Читать книгу Die toten Städte - Andé Gerard - Страница 9

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Wie sollte er sich nun verhalten angesichts der völlig neuen und unerwarteten Tatsache, der er sich gegenübersah? Sollte er diese bestürzende Wendung des Schicksals hinnehmen oder dagegen ankämpfen? Alles sah danach aus, dass seine Zukunft schon verplant war und in der Aussicht bestand, sein restliches Leben an einem fernen Ort unter fremden Menschen zu verbringen, die er wahrscheinlich nie ganz verstehen würde. Wäre er fähig, sich selbst glauben zu machen, dass dies die große Herausforderung sei, auf die er schon immer gewartet hatte? Wäre es überhaupt möglich, dagegen rebellieren und zu versuchen, aus seiner Zwangslage auszubrechen? Hätte jemand Kerim vor Jahren diese Frage als Gedankenspiel gestellt, wäre er wohl genauso wenig in der Lage gewesen, sie zu beantworten, wie er es jetzt war.

Er hatte seine Entscheidung noch nicht getroffen und bemühte sich redlich, sie so lange wie möglich vor sich her zu schieben. Glücklicherweise standen zunächst einmal nahe liegendere Dinge an, die seine Aufmerksamkeit forderten. Vorbereitungen für ein Fest waren zu treffen, es war dafür zu sorgen, dass es in einem angemessen Rahmen stattfand, der den Status der Familie (und des Verstorben, der Anlass der Veranstaltung war) wiederspiegelte.

Die Trauerfeier für Chadim Helessan war die größte, die seine Familie jemals abgehalten hatte, wenn man die Anzahl der Gäste als Maßstab nahm. Diese waren so zahlreich erschienen, dass während des ersten Teils der Zeremonie, als die Asche dem Tempel des Asal übergeben wurde, ein Teil der Menge auf dem Tempelplatz, vor den Türen des nicht gerade kleinen Gebäudes, ausharren musste. Kerim stellte fest, dass diejenigen Gäste, deren Gesichter und Namen ihm bekannt waren, bei weitem in der Minderheit waren. Einige der unbekannten Gesichter, die an ihm vorbeizogen, zeigten Trauer, und einige weinten sogar wegen des Todes von Chadim Helessan. Kerim stellte fest, dass er selbst zu einer solchen Gefühlsäußerung an diesem Tag ebenso wenig fähig war wie an allen anderen Tagen seit dem Tod seines Vaters. Er konnte nicht genau beschreiben, was in ihm vorging. Er fühlte sich die ganze Zeit über wie ein unbeteiligter Beobachter, allerdings nicht wie ein zufälliger Zeuge, sondern eher wie jemand, der ein Buch las oder einer Geschichte lauschte, vielleicht auch wie ein Geist, der, selbst unsichtbar, das Geschehen wie durch einen Schleier wahrnahm.

Nach dieser Zeremonie brauchte es keinen weiteren Beweis, dass die Helessans als eine Familie mit großer Zukunft galten. Allerdings schien es noch nicht dazu zu reichen, dass der Patriarch der Stadt, Sanadro Chulefan Pavatra, es für nötig hielt, sich blicken zu lassen oder auch nur einen Vertreter zu schicken. Es sei denn, man wollte Garred Tenarson dazuzählen, Abgesandter der reichsten Kaufmannsfamile Urdlands und zuverlässiger Geldbringer des Fürsten. Auch Garred dürfte zu denjenigen gehören, die sich seit neuestem berufen fühlten, einem Helessan die Ehre zu erweisen. Als er Kerim gegenüberstand, zeigte der blonde, hochgewachsene Mann eine Vertrautheit, als würde er nach langer Zeit einen alten Freund begrüßen, obwohl sie sich zum ersten Mal aus nächster Nähe sahen. Der Urdländer machte jedoch keine Anstalten, ein Gespräch zu beginnen, sondern reihte sich recht unauffällig in den Strom übrigen Trauergäste ein.

Die Menge der Gäste schrumpfte sichtlich während der Prozession zum Helessan-Haus, wo die Trauerfeier ihre Fortsetzung nehmen sollte. Trotz dieser Verkleinerung der Gesellschaft wimmelte es überall, in der Eingangshalle, im Innenhof, auf der Galerie und im Esszimmer von Menschen, deren Gesichter Kerim noch immer zum größten Teil unbekannt waren. Einige Derjenigen, die vorher von Gram geradezu überwältigt schienen, schafften es hier offenbar recht schnell, wieder in fröhliche und gesellig Stimmung zu kommen. Kerim staunte immer wieder über die Fähigkeit, diesen Wechsel innerhalb kürzester Zeit zu vollziehen. Einige der Gäste, die Kerim zum ersten Mal zu sehen glaubte, sprachen ihn mit seinem Namen an, um ihm Beileid zu wünschen. Kerim war nicht so unhöflich, geradeheraus nachzufragen, woher sie ihn kannten, andererseits auch nicht raffiniert genug, ihnen die Antwort nebenbei im Gespräch zu entlocken. Vermutlich hatten sie sich nur bei Bekannten über ihn erkundigt.

Kerim war allgemein nicht zu angeregter Unterhaltung aufgelegt. Die Luft im Haus war durch die Gegenwart der großen Menschenmenge noch heißer und schwüler als sonst, nahezu unerträglich. Da er nicht ständig unbeteiligt herumstehen konnte, unterhielt er sich hin und wieder mit einigen Bekannten, hauptsächlich aber mit Familienmitgliedern wie Onkel Anduri, wenn dieser einmal Zeit fand, oder mit Takali Beressan und dessen Frau Siadri, Ayanlas Eltern, und natürlich mit Sheza. Hauptsächlich ging es dann um Kerims Erlebnisse in der Ferne, weniger um das, was sich in Pavat abgespielt hatte oder was die Zukunft hier noch bringen sollte. Kerim hatte das Gefühl, dass sie beide versuchten, dieses Thema möglichst zu vermeiden. Er war fast froh, dass Sheza immer wieder Gesellschaft von Bekannten und Freunden bekam, die als Gäste gekommen waren, so dass er sich nicht verpflichtet fühlen musste, sich ständig mit ihr zu unterhalten. Allerdings bekam er auch Schuldgefühle bei dem Gedanken, ihr absichtlich auszuweichen. Garred Tenarson gehörte zu denjenigen, die während des Zuges der Menge zum Helessan-Haus abhanden gekommen waren. So eng war die Beziehung also doch noch nicht, als dass sie bis in den innersten Kreis reichte.

Kerim überlegte gerade, wie er es anstellen könnte, sich möglichst unauffällig für kurze Zeit in sein Zimmer zurückzuziehen, um ein wenig Erholung von der stickigen Luft und dem Lärm der unzähligen Gespräche zu bekommen, als er von der Seite angesprochen wurde. Die weibliche Stimme, die seinen Namen ausgesprochen hatte, konnte er im ersten Augenblick nicht einordnen, obwohl sie ihm auf seltsam unangenehme Weise bekannt vorkam. Erst als er ihr den Blick zuwandte, erkannte er schlagartig das dazugehörige Gesicht und musste sich stark zusammennehmen, um keinen dümmlichen Ausruf des Erstaunens auszustoßen. Vor ihm, im Halbschatten eines Stützpfeilers der Galerie, stand niemand geringeres als Seára Khadris, Ehefrau von Varol Khadris, einem der alteingesessenen Kaufleute von Pavat. Sie gehörten zum kleinen Kreis der alten Gründerfamilien, die schon so etwas wie eine Adelsschicht darstellten, in Rang und Ansehen gleich unter dem Patriarchen. Kerim hatte sie während der Zeremonie nicht bemerkt. Vielleicht hatte er sie einfach übersehen, vielleicht war sie auch gar nicht dabei gewesen und erst hier zu den Gästen gestoßen. Kerim traute ihr das durchaus zu..

Er fühlte auf zweierlei Art Unbehagen: Zum einen, weil er sich in Seáras Gegenwart immer beklommen und eingeschüchtert fühlte, und andererseits, weil er genau diese Gefühle nicht beherrschen konnte. Er hasste sich dafür, dass er ihr nicht mit Gleichgültigkeit entgegentreten konnte. Er schaffte es nie, sie eine größere Verachtung spüren zu lassen als die, die sie ihm entgegenbrachte.

„Ich möchte dir mein Beileid für den Tod deines Vaters aussprechen“, sagte sie nun mit unbewegter Miene.

Kerim brachte ein „Danke“ heraus, während er ihr Gesicht zu lesen versuchte. Die kleine, dürre Frau mit den streng zurückgesteckten Haaren, die schon von zahlreichen grauen Strähnen durchzogen waren, hatte ihn bestimmt nicht nur wegen dieser Geste der Höflichkeit angesprochen. Die Tatsache, dass sie sich dazu herabgelassen hatte, das Haus der Helessans aufzusuchen und gezielt Kerim anzusprechen, musste einen tieferen, für sie viel wichtigeren Grund haben. Dafür sprach auch der eindringliche Blick, den sie auf ihn richtete. Kerim wagte es nicht, seinen eigenen Blick schweifen zu lasen, um nach dem Ehemann der kleinen Frau zu suchen. Dann fiel ihm ein, dass Khamir erwähnt hatte, dass dessen Krankheit in Kerims Abwesenheit weiter fortgeschritten war. Er hätte seine Frau gar nicht begleiten können. Wenn sie Diener mitgebracht haben sollte, was Kerim für wahrscheinlich hielt, dann bemerkte er sie jetzt nicht.

Kurz bevor das Schweigen zwischen ihnen zu lang gedauert hätte, um nicht peinlich zu sein, ergriff Seára wieder das Wort: „Ich würde mich gerne mit Dir über etwas unterhalten. Können wir einen etwas stilleren Ort aufsuchen?“

Kerim konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, was sie mit ihm zu besprechen hätte.

„Äh, ja“, war das einzige, was er hervorbrachte, während er sie mit einer Geste aufforderte, ihn zu begleiten. Er führte sie zu seinem Zimmer, weil ihm im Augenblick kein geeigneterer Ort einfiel und weil er ohnehin schon fast dort angekommen war, als er ihr begegnet war. Als er die Tür hinter ihnen beiden schloss und den Lärm damit dämpfte, war er zumindest erleichtert über die etwas angenehmere Luft in seinem kleinen Zimmer. Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten, und die Hitze war nicht mehr ganz so unerträglich. Sein Zimmer war ohnehin etwas kühler als andere Teile des Hauses, weil es im Norden lag.

Er bot der alten Frau den einzigen hier vorhandenen Stuhl an. Als sie sich gesetzt hatte, stand Kerim eine Weile unschlüssig im Raum und setzte sich dann auf die Kante seines Bettes. Dies alles kam ihm seltsam unwirklich vor. Das letzte Mal hatte er Seára Khadris im großen Speisesaal ihres Anwesens gegenüber gesessen. Sie in dieser Umgebung zu sehen schien umso seltsamer, als sowohl ihre Haltung als auch ihr Gesichtsausdruck fast dieselben waren wie bei ihrer letzten Begegnung vor so langer Zeit. Er hatte das Gefühl, irgendetwas Unverfängliches sagen zu müssen, doch er wusste nicht was. Wieder drohte das Schweigen zwischen ihnen unangenehm zu werden. Abermals ergriff die alte Frau das Wort, während sie Kerim weiterhin unablässig fixierte.

„Ich möchte Dich um einen Gefallen bitten“, sagte sie mit unverändert regloser Miene. Kerim hoffte, dass sie ihm seine Überraschung bei diesen Worten nicht zu deutlich ansah.

„Ich will keine großen Umschweife machen.“ Dennoch zögerte sie. Kerim hatte das Gefühl, dass es sie trotz ihrer letzten Worte große Überwindung kostete, fortzufahren. „Ich weiß, dass dir immer noch etwas an Kenola liegt.“

Dieser Satz traf Kerim wie ein Faustschlag in die Magengrube. Er bemerkte, wie sein Herz zu rasen begann und das Blut in seinen Kopf schoss.

„Du hast sie geliebt. Das habe ich vom ersten Augenblick an gewusst. Ich meine, seit ich dich zum ersten Mal mit ihr zusammen sah.“

Diese unerwartete Aussage hatte Kerim so überrumpelt, dass er nichts weiter machen konnte, als die alte Frau anzustarren und auf ihre weiteren Worte zu warten. Möglicherweise hatte sie irgendeine Antwort seinerseits erwartet, weil sie abermals eine Pause machte. Schließlich fuhr sie fort: „Ich möchte, dass Du sie findest und zurück zu uns nach Pavat bringst.“ Sie gab ihm keine Gelegenheit für eine Zwischenfrage. „Sie ist schon seit über einem Jahr fort. Das alles begann kurz nach deiner Abreise.“ Sie wirkte jetzt fast ein wenig geistesabwesend, was sehr ungewöhnlich für diese Frau war, zumindest nach Kerims Dafürhalten.

„Über ihre Beweggründe will ich nicht reden. Ich könnte nur Vermutungen anstellen, und es ist letztlich auch ohne Bedeutung. Von Bedeutung ist aber, dass ihr vielleicht auch noch etwas an dir liegt. Deshalb bin ich hier. Um dich zu bitten, sie zurückzuholen.“

Sie sah ihn wieder mit ihrem bohrenden Blick an. Kerim starrte seinerseits zurück, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er ihrem Blick noch nie so lange standgehalten hatte.

Nach einer kleinen Ewigkeit fragte er: „Wohin ist sie verschwunden?“

„Das weiß ich nicht mit Sicherheit. Über das Meer, vermutlich nach Osten, nach Ialontena.“

„Wie kannst Du nicht wissen, wohin sie gegangen ist? Soll das heißen, sie hat überhaupt nicht mit Dir darüber gesprochen?“

Seára sah nun tatsächlich wütend aus. „Sie spricht - sprach nur wenig mit mir. Immer wenn ich sie zur Rede stellen wollte, sagte sie, sie könnte die Familiengeschäfte besser führen als ich, und ich solle sie in Ruhe lassen. Früher hätte ich mir dieses unverschämte Verhalten nicht gefallen lassen, aber sie hat sich sehr verändert. Ich komme kaum noch gegen sie an.“

„Und ... warum glaubst du, ich könnte daran etwas ändern? Du hast mehr Einfluss in der Stadt und mehr Möglichkeiten sie zu finden als ich. Ich wüsste nicht einmal, wo ich anfangen sollte.“

Seára gab sich nicht einmal mehr Mühe, ihren Zorn zu verbergen. „Dieses undankbare Kind ist ganz schön gerissen geworden. Sie kann ihre Spuren gut verwischen. Sie kennt meine Vorgehensweise und die Leute, die für mich arbeiten. Das einzige, das ich herausfinden konnte, ist, dass sie sich nicht mehr um unsere bestehenden Handelsverträge kümmert. Stattdessen ließ sie sich auf Geschäfte mit zwielichtigen Gestalten ein, Leute, die ich keines Blickes würdigen würde. Sie ist verrückt geworden. Es ist nicht das erste Mal, dass sie mit unbekanntem Ziel verschwindet. Aber jetzt habe ich genug davon. Du hast bessere Aussichten, sie zu finden. Du bist weniger bekannt und längere Zeit nicht in der Stadt gewesen. Außerdem besitzt Du auch den Verstand dafür.“

Kerim ging auf die Schmeichelei nicht ein. „Warum sollte mich das etwas angehen?" Seine Miene war fast so unbewegt wie die der alten Frau.

Seára Khadris' Blick war nun wieder so kalt und beherrscht wie zuvor. „Ich dachte, das hätte ich schon deutlich gemacht.“ Kerim wollte etwas einwenden, doch sie kam ihm zuvor. „Du hattest die Absicht, sie zu heiraten. Du wolltest bei meinem Mann um ihre Hand anhalten. Auch wenn du das nie angedeutet hast, war das klar. Wenn du die Frage jetzt stellen würdest, würde ich zusagen. Meinen Mann kannst Du jetzt nicht mehr fragen. Zumindest könnte er wahrscheinlich nicht darauf antworten. Ich treffe jetzt die Entscheidungen für ihn. Ich muss mich um alles kümmern.“

Kerim blinzelte. Er konnte dem bohrenden Blick doch nicht mehr standhalten. „Du hast verstanden, was ich dir angeboten habe?“ fragte Seára. „Du würdest das Oberhaupt einer der ältesten und angesehensten Familien der Stadt werden, mit der Frau an deiner Seite, die du liebst.“

Kerim brauchte lange Zeit, um seine wild durcheinander wirbelnden Gedanken zu ordnen. Er konzentrierte sich schließlich auf das naheliegendste.

„Was ist mit Feynat?“

„Was soll mit Feynat sein? Er kann die Familiengeschäfte nicht führen. Er hat genug Probleme damit, sich ohne fremde Hilfe anzukleiden. Und wenn Du glaubst, dass irgendeine Familie ihre Tochter mit einem Schwachsinnigen verheiraten würde, bist du einfältiger als ich dachte. Wer würde es schon riskieren, mit ihm Kinder zu zeugen? Allein der Gedanke daran ist schon lächerlich. Selbst die ehrgeizigste Familie der Stadt würde sich nicht damit zum Gespött machen, ganz gleich, wie viel sie dabei auch gewinnen könnte.“

Kerim erinnerte sich nun wieder daran, warum er die alte Frau so verabscheute. Er musste daran denken, wie einsam der zurückgebliebene Sohn der Khadris’ sich fühlen musste. Kenola war die einzige, die ihm Zuneigung entgegenbrachte und ihn nicht wie Luft behandelte. Für seine Eltern war Feynat so gut wie gestorben, sobald klar war, dass er der Familie nie würde vorstehen können. Kerim war erstaunt, dass sich seine Wut nun nicht nur auf die Eltern, sondern wenigstens teilweise auch auf Kenola erstreckte, die ihren Bruder offenbar im Stich gelassen hatte, einen der gutmütigsten und harmlosesten Menschen überhaupt, der selbst am wenigsten an den Umständen Schuld trug, unter denen er nun doppelt zu leiden hatte.

Kerim wechselte wieder das Thema. „Angenommen, ich würde mich auf dieses Angebot einlassen, dann weiß ich immer noch nicht, wo ich ansetzen soll.“

Seára überlegte kurz. „Sie hatte vor allem Umgang mit einem Händler namens Farul Jarneka. Er handelt mit allen möglichen Arzneien und Drogen, aber auch mit irgendwelchen alten Schriftstücken, okkultem Plunder. Er hat ein Geschäft im Süden, in der Lehmstadt. Das letzte Wort betonte sie auffällig. „Man soll es nicht für möglich halten“, fügte sie leiser hinzu. „Er kann sich nicht einmal ein Haus aus Stein leisten.“

„Mir ist immer noch nicht ganz klar, was ich überhaupt machen soll oder kann. Selbst wenn ich Kenola finden sollte, hätte ich kaum die Möglichkeiten, sie zu irgendetwas zu zwingen.“ Abgesehen davon behagte Kerim auch nicht, den Laufburschen für Kenolas Mutter zu geben.

Seára erhob sich. Sie schien das Gespräch zu einem Ende bringen zu wollen. „Wie ich schon sagte, ich glaube, du besitzt meines Erachtens genug Verstand, um eine Menge herauszufinden. Auch wenn dir jetzt noch dein Stolz im Weg stehen sollte, könntest du vielleicht einmal darüber nachdenken, wie lange Du noch im Schatten deines Onkels und deines Bruders stehen willst. Vielleicht wäre es einmal an der Zeit, dein Leben selbst in die Hand zu nehmen, anstatt dich nur treiben zu lassen wie ein Stück Holz auf den Wellen.“

Sie öffnete nun die Tür und wandte ihm den Rücken zu, als sie wieder die Galerie betrat. Kerim wusste, dass es wie ein Zeichen der Schwäche wirken musste, sie nach dieser Beleidigung ohne eine Erwiderung gehen zu lassen, aber alles, was er hätte sagen können, hätte jämmerlich und verzweifelt geklungen. Dies mochte daran liegen, dass er gegen seinen Willen etwas Wahrheit in den letzten Worten erkannt hatte. Gerade deshalb hatten sie ihn so tief getroffen. Kerim zog es vor zu schweigen, statt zu riskieren, dass die Wut seine Stimme zittern ließ. Es verstrich ein langer Zeitraum, bis sich Kerim ebenfalls erhob und wieder in den Lärm und die Hitze der Feier eintauchte.

Er nahm das Geschehen um ihn herum für den Rest der Feier kaum wahr. Versuchte jemand, ein Gespräch mit ihm anzufangen, antwortete er zerstreut und meistens einsilbig. Das Einzige, was seine Aufmerksamkeit wieder wecken konnte, war ein Vorfall auf dem Innenhof, der sich zutrug, als schon die Dunkelheit hereingebrochen war. Im Hof waren Öllampen angezündet worden, die ihre Umgebung in Dämmerlicht tauchten. Ein Gast, der offenbar stark angetrunken war, erhob sein Glas, als wolle er einen Trinkspruch ausbringen, was sich zunächst auch so anhörte: „Ein Hoch auf die Helessans! Lasst uns alle die Gläser erheben auf eine der besten Familien unserer Stadt! Sie haben sich ihren Erfolg redlich verdient! Sie haben sich hochgearbeitet mit Fleiß und Klugheit.“ Obwohl der Mann im Halbdunkel stand, meinte Kerim ein bedrohliches Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Der übrigen Gäste schien nichts aufzufallen. Die meisten kamen der Aufforderung nach. „Auf die Helessans, die mehr Geld und Wohlstand in unsere schöne Stadt bringen. Sie bringen den Reichtum der Fremden in unsere Stadt. Wir können gar nicht genug fremdes Geld in unserer Stadt haben. Und fremde Menschen. Daher erheben wir die Gläser auch auf die Tenarsons, diese feinen, fremden Menschen, die unserer Stadt so sehr bereichern.“ Kerim erkannte plötzlich den Mann. Obwohl er ihn seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte, war er sich ziemlich sicher. Er gehörte zu einer der kleinen Kaufmannsfamilien, die ihr Haus nicht weit entfernt von dem der Helessans hatten. Er war ungefähr in Kerims Alter und hatte früher mit ihm und Sheza gespielt. Der Gast setzte nun seine lallende Rede fort, wobei er weiterhin in die Richtung blickte, wo Khamir und Anduri standen.

„Manche sagen, sie sind reicher als der Patriarch. Und wenn nicht, dann sorgen wir schon dafür, dass es bald so ist, nicht wahr? Und wer weiß, vielleicht sollten die Tenarsons uns besser demnächst regieren. Wenn ihnen schon die halbe Stadt gehört, ist es nur recht und billig, dass sie auch den Patriarchen ablösen, diese feine Familie aus ... aus was-weiß-ich-wo.“

Der Mann wurde nun von einigen umstehenden Zuhörern unterbrochen, die der Rede nun freundlich, aber bestimmt ein Ende machen und den Angetrunkenen hinaus geleiten wollten. Kerims Blick traf den seines Bruders, der nur einige Schritte entfernt von ihm stand. Offenbar hatten sie beide die Worte auf dieselbe Weise gedeutet, wie er an Khamirs Gesichtsausdruck erkennen konnte.

Die Zeit, bis auch der letzte Gast das Haus verlassen hatte, zog sich für Kerim eine halbe Ewigkeit hin. Die Helessans ignorierten den Vorfall so gut es ging und setzten die Unterhaltung mit den verbliebenen Gästen fort. Kerim entzog sich den Gesprächen so oft es ging und brütete die meiste Zeit in einer dunklen Ecke alleine vor sich hin. Er war nicht in der Stimmung, mit anderen Menschen zu reden; er fühlte sich gleichzeitig erschöpft und aufgewühlt. Am frühen Morgen erhielten die Diener schließlich die Anweisung, die Tore zu schließen und das Haus aufzuräumen. Kerim kam mit Khamir und Anduri überein, etwaige Gespräche auf den nächsten Morgen zu verschieben. So ließ sich Kerim in sein Bett fallen und verbrachte die zweite unruhige Nacht nach seiner Ankunft in Pavat.

In den nächsten Tagen war Kerim mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt: Die Inventur der Handelswaren musste erledigt werden, und es mussten Briefe verfasst werden, die noch möglichst vor den Herbststürmen mit Schiffen zu den Kontoren auf Seola und Shomago im Westen gehen sollten, und vor dort weiter zu den Gewürzinseln tief im Süden. Kerim kamen diese Arbeiten sehr gelegen, weil sie ihn einerseits genug in Anspruch nahmen, um nicht wieder in düsteres Grübeln zu verfallen, und andererseits die Möglichkeit boten, die bisherigen Erlebnisse in Ruhe zu verarbeiten. Glücklicherweise bestanden sein Onkel und sein Bruder nicht darauf, die neue Lage der Dinge wieder ausführlich besprechen zu wollen. Bei verschiedenen Gelegenheiten, während sie im Lager oder zu Hause zusammenarbeiteten oder während der gemeinsamen Essen, kam das Gespräch jedoch immer wieder auf die Ereignisse der Feier. Khamir und Anduri hatten die Ansprache des Gastes genauso wie Kerim gedeutet. Wenn sich das Gerücht der Verbindung der Tenarsons mit den Helessans herumsprechen sollte, musste schnell gehandelt werden, bevor es mit den nächsten Schiffen den Norden erreichen könnte. Kerim musste sich also mit der Tatsache abfinden, schon in wenigen Monaten, sobald die Winde günstig wären, seine Reise zu wiederholen. Dabei war noch nicht einmal sicher, ob der Plan seiner Verheiratung überhaupt erfolgreich sein würde. Hinzu kam noch das andere Heiratsangebot, das die ohnehin schon gefährliche politische Lage seiner Familie noch verzwickter machte. Von seinem Gespräch mit Seára Khadris hatte er seinen Verwandten noch nichts erzählt, und er fragte sich, ob er das überhaupt jemals tun sollte. Er hatte kein Versprechen abgegeben, und die alte Frau hatte ihn nicht unter Druck setzen können. Er für seinen Teil konnte so tun, als habe das Gespräch nie stattgefunden. Trotzdem spukten ihm die Ereignisse der Totenfeier immer wieder im Kopf herum. Sie suchten ihn regelrecht heim.

Er wälzte diese Gedanken wieder einmal in seinem Kopf, während er an einem Tisch in dem Lagerhaus saß, das am Hafen, südlich des Kanals lag. An diesem Tag war ein heftiger Sturm aus Richtung Westen über die Stadt gezogen. Er tobte noch bis spät abends, so dass Kerim beschloss, im Lager das Ende abzuwarten, statt durch den Wolkenbruch nach Hause zu gehen. Eine Öllampe auf dem Tisch warf einen trüben Lichtkreis, der schon nach wenigen Schritten in das Dunkel des großen Lagerraumes überging. Er hatte eigentlich keine Arbeit mehr zu erledigen, weshalb er nur, auf einem Hocker sitzend, entspannt mit dem Rücken an der Wand lehnte und dem Wüten des Sturmes lauschte. Die Unwetterfront war vom westlichen Ozean aus über die Insel gezogen und hatte wohl schon etwas von ihrer Kraft eingebüßt hatte, bevor sie die Stadt Pavat an der östlichen Küste ereichte. Kerim fragte sich, wie stark wohl die Hafenstadt Suloam an der südwestlichen Küste in Mitleidenschaft gezogen war. Die Stürme mussten diese Stadt immer mit ungebremster Gewalt treffen.

Irgendwann mitten in der Nacht verstummte abrupt das Prasseln der Regentropfen, und der Wind, der bisher am Gemäuer gerüttelt hatte, ließ etwas nach. Kerim verließ das Lagerhaus und trat in die angenehm kühle und frische Nachtluft hinaus. Er genoss den Wind auf der Haut und den Geruch in der Luft, die jetzt sehr viel klarer war als in den vielen stickigen Tagen zuvor. Das Wetter erinnerte ihn ein wenig an seinen Aufenthalt in der Stadt Imgalion hoch im Norden, und er wunderte sich, wie angenehm ihm diese Erinnerung auf einmal vorkam.

Aus einer seltsamen Laune heraus schlug er nicht den direkten Weg nach Hause ein, sondern ging stattdessen in Richtung Süden, zum großen Steinkai und der Mündung der Straße, die zum Basar führte. Die Fenster zu beiden Seiten der Straße waren zum größten Teil dunkel. Licht spendete nur der fast volle Mond, der jetzt wieder hinter den Sturmwolken hervorgekommen war. Holzstücke, Bruchstücke von Ziegeln, Stofffetzen und anderer Unrat waren über die nasse Straße verteilt. In den Pfützen spiegelte sich das Mondlicht ebenso wie der rötliche Feuerschein aus den wenigen erleuchteten Fenstern. Diese gehörten wohl zu der einzigen Schenke, die in dieser Straße lag. Kerim musste dabei unvermittelt an Gereth denken, den Seemann, der nie um einen Witz verlegen war. Er hatte den Mann aus Urdland seit dem Tag der Ankunft in Pavat nicht mehr gesehen. Gereth hatte gesagt, er wolle hier leben, bis er seine Heuer durchgebracht hätte. Kerim überlegte kurz, ob er die Taverne betreten sollte, an der er gerade vorbeikam, um zu sehen, ob sich Gereth darin aufhielt. Stattdessen ging er schnellen Schrittes weiter. Er war nicht in der Stimmung für derartige Vergnügungen. Aber er nahm sich vor, irgendwann nach seinem Reisegefährten zu suchen.

Er erreichte den still liegenden Basar, der jetzt im Mondlicht ein gänzlich anderer Ort zu sein schien als tagsüber. Neben der Stille und den geschlossenen Läden bewirkten auch die Beschädigungen des Sturmes die Veränderung. Bruchstücke von Ziegeln und Holzbrettern lagen über den Platz verstreut. Irgendein großes Gebilde aus Holz war offenbar über den Platz geschleudert worden und derart an einer Mauer zerschellt, dass sich nicht mehr feststellen ließ, was es vorher gewesen sein mochte. Eine der kleineren Lehmhütten an einer Straßenecke war völlig zusammengebrochen. Kerim fragte sich, ob die Bewohner noch rechtzeitig hatten entkommen können. Jedenfalls war zurzeit niemand auf dem Platz zu sehen. Vielleicht war das Gebäude auch nur ein Lagerschuppen. Obwohl hinter einigen der Fenster schwacher Lichtschein flackerte, vielleicht von Öllampen oder von offenen Feuern, war es geradezu gespenstisch ruhig. Auch an diesem Platz befand sich mindestens eine Schenke, wie Kerim wusste. Doch wenn dort überhaupt Gäste waren, so drang der Lärm nicht bis zu ihm vor.

Ihm kam plötzlich wieder das Gespräch mit Seára Khadris in den Sinn. Er fragte sich, wo genau sich wohl das Geschäft des geheimnisvollen Händlers Farul Jarneka befinden mochte. Seára hatte von der südlichen Lehmstadt gesprochen, also genau dem Stadtteil, an dessen Grenze er sich jetzt befand. Kerim kannte den Basar gut genug, um sicher zu sein, dass der Laden hier nicht sein konnte. Möglicherweise lag er an einer der von hier abgehenden Straßen, die zum Stadtrand führten. Er ließ seinen Blick über die schwarzen Schluchten zwischen den Fronten der Lehmhäuser schweifen, die an der Westseite des Basars lagen. Es gab zahlreiche mögliche Richtungen, die er einschlagen konnte. Früher, als Kerim und Sheza noch Kinder waren, hatte man ihnen verboten, diesen Teil der Stadt zu betreten. Bis zur Kanalbrücke südlich des Tempelplatzes durften sie gehen, aber nicht weiter. Als Kerim älter war, galt dieses Verbot für ihn nicht mehr, für Sheza aber weiterhin.

Er entschied sich unvermittelt für eine der breiteren Straßen zu seiner Linken. Diese Straße machte einige Häuser weiter einen Knick, um dann einigermaßen gerade zum Stadtrand zu führen. Als Kerim die Kurve hinter sich gelassen hatte, ging er langsam und vorsichtigen Schrittes weiter, um im Dunkeln nicht über Trümmer oder andere Hindernisse zu stolpern. Er nahm die Reihen ein- und zweistöckiger Häuser auf beiden Straßenseiten und die zahlreichen Seitengassen in genauen Augenschein. Die Gebäude bildeten in ihrer planlosen Aneinanderreihung einen auffälligen Gegensatz zu den ordentlichen Häuserreihen der Steinstadt. Wenn sein Bruder wüsste, wo er sich zu dieser Stunde herumtrieb, würde er Kerim wahrscheinlich für geisteskrank oder lebensmüde oder beides erklären. Wahrscheinlich war es nur dem Wolkenbruch zu verdanken, dass der Gestank nicht so überwältigend war wie zu anderen Zeiten. Kerim hielt sich möglichst nah an den Häuserwänden. Nur wenn er einen dunklen Eingang oder eine Seitengasse erreichte, machte er einen Bogen und spähte dabei nach links und rechts.

Die meisten zweistöckigen Gebäude waren im Erdgeschoss als Werkstatt oder Laden und im Obergeschoss als Wohnungen ausgebaut. Die einstöckigen Häuser gehörten wahrscheinlich Dienern, Tagelöhnern oder Huren. Da die Läden geschlossen waren, könnte Kerim an dem Geschäft, das er suchte, schon vorbeigegangen sein. Nur einige der Läden und Werkstätten waren durch Schilder gekennzeichnet, und die meisten davon zeigten Bilder statt Beschriftungen. Natürlich hätte Kerim eine Schenke in dieser Straße aufsuchen können, um sich nach Farul Jarneka zu erkundigen, doch das hielt er für zu auffällig. Er näherte sich dem Schild eines Ladens, der wohl in einem Innenhof hinter einem dunklen Tordurchgang lag, als plötzlich ein schriller, durchdringender Schrei ertönte. Es war eine krächzende Abfolge eines tiefen und eines höheren Tones, ein langgezogenes „Rrruuraah!“ Kerim zuckte unweigerlich zusammen, obwohl er diesen hässlichen Ton bei weitem nicht zum ersten Mal hörte. Es war der Schrei eines riesigen Grudar-Vogels, einer Art, die auf allen Inseln als Haustier verbreitet war. Kerim konnte nicht sagen, aus welcher Richtung der Schrei kam, doch klang er sehr nah. Nach einem kurzen Augenblick der Stille wiederholte sich der markerschütternde Ruf. Dieses Mal war Kerim sich sicher, dass der Ruf aus der Richtung des Hauses vor ihm kam. Er nahm an, dass alle Einwohner dieses Teils der Straße, die nicht völlig taub waren, nun wach sein dürften. „Was mache ich eigentlich hier?“ fragte er sich leise selbst. Er machte kehrt und ging hastigen Schrittes im Schatten der Häuser wieder in Richtung des Basars. Er erreichte den Platz und eilte Richtung Norden. Das Wasser der Pfützen, in denen sich zuvor des Mondlicht gespiegelt hatte, spritzte durch seine Schritte auf. Erst als er die Straße erreichte, die zum Kanal führte, verfiel er wieder in eine langsamere Gangart.

Die toten Städte

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