Читать книгу Obiad - Mehr als nur Mittagessen. Mein Jahr in Polen mit Überlebenden des Holocaust - André Biakowski - Страница 10

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Hallo ihr Lieben,

draußen ist es kalt, und das Fenster meines Zimmers trotzdem leicht angekippt. Wie soll ich anfangen, damit Ihr mich verstehen könnt? Damit ich meinen Gedanken nicht erliege, habe ich meinen Brief unter das Motto ‚Einfacher Lebensstil‘ gestellt.

Einleitend muss ich fragen: Was würde es denn in der heutigen Zeit bedeuten, einfach zu leben? Gerade jetzt in der Adventszeit – Ankunftszeit – mache ich mir so meine Gedanken und stelle fest, wie leicht der Mensch dazu neigt, das Komplizierte und nicht das Einfache zu definieren. Er will denken, analysieren, wissen und stellt fest, dass er eigentlich nichts weiß und scheitert an der Magie eines kleinen Kindes. Für mich liegt in diesen Gedanken der erste Erklärungsansatz für das ‚einfache‘ und zugleich das komplizierteste irdische Phänomen begründet – das eigene Leben. Eine vermeintlich banalere Form des Seins als das Leben scheint es nicht zu geben. Leben ist doch selbstverständlich. Oder? Man tut es halt. Sekunde für Sekunde, Tag für Tag und Jahr für Jahr. Ich mach‘ mir kaum Gedanken darüber, was es heißt zu leben. Eher aber darüber, was ich alles erreichen will. Stelle ich mir mein bisheriges Leben als Film vor, so wäre ich als ‚Titelheld‘ schon einige Male gestorben. Es gab Momente, in denen es für mich nicht so richtig weitergehen wollte: Stagnation statt Zukunftsvisionen. Ein unerfüllter Job. Eine Trennung, die mir das Herz zerriss. Glaubte damals, einen Teil von mir absterben zu spüren. Doch auf unerklärliche Art und Weise ging es immer weiter. Helfende Menschen begegneten mir, und eine ungeahnte Tür öffnete sich in etwas Neues hinein. Ich glaube, das Geheimnis meines Lebens liegt irgendwo zwischen mir und meinen tausend Ideen, mit denen ich mir oft selbst ein Bein stelle. Stolpere. Falle.

Wenn ich nun dieses Leben als geschenkt oder einfach als seiend annehme, stellt sich die entscheidende Frage: Was fange ich mit diesem an? Ich habe mich entschieden, als Freiwilliger für ein Jahr in Łódź zu leben und zu arbeiten. Ein Jahr anders leben, wie es so schön auf einem Werbebanner meiner Entsendeorganisation der Jesuit European Volunteers (JEV) heißt. Eine Grundlinie von JEV lautet: Einfacher Lebensstil. Bedeutet er Verzicht? Bedeutet er für mich die Aufgabe meiner gewohnten Lebensweise? Darf ich keine Schokolade mehr essen? Fastenzeit für ein Jahr? Einfacher Lebensstil, aus zwei Wörtern bestehend. Wie ist das „Einfach“ gemeint? Im Sinne von leicht? Banal? Unkompliziert? Fokussiert oder reduziert? In meinem Leben bewerte ich nur wenig aus sich selbst heraus. Ich vergleiche mich und alles ständig. Wie leben andere? Wie ich? Immer mit latent neidischem Unterton. Wenn ich hier nun in Łódź diesem bisherigen Gedankenmuster treu bleibe, so stelle ich auf einmal fest, wie gut es mir eigentlich geht. Stelle fest, wie wenig materielle Armut mit geistigem Reichtum zu tun hat! Es sind meist nur kleine Gesten, die mir dies veranschaulichen. Die sensible, wertschätzende Art und Weise eines Gespräches. Das behutsame Aufgießen eines Teebeutels in einer abgestoßenen Tasse mit kochendem Wasser. Die unglaubliche Gastfreundschaft, meist beginnend mit einem Lächeln. Woher nehmen die Überlebenden nach der ganzen Zeit des Schreckens diese Freundlichkeit, diese Kraft fürs Lachen? Sie haben für ihr eigenes Leben oft einen sehr hohen Preis gezahlt: Ermordung der eigenen Familie, Verschleppung, Germanisierung, Arbeitslager usw. Ich bin mir sicher, sie haben die tiefsten Abgründe menschlichen Daseins gesehen. Und heute steht Jahrzehnte später ein 29-jähriger, deutscher Mann in der Tür und will Überlebende besuchen. Ein Deutscher? Ich würde ihn nicht reinlassen. Wäre vermutlich verbittert. Misstrauisch allen Fremden gegenüber. Es ist schwer zu beschreiben, wie ich mich in Begegnungen mit ihnen fühle. Schäme mich zutiefst, für das, was damals Millionen von Menschen angetan wurde. Die Qualen. Bestialische Erniedrigungen. Morde. Die Menschen, die heute von damals berichten, waren Kinder. Spielten hüpfend auf den Straßen und dann …? Auschwitz! Ravensbrück! „… ab da war ich eine Nummer …“, sagte eine Frau zu mir schmerzlich treffend. Eine Nummer. Eine Zahlenkombination, die aus einem Individuum eine kalkulierbare und verbuchbare Größe machte. Einen Rohstoff. Ohne Würde. Ohne Recht auf Selbstbestimmung und Leben.

Ich würde mich so gerne bei den Überlebenden entschuldigen. Doch ich kann es nicht. Niemand kann das. Kein Willy Brandt. Niemand! Es bleibt nur die Trauer und das Aushalten. Viele der Überlebenden haben eine unglaubliche, charakterliche Stärke. Einen weiten Geist, der ehrlich ist. Klar und wach. Sie wissen, ich bin zu jung, um Schuldgefühle zu tragen, und schweigen mit mir in ein gegenseitiges Verstehen hinein.

Begrüßt von einem Hund, wohl dem schönsten in ganz Polen, besuchte ich neulich einen Mann. Seine Stärke fiel mir sofort auf. Selbst nicht mehr in der Lage, sich eine Hose anzuziehen, saß er mit T-Shirt und Boxershorts im monochromen Kaffeebraun bekleidet in seinem Thron, einem alten, gepolsterten Stuhl. Blickte geradeaus und ließ, um seinen Hund zu streicheln, den rechten Arm schlaff, kraftlos über die hölzerne Lehne baumeln. Trotzdem schien alles an diesem Mann Format zu haben. Die Art, wie er in den Raum blickte. Die Sequenz, in der seine rechte Augenbraue zuckte. Die Sensibilität, mit der er den Hund streichelte und dabei seinen Blick nicht von mir abwandte. Er war Anwalt in Libyen. Damals. An der Haustür steht noch ‚Advokat‘. Alles in seiner Wohnung hatte eine gewisse Präzision. Die Bilder an der Wand sowie die Fotos im nostalgischvergilbten Schwarz-Weiß in der schweren Eichenholzvitrine dokumentieren Früheres. Zakopane 1968 im Schnee. Der runde Esstisch im Wohnzimmer eingedeckt mit poliertem Silberbesteck. In der Mitte eine Blumenvase aus Bleikristall. Sein Polnisch klang für mich, im Gegensatz zu seinen Worten auf Deutsch, melancholisch. Sprach er deutsch, so hätte ich lieber, er würde polnisch sprechen, und doch kam es mir so vor, als wenn er über das bemühte Sprechen in Deutsch mir ein Fenster aufschob, um mich in seine Geschichte blicken zu lassen. Intonation im Stakkato.

Im militärischen Ton und mit Tränen in den Augen sprach er vom Konzentrationslager. Stockt, muss schlucken, braucht zwei, drei Minuten – seinen Hund immer noch streichelnd – und spricht weiter: „Wir hatten nichts als uns. Und das Leben? Ja, das ist uns geblieben. Wissen Sie, vom Leben werden Sie nicht satt, wenn der Hunger sich meldet. Sie können sich das nicht vorstellen.“ Nein, das kann ich nicht! Ich frage mich, was müssen das für Menschen gewesen sein, die einen so lieben, tiefsinnigen Mann schlugen, ihm eine Nummer eintätowierten und quälten. Woher nahm ein Mensch nur das Recht, sich über andere zu erheben? Sie zu kategorisieren? Es ist alles so unbegreiflich für mich!

Die gute Seele des Hauses, seine Frau, kümmert sich liebevoll um alles. Kocht, wäscht, versorgt, hält Ordnung und liebt ihren gebrechlichen Mann. Ihre Liebe zeigt sich in der Art, wie sie ihn stützt, ihm unter die Arme greift, Schritt für Schritt an seiner Seite bleibt, bis er langsam, den festen, sicheren Boden unter seinen Füßen suchend, aus seinem Thron im Flur im Wohnzimmer angekommen ist. Welch’ ein Wille nach Selbstständigkeit steckt in jedem einzelnen seiner Schritte? Welche Kraft und zugleich das Realisieren des eigenen körperlichen Abbaus. Würde seine Frau von seiner Seite weichen, so stürzte er. Schon seit Jahren pflegt sie ihn, hilft ihm auf die Toilette und erträgt das Herrische. Wenn ich beide so sehe, möchte ich fragen, was haben sie erlebt, das sie so zusammengeschweißt hat. Die Art, wie sie miteinander umgehen, ist anrührend. Beide im Geiste verschmolzen, nicht besitzend, sondern stützend auf den Anderen. Sie legt ihre Hand auf seine Schulter, und er blickt liebevoll aus seinem Stuhl im Wohnzimmer zu ihr auf. Eine Liebe, die nicht nur zu sehen ist, nein, ich spüre sie zwischen beiden. Beide leben sicher nicht einen Lebensstil, der mit einfach zu beschreiben wäre, doch sie leben und werden nicht, wie ich so oft, vom Alltag gelebt. Ihr ganzes Sein verkörpert für mich eine ungemeine Ehrlichkeit. Nichts scheint inszeniert, auf einen Zweck abzielend. Erstaunlich, wie viel ich von ihnen in der Begegnung lernen kann. Sie lehren mich vieles über das Leben. Nicht didaktisch, prüfend, ermahnend. Nein! Vielleicht haben beide tief in sich selbst hineingeschaut, und, wie im einleitenden Zitat meines Rundbriefes an Euch, das vom Engel versteckte Geheimnis des Lebens entdeckt. Ich realisiere gerade, wie beschränkt die deutsche Sprache in diesem Zusammenhang ist. Ich kann es nicht in Worte fassen. Entschuldigung!

Ich muss Euch von einer zweiten Begegnung erzählen. Mit dem Vorsatz, endlich die Ferse meiner angefangenen Socke fertig zu bekommen, saß ich strickend in der Tram in Richtung der Gedenkstätte Radegast.1 Übrigens: Ich stricke gern! Angekommen bei meinen ‚Leutchen‘, wie ich etwas flapsig zu sagen pflege, überrollte mich ein Schwall der Herzlichkeit. Ein Schwall wie der einer Mutter, die sehnsüchtig auf den Besuch ihres Kindes gewartet hatte.

Die Jacke noch nicht ganz ausgezogen, folgte schon die Frage nach Tee oder Kaffee. Rührkuchenstücke wurden sternförmig auf einem kleinen, weißen Teller mit geometrischer Genauigkeit drapiert. Pfirsiche aus der Dose serviert. Jetzt hatte ich keine Wahl mehr und trank meinen dritten Kaffee an diesem Tag. Kaffee heißt in Polen zwei Esslöffel normales Kaffeepulver mit kochendem Wasser in einer Tasse aufgegossen. Augenöffner statt ‚Bodensehkaffee‘. Genau beäugt, ob mir der Kuchen auch schmecken würde, schauten mich zwei strahlende Gesichter an. Er mit parallelen Stirnfalten und sie mit frisch ondulierten Haaren. Ein ‚Ich-kann-nicht-mehr‘ schienen beide für meine Art von Bescheidenheit zu halten, und so gab es den vierten Kaffee und noch ein Stück Rührkuchen. Wir redeten polnisch, so gut ich es verstand, und der Mann legte mir einen Zeitungsartikel von 1953 vor. Fragte mich, ob mir nicht etwas auffallen würde. Abgedruckt war die Totenliste eines Konzentrationslagers. Nein, mir fiel nichts auf. Als er mir aber die eintätowierte Nummer auf seinem Unterarm zeigte, und ich diese mit denen in der Zeitung verglich, verstand ich, dass vor mir ein Mann in seinem Sessel saß, der eigentlich dokumentarisch gesehen tot sein sollte! Ich kann nicht beschreiben, wie es mir in diesem Moment ging. Ich war so froh, dass er nicht hingerichtet wurde und ich mit ihm und seiner Frau Kaffee trinken konnte. Meine Socke? An die habe ich schon lange nicht mehr gedacht, obwohl die Frau richtig gut stricken kann.

Was haben diese Erlebnisse mit meiner Ausgangsüberlegung zum Einfachen Lebensstil zu tun? Ich denke, in beiden Fällen wurde sich darauf besonnen, was wirklich wichtig ist. Der eigene Mann, der nicht mehr gehen kann. Das eigene Leben, welches in der Zeitung als beendet deklariert wurde. Ich glaube, mit Einfachem Lebensstil ist eine gewisse Ehrlichkeit dem eigenen Selbst und dem Mitmensch gegenüber gemeint. Was macht mein Leben aus? Auf welche Wertvorstellungen baue ich? Was in meinem Leben ist Kosmetik, Projektion, schlichtweg unnötig?

Liebe Grüße

Euer André

Obiad - Mehr als nur Mittagessen. Mein Jahr in Polen mit Überlebenden des Holocaust

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