten Gerichte trug sein Übriges bei. Er musste sich erst wieder daran gewöhnen, die Hauptmahlzeit in den Abendstunden einzunehmen. Doch er ging nicht davon aus, dass ihm die Umstellung besonders schwer fallen würde.

Seinen Verwandten entging sein außerordentlicher Appetit nicht.

„Wenn man sieht, wie du dein Essen schlingst, müsste man annehmen, dass du die ganze Zeit nicht in einem anderen Land, sondern auf einer verlassenen Insel verbracht hast“, zog ihn sein Bruder auf. „War das Essen dort oben so schlecht?“

„Am meisten habe ich die Gewürze vermisst“, erwiderte Kerim. „Es waren zwar oft dieselben Bestandteile wie bei uns, nur so fad“, sagte er mit vollem Mund. „Das soll aber nicht heißen, dass alles dort furchtbar war. Es gab ein paar Speisen, die ich noch nie probiert hatte und die mir sehr gut schmeckten. Zum Beispiel eine Frucht, die sie Birne nennen.“

„Chadim musste dort oben noch mehr gelitten haben als du.“ sagte Mihrema. „Er hatte immer einen etwas empfindlichen Magen. Es würde mich nicht wundern, wenn es letztlich das Essen war, das ihn so krank gemacht hat“, setzte sie hinzu. Dann verzog sie leicht das Gesicht, als ob sie das Gesagte bereute.

Nach einer kurzen, unangenehmen Pause nahm Anduri das Gespräch wieder auf. „Es ist sehr schade, dass er jetzt nicht bei uns sein kann. Er hätte sicher auch sehr viel zu erzählen.“ Er wandte sich Kerim zu. „Auch wenn es vielleicht nicht das richtige Thema am Esstisch ist, würde ich doch gern etwas mehr über die Umstände seines Todes wissen. Nur ein paar Einzelheiten mehr, als du uns geschrieben hast. Dann können wir uns gern wieder angenehmeren Dingen zuwenden.“

Kerim sah seinen Onkel fragend an. Anduri fuhr fort: „Du hattest geschrieben, dass du über Chadims Sturheit wütend warst. Es hatte etwas mit der Behandlung zu tun, nicht war?“

„Ja, ich meinte damit, dass die Möglichkeit bestand, ihn vielleicht doch noch zu retten, wenn er gewollt hätte.“ Er seufzte. „Vater war zwar bereit, sich für fremde Gebräuche zu öffnen, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, den er nie überschritt. Die Ärzte und Kräuterkundigen, die ihm unsere Gastgeber zur Verfügung stellten, ließ er bereitwillig ihre Arbeit machen. Aber die Behandlungen wirkten nicht, all die Kuren und Eingriffe und Mischungen. Wer wirklich hätte helfen können, wären ihre Priester gewesen. Aber er verweigerte ihnen standhaft, sich ihm zu nähern. Er würde nur Priester Asals oder Eyras an sich heranlassen, sagte er, und lieber sterben, als dagegen zu verstoßen.“ Kerim sah düster vor sich hin. „Das hat er dann ja auch geschafft. Aus dem gleichen Grund habe ich auch die Asche mitgebracht. Damit er nicht in einem ungeweihten Grab liegt.“

Es folgte ein weiterer Augenblick betretenen Schweigens, bis Anduri in nüchternem Tonfall sagte:

„Gleich morgen früh werde ich zum Tempel Asals gehen und mit Kedran Maresi den Zeitpunkt der Totenfeier vereinbaren. Dann werden wir damit beschäftigt sein, alle Gäste einzuladen."

Für den Rest des Abendessens kam kein richtiges Gespräch mehr zustande. Obwohl immer wieder jemand ein unverfängliches Thema anschnitt, waren alle Anwesenden zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um angeregt plaudern zu können. Schließlich erhob sich Anduri als erster, der sich, dicht gefolgt von Khamir, in das Erdgeschoss hinab begab. Sie würden im Geschäftszimmer auf Kerim warten. Er selbst wünschte den Frauen noch eine gute Nacht, um dann ebenfalls die Treppe hinabzusteigen.

Inzwischen war die Dämmerung angebrochen, und auf der Galerie und im Innenhof war es schon sehr dunkel. Aus der Tür des Geschäftszimmers kam ein schwacher, rötlicher Schein von Kerzenlicht. Doch trotz der brennenden Kerzen und des restlichen Tageslichts, das durch das schmale Fenster hereinkam, lag der Raum, den Kerim nun betrat, im Halbdunkel. Der Kerzenschein betonte die Konturen der Anwesenden, das kantige Gesicht seines Bruders und den zerfurchten Halbmond der beleuchteten Gesichtshälfte seines Onkels.

Nachdem Kerim die Tür hinter sich geschlossen hatte, bemerkte er, dass die Urne mit der Asche seines Vaters auf dem Tisch an der Wand stand. Also waren damit tatsächlich alle männlichen Mitglieder der Familie anwesend, zumindest der letzten zwei Generationen. Kerim fragte sich, ob dies beabsichtigt war oder nur ein Zufall. Alle drei Verwandten Kerims schwiegen erwartungsvoll. Er begann ohne Umschweife:

„Wie ihr wisst, hat Vater bereits den Vertrag mit der Familie Kjelbing unterschrieben. Auch die Art und Menge der Handelsgüter ist schon besprochen. In den Briefen haben wir diesen Punkt vorsichtshalber nicht ausführlich dargestellt. Immerhin können diese Handelsbeziehungen allein schon durch ihren Umfang die Machtverhältnisse gewaltig verschieben, und zwar sowohl in Urdland wie auch hier auf Elurna.“ Er machte ein Pause und holte tief Luft. „Hinzu kommen noch andere Begleitumstände, die etwas ... verzwickt sind.“

Khamir und Anduri tauschten einen kurzen Blick aus, bevor letzterer sagte: „Dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, darüber zu sprechen. Hier bei uns haben sich auch einige Dinge ergeben, die vielleicht Einfluss auf die geplanten Geschäfte haben könnten. Es ist besser, du erfährst es so schnell wie möglich.“

Kerim setzte zu einer Frage an, als Anduri ihm mit einer Geste Einhalt gebot. „Eins nach dem Anderen. Wir kommen sicher schneller voran, wenn wir bei der Sache bleiben.“

„Also gut. Dann fange ich mit dem Teil an, von dem ihr das Wichtigste schon wisst. Wir erhalten die Erlaubnis, Handelsgüter nach Urdland einzuführen, sind dabei aber auf den Hafen von Imgalion als Anlaufpunkt beschränkt. Außerdem haben sich die Kjelbings zusichern lassen, dass sämtliche Waren immer zuerst ihrem Haus angeboten werden müssen. Nur das, was sie uns nicht abnehmen, können wir anderweitig verkaufen. Allerdings, wie gesagt, nur in Imgalion.“

„Das scheint mir ein unverhältnismäßig großer Vorteil für die Kjelbings zu sein“, warf Khamir ein. „Was hindert uns daran, ihre Bedingungen einfach zu umgehen?“

Kerim beeilte sich zu antworten: „Erstens sind wir Fremde in Urdland, und derartige Vorgehensweisen würden immer bekannt werden. Die Kjelbings würden sich auch nicht mehr an den Vertrag gebunden fühlen. Sie zu verlieren wäre schlecht. Sie sind die reichste Kaufmannsfamilie in Imgalion und zahlen sehr gut für unsere Waren. Eine derart sichere Einnahmequelle finden wir nur schwer wieder, zumal sie die Macht haben, den Hafen von Imgalion für uns völlig zu sperren.“

„Wie ist das möglich?“ fragte Khamir. „Ich dachte, sie seien nur Kaufleute wie wir, keine Patriarchen. Du erwähntest doch, das ganz Urdland von einem König regiert werde.“

„Die Sache ist etwas komplizierter“, antwortete Kerim mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. „Imgalion ist eine sogenannte freie Stadt, die gegenüber dem König gewisse Rechte besitzt. Er darf sich nicht direkt in ihre Angelegenheiten einmischen. Die Stadt wird von einem Rat regiert, dem für gewöhnlich Mitglieder besonders reicher Familien angehören. Diesem Rat steht wiederum ein sogenannter Bürgermeister vor, der so etwas wie ein Patriarch ist, nur dass er von den übrigen Ratsherren gewählt und nicht als Erbe in diese Stellung eingesetzt wird. Und die letzten drei Bürgermeister kamen aus der Familie Kjelbing. Andrig Kjelbing ist also mehr als ein reicher Kaufmann.“

„Soweit war uns das aus den Briefen auch mehr oder weniger bekannt“ meldete sich Anduri nun zu Wort. „Wir sollten besser zum Wesentlichen kommen.“ Die ruhige Stimme des Onkels ließ trotz dieser Worte keine Ungeduld erkennen.

Kerim holte wiederum tief Luft. „Also, die Kjelbings sind hauptsächlich an Gewürzen von den Inseln interessiert. Dies wird den größten Teil unserer Lieferungen ausmachen. Darüber hinaus verpflichten wir uns aber, ein bestimmtes Kontingent an Schiffen zu liefern.“

Khamir stutzte kurz, während er wahrscheinlich darüber nachdachte, ob er richtig verstanden hatte. „Schiffe? Was für Schiffe? Schiffe mit welcher Ladung?“

Kerim konnte nicht verhindern, sich innerlich ein wenig über seinen Bruder zu amüsieren. Er hatte diese Frage erwartet. „Hauptsächlich einfach nur Schiffe. Wenn es uns möglich sein sollte, sie noch mit Söldnern zu bemannen, wäre es umso besser.“

„Was?“ Die Reaktion seiner Verwandten kam fast gleichzeitig.

„Ihr werdet es gleich verstehen. Wir bekommen bares Silber von den Kjelbings dafür, dass wir Dhaus von allen erreichbaren Inseln des Westens aufkaufen und in den Norden bringen lassen. Diese Dhaus sind für einen Hafen nördlich von Imgalion bestimmt, der erst vor einigen Jahren erbaut - oder ausgebaut - wurde. Dort soll in kürzester Zeit eine große Flotte entstehen.“

Kerim bemerkte jetzt die Trockenheit in seinem Mund, die seine Aussprache zunehmend heiser gemacht hatte. Da jedoch kein Wasser in Reichweite war, räusperte er sich und fuhr fort:

„Der Grund für den Bedarf der Urdländer an hochseetüchtigen Schiffen ist jetzt erst einmal von nicht allzu großer Bedeutung für uns, außer dass ein erfolgreicher Abschluss dieser Unternehmung unserer Famile auch weiterhin fruchtbare Handelsbeziehungen mit Urdland garantieren wird.“ Ich werde es euch später noch erläutern. Vorher sollten wir über die übrigen Bedingungen des Vertrages sprechen.“

„Nun gut“, stimmte sein Onkel etwas zögrendzu, wobei nun ein Anflug von Argwohn, oder vielleicht eher Wachsamkeit, in seiner Stimme lag. „Dann fahre fort.“ Die schattige Gestalt seines Bruders zeigte keine Regung. Er hätte genauso gut gespannt und aufmerksam wie in Gedanken versunken sein können.

Kerim holte tief Luft und setzte seinen Bericht fort:

„Wie ich schon sagte, bekommen wir das Recht, in Imgalion frei Handel treiben zu können, nur mit der Einschränkung, dass wir jegliche Waren zuerst den Kjelbings anbieten müssen, und nur in dem Fall, dass sie keinen Bedarf haben, uns nach anderweitigen Abnehmern umsehen können. Damit will Andrig natürlich in erster Linie die Oberhand bei den Geschäften in Imgalion behalten. Zudem will er damit verhindern, dass die Famile Tenarson einen Fuß in das Geschäftsleben der Stadt bekommt.“

Bei den letzten Worten bemerkte Kerim, dass seine Zuhörer aufmerkten und Blicke wechselten. Unbeirrt sprach er weiter: „Es besteht eine Rivalität zwischen beiden Familien. Die Tenarsons sind so ziemlich die älteste Kaufmannssippe in Urdland. Sie stammen aus Tanira, einer alten Hafenstadt noch viel weiter im Norden als Imgalion. Inzwischen haben sie in nahezu jeder Küstenstadt ein Kontor, wie ihr vielleicht schon wisst. Sie sind ja bis jetzt auch die einzigen Urdländer, die hier in Pavat einen Stützpunkt besitzen. Andrig hat jede Handelsniederlassung mit seinen Brüdern, Söhnen, Neffen und sonstigen Familienmitgliedern bemannt. Sie beherrschen schon fast den gesamten Seehandel nördlich von hier. Und das bedeutet, dass wir Glück haben, mit den Kjelbings Geschäfte machen zu können. Denn sonst müssten wir uns wohl nach den Bedingungen der Tenarsons richten, und die sind in einer sehr viel besseren Ausgangslage als wir. Unser jetziger Vertrag ist also wirklich zu beiderseitigem Vorteil.“

Kerim unterbrach seinen Redefluss, um die Nachricht wirken zu lassen und seinen Verwandten Zeit für Fragen zu lassen.

„Das bringt uns in eine schwierige Lage“, sagte Anduri.

„Allerdings“, pflichtete Khamir bei.

Kerim war von dieser Reaktion überrascht. Anduri kam jedoch seiner Frage zuvor: „Es geht dabei um das, was ich vorhin erwähnte, die neuen Umstände, die sich hier ergeben haben.“ Er machte eine kurze, wirkungsvolle Pause. „Es haben in den letzten Monaten Gespräche zwischen unserer Familie, das heißt hauptsächlich mir, und den Tenarsons stattgefunden.“

„Seltsam“, warf Kerim ein, „dass sich die Tenarsons überhaupt mit uns befassen. Wir sind doch nur eine unwichtige kleine Kaufmannsfamilie.“

Auf Anduris Gesicht zeigte sich ein Ausdruck, der entweder Missfallen oder Ungeduld oder beides gleichzeitig bedeuten konnte. Auf jedem Fall wünschte sich Kerim, ihn lieber nicht unterbrochen zu haben.

Es war Khamir, der den Faden wieder aufnahm: „Vielleicht waren wir das früher einmal. Du weißt, es gibt vielleicht eine Handvoll einflussreicher Kaufmannsfamilien in unserer kleinen Stadt, und seit meiner Heirat mit Ayanla, spätestens aber mit Abschluss der Verträge mit den Kjelbings, gehören wir auch dazu. Das hat sicher das Interesse der Tenarsons geweckt. Ich wette, dass sie über deine und Vaters Verhandlungen bestens unterrichtet sind. Sie haben überall ihre Agenten. Also haben sie rechtzeitig die Initiative ergriffen und sind auf uns zugekommen.“

„Mit welcher Absicht?“ fragte Kerim, den ein ungutes Gefühl überkam.

„Mit der Absicht, um Shezas Hand anzuhalten“, meldete sich Anduri wieder zu Wort.

Kerim musste sich eingestehen, dass ihn diese Nachricht überraschte, obwohl er die Zeichen hätte erkennen können. Offenbar wusste Sheza schon Bescheid, denn dies erklärte ihre düstere Stimmung, die sie vor Kerim zu verbergen versuchte. Offenbar war sie mit ihrem möglichen zukünftigen Gemahl oder der Vorstellung einer baldigen Heirat im Allgemeinen nicht einverstanden. Kerim konnte sich seine lebhafte Schwester tatsächlich nur schwer als folgsame Gattin eines hellhäutigen Mannes aus dem Norden vorstellen.

„Wer von den Tenarsons hat denn um ihre Hand angehalten?“ fragte Kerim.

„Garred selbst“, antwortete Anduri. „Das macht die Angelegenheit so schwierig für uns. Eine Ablehnung würde vielleicht mit den Vorstellungen meines Bruders übereinstimmen, aber aus verschiedenen Gründen sehr ungünstig für uns sein. Eine Zusage führt aber auch zu Verwicklungen. Das meinte ich vorhin damit, dass das Bündnis den Kjelbings uns auch in eine schwierige Lage bringt.“

Kerim musste erst noch die Tatsache verdauen, dass Orreds Sohn, sein Vertreter für die gesamte Insel Elurna, um die Hand einer Helessan-Tochter angehalten hatte.

„Durch eine solche Heirat würden wir zu den mächtigsten Kaufleuten auf ganz Elurna werden“, platzte es aus ihm heraus.

„Das ist wohl wahr,“ stimmte sein Bruder zu. „Aber wir könnten auch in eine unangenehme Auseinandersetzung gezogen werden, bei der wir vielleicht untergehen. Andrig Kjelbing könnte uns das sehr übel nehmen, und wie du vorhin etwas dunkel angedeutet hast, geht es auch noch um bedeutendere Dinge als bloß gewisse Privilegien im Gewürzhandel.“

Anduri seufzte. „Den Tenarsons diese Bitte auszuschlagen, würde mit Sicherheit einige Unannehmlichkeiten nach sich ziehen. Vielleicht würden sie nicht gleich zu unseren Feinden, doch zumindest zu Rivalen, die uns das Leben schwer machen können, hier und in Urdland. Wenn wir zusagen, hätten wir diese Gefahr aus dem Weg geräumt. Doch fürchte ich, dass wir niemals gleichberechtigt sein würden. Die Tenarsons sind zu mächtig. Wir müssten uns wohl oder übel ihren Wünschen beugen, und über kurz oder lang würden wir zu ihren Handlangern werden und zu nichts mehr.“

„Es gibt noch einen Ausweg, der uns vielleicht in beide Richtungen absichern könnte“, warf Khamir ein. „Meine Heirat mit Ayanla hat uns mit einem Schlag zu einer der einflussreichsten Familien gemacht. Doch einer der Helessan-Söhne ist noch unverheiratet...“

Kerim ahnte, wohin diese Überlegung führen würde. Er sagte nichts.

„Ist es nicht so, dass Andrig Kjelbing wenigstens eine unverheiratete Tochter hat?“ fragte Khamir.

„So ist es“, antwortete Kerim widerwillig. "Sogar zwei, und ich glaube, sie sind noch niemandem versprochen.“

„Eine solche Heirat könnte uns allerdings in beide Richtungen in gewisser Weise absichern“, meldete sich jetzt Anduri zu Wort. „Wenn wir schnell handeln. Wenn wir es schaffen, die verschiedenen Eheversprechen lange genug unter uns zu behalten, ohne dass etwas nach außen dringt, könnten wir die Urdländer gewissermaßen gegeneinander ausspielen. Es ist nicht gesagt, dass es gelingt, aber wir wären in einer etwas besseren Ausgangslage als jetzt.“

Die Aussicht, schon früher wieder in das dunkle und kalte Land im Norden zu reisen als gedacht, und vielleicht länger dort zu verweilen als ihm lieb war, erfüllte Kerim mit Unbehagen. „Ihr wisst, was Vater von solchen Dingen dachte. Und wie der alte Andrig dazu steht, kann ich auch noch nicht sagen“, gab er zu bedenken. „Außerdem muss ich Anduri recht geben: Wir könnten bei einem so riskanten Spiel Gefahr laufen, alles zu verlieren.“

„Ich finde, wir sollten diesen Plan trotzdem in die Tat umsetzen. Ohne Vaters Vermächtnis entehren zu wollen, aber er ist tot, und unsere Familie muss sehen, wie sie auch in Zukunft weiterbesteht,“ entgegnete Khamir.

Anduri räusperte sich. „Mir widerstrebt es allerdings, die Überzeugung meines Bruders schon so kurz nach seinem Tod zu verraten, auch wenn wir diesbezüglich schon früher unsere Meinungsverschiedenheiten hatten. Aber ich muss sagen, dass ich im Augenblick auch keinen besseren Weg sehe. Wir dürfen diese Möglichkeit nicht ungenutzt lassen.“ Er machte eine nachdenkliche Pause. „Doch vielleicht sehen wir ja klarer, wenn Du uns erst noch in die besonderen Umstände des Vertrages einweihst, von denen Du vorhin gesprochen hast“, wandte er sich wieder an Kerim.

Sie redeten noch lange Zeit im flackernden Halbdunkel des Geschäftsraums, bis sie schließlich hinauf in ihre Zimmer gingen. Als Kerim sich auf sein Bett fallen ließ, fühlte er sich erschöpfter als je zuvor; dennoch dauerte es sehr lange, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel.

Die toten Städte

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