Читать книгу Obiad - Mehr als nur Mittagessen. Mein Jahr in Polen mit Überlebenden des Holocaust - André Biakowski - Страница 7

Einleitung

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„Obiad!“ – „Tak!“ Ein Summen. Die Wohnungstür springt auf. Der Geruch von feuchtem Putz und Reinigungsmittel liegt in der Luft. Im ersten Stock schreit ein Kind. Ein Mann in fleckiger Jacke kommt mir entgegen. Sagt etwas. Ich versteh’ nichts. „Obiad, Obiad, Obiad“, brabble ich mich synchron zu meinen Schritten Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Zweiter Stock, schaue auf das Klingelschild an der Tür. Kann den Namen vor lauter SZ- und CZ-Kombinationen nicht aussprechen. Zungenbrecher. Weiter – dritter Stock. In der Ecke eine leere Bierflasche. Etikett abgepult. Staub auf den ausgetretenen Holzstufen. Ihr Knarren suggeriert Nostalgie. Geschichte. Ein Damals.

„Obiad, Obiad“, geht es mir über die Lippen. Das „I“ vorm „A“ wird rund und mit jeder Wiederholung mehr und mehr ein „J“. Keine Ahnung, was das Wort bedeutet. Kriminologisch, ohne dafür wirkliches Talent zu besitzen, versuche ich mir „Obiad“ zu erschließen. Klingeln … „Obiad!“, das „Tak!“ aus der Sprechanlage, ein kurzes Summen, die Tür geht auf – logisch, es muss „öffnen“ heißen. „Open … Opien … Obian … Obiad“, moduliere ich das Wort aus dem Englischen so lange, bis ich im Polnischen bei „Obiad“ angekommen bin. Ganz klar „öffnen“. Imperativ. Ich bin mir sicher!

Mit einer impulsartigen Bewegung dreht die kleine faltige Hand einer Frau den Deckel des weißen Thermobehälters gegen den Uhrzeigersinn. Ihr Ehering verschiebt sich dabei und drückt sich an den benachbarten Mittelfinger. Die aufgebrachte Kraft zwingt sie, den rotgeschminkten Mund zu verziehen. Mit einem stöhnenden „Ah“ betrachtet sie ihr dampfendes Essen. Heute: Kartoffeln, Rote Beete und ein Stück Fleisch. Danach schraubt sie den Thermobehälter wieder zu, stellt ihn in der Ecke ihrer Küche ab und gibt mir fürs Vorbeibringen eine Tafel Schokolade. Lächelt mich an und winkt mir beim Verlassen der Wohnung nach. Obiad muss irgendetwas mit Öffnen heißen!, geht es mir durch den Kopf.

Wenn man eine Sprache so wie ich nicht versteht, so reduziert sich die gesamte Umgebung auf Zeichen. Oft kleine. Solche, die schnell übersehen werden. Ich habe oft versucht, alltägliche Kleinigkeiten zu hinterfragen, und stellte fest, welche Komplexität hinter vielem Kleinen steckte. Die Menschen, die ich in Łódź in meinem Jahr als Freiwilliger betreute und denen ich dieses Buch aus tiefer Dankbarkeit widme, sind Überlebende aus unterschiedlichen Ghettos sowie Konzentrationslagern. Viele von ihnen sind heute wacklig auf den Beinen. Gehstock und Brille die Insignien ihres Alters. Die Wohnungen, in denen sie jeden herzlich willkommen heißen, sind kleine Museen ihrer Geschichte. Eine alte Tasse im Schrank, innen vom Tee schwärzlich verfärbt, beginnt etwas von einem Damals zu erzählen. Von einer Zeit, die ich nur als eine Auflistung auswendig zu lernender Fakten aus meinem Geschichtsbuch kenne. Steht man aber in ihren ‚Museen‘, so beginnen die Überlebenden zu erzählen. Ich verstehe nur Zischlaute und etwas mit ego. Doch ab und an fliegen einzelne Worte an mir vorbei, die mich auf den Inhalt schließen lassen: Höss … Auschwitz … Matka … Dachau. Tränen füllen ihre Augen. Sie schlucken trocken, sind stark und sprechen weiter.

„Obiad“ heißt nicht „öffnen“. Nein, Mittagessen! Jeden Tag zwischen 10 und 14 Uhr ein Klingeln, eine Männerstimme an der Sprechanlage, „Obiad!“, ein junger deutscher Mann, der zehn Minuten Zeit hat, lächelt, das Essen im Thermobehälter abstellt und sich etwas Zeit nimmt. Einer, der die Sprache nicht versteht und doch versucht, sie im Kleinen zu sprechen. Für viele der Überlebenden liegt in diesem Moment eine Verbindlichkeit. Der junge Mann kommt jeden Tag zu mir. Zehn Minuten nicht alleine. Abwechslung für einen Moment. Ich bin alt. Er ist jung. Ich habe Geschichte, er Zukunft.

Wenn ich heute, fast eineinhalb Jahre später, an meine Zeit in Łódź zurückdenke, so war ich von Anfang an mit der polnischen Sprache überfordert. Um mich herum verstanden sich alle, lachten, wurden traurig, ernst und ich wusste nie, warum. Ich war außen vor und konnte einfach nichts sagen. Verstehen Sie? Nichts. Nicht fragen, wann eine Straßenbahn fährt. Nicht fragen, wie spät es sei. Nichts, einfach Nichts – sprachlich im luftleeren Raum. Ich hoffte einfach, dass mir niemand eine Frage stellte, die ich nicht beantworten konnte. Ich war abhängig von Menschen, die sich meiner mit Geduld annahmen. Langsam sprachen. Jedes Wort wiederholten. Ania, Sekretärin im sozialmedizinischen Zentrum, sprach ganz gut Deutsch. So, wie man eine Fremdsprache halt spricht, wenn man nie für längere Zeit im jeweiligen Ausland gearbeitet hat. Judytha, Ordensschwester im Habit und Krankenschwester aus Leidenschaft, sprach fast perfekt Deutsch und übersetzte am Anfang alles. Doch hinter der Hilfsbereitschaft beider wollte ich mich nicht verstecken. Ich hätte es mir sehr leicht machen können. Nein, mir wurde klar: André, wenn du das Land und damit seine Geschichte und Kultur in Ansätzen verstehen willst, dann kaufe dir Karteikarten und lerne. Lerne jeden Tag die neuen Wörter. Sprich und mach’ Fehler, aber versuch’, Polnisch zu sprechen! Wie fange ich an? Zeit zum Lernen nur ein knappes Jahr.

Jeden Morgen fuhr ich mit Jurek, einem Mitarbeiter des Zentrums, zur Großküche, um die 20 – 25 Mittagessen abzuholen. „Obiad“ für Menschen, Überlebende der NS-Diktatur, die sich, um ihr nacktes Leben zu schützen, in Ghettos versteckten und in den Konzentrationslagern wie Auschwitz, Dachau, Mauthausen, Ravensbrück und Groß-Rosen unter physischer und psychischer Folter als Kinder und Jugendliche um ihr Leben bangten.


Jeden Morgen fuhren Jurek und ich zu dieser Großküche, um das Mittagessen für die Essen auf Rädern Tour durch Łódź abzuholen. 25 Portionen für Menschen, Zeitzeugen des Holocaust, Überlebende. Hinter jedem Namen stand eine Geschichte. Wie oft saßen in dieser Großküche die Kochlehrlinge im Stuhlkreis, in der Mitte ein großer Topf, und schälten im Kollektiv Kartoffeln.

Um möglichst schnell die Worte zu lernen, die ich auch brauchte, hatte ich eine Idee. Jeden Morgen fragte ich Pan Andrzej, den Chefkoch einer Lodzer Großküche, was es denn heute zum Essen gäbe. Naja, ich fragte eher: „Was ist das?“ – weiter reichte mein Polnisch nicht – und deutete in den großen Topf. Sofort flog mir ein Bataillon von unbekannten Wörtern um die Ohren, von denen ich weder wusste, wo sie anfingen, noch wo das einzelne zu Ende war. Überforderung pur! Ich bat Jurek, die Geduld in Person, mir die Wörter auf meine kleinen Karteikärtchen zu schreiben. In Großbuchstaben schrieb er auf jedes Kärtchen exakt nur ein Wort. Vorderseite „Kapusta“ und auf der Rückseite die von mir mühsam rausgesuchte Übersetzung aus dem Wörterbuch: „Kraut“. So machten wir es mit allen Sachen, die es an dem jeweiligen Tag zu essen gab. Ziemnacki – Kartoffel. Mięso – Fleisch. Sos – Soße. Während der ganzen Essen-auf-Rädern-Touren im alten, grünen VW-Bus versuchte ich die Wörter in meinen Kopf zu hämmern. Ich brabbelte sie immer und immer wieder vor mich hin. Jurek am Steuer grinste nur und hob den Daumen, wenn ich eines besonders gut aussprach. Was hieß gleich noch mal Kartoffel? Ziemnia, oder so! Ich schwitzte. Mein Kopf schien einfach nur Platz für drei Wörter zu haben. Ich wiederholte und wiederholte, doch je intensiver ich diese lernte, desto weniger schien ich mir irgendeines merken zu können.

Jurek deutet auf einen Hauseingang. Zeigt die Zahl Drei mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Klingeln bei Wohnung Drei. Soweit ganz gut. Verstanden! „Obiad!“, sage ich selbstbewusst in die Sprechanlage an der Haustür. „Tak!“ Ein Summen, die Wohnungstür springt auf. Der Geruch von feuchtem Putz und Reinigungsmittel liegt in der Luft. Im ersten Stock schreit ein Kind. Freundlich öffnet mir eine Frau mit rotgeschminkten Lippen die Tür und nimmt mir den Thermobehälter ab. „Guten Tag!“, äh nein, „Dzień dobry!“ sage ich an der Türschwelle und strecke ihr meine Hand zum Gruß freundlich entgegen. Sie, in der Wohnung stehend, zieht ihre zurück. Ich versteh’ die Situation nicht ganz und kann auch nicht fragen. Bin irritiert. Erst viel später sollte ich verstehen, dass das Handreichen über eine Türschwelle Unglück bringen soll. Aberglaube oder nicht? Hier in Polen ein Stück Mentalität.

Mit einer impulsartigen Bewegung dreht die Frau mit den roten Lippen den Deckel des Thermobehälters gegen den Uhrzeigersinn, öffnet ihn und schaut hinein. Ich versuche schwitzend den Inhalt meiner heutigen Karteikarten wie bei einer Prüfung aufzusagen. „To Ziemniaki, to Mięso, to jest Sos!“ Sie richtet ihre Augen vom Thermos erstaunt zu mir auf und strahlt mich an. Ich lächle herzlich zurück! Stolz, polnisch gesprochen zu haben und verstanden worden zu sein, gehe ich zurück zu Jurek. Verschanzt hinter einer Lodzer Tageszeitung öffnet er mir die Beifahrertür und startet den Motor. Weiter geht’s zur nächsten Adresse. Noch 23 Mittagessen. 23 kleine Vokabeltests. Dann sollten die Wörter von heute sitzen.

Essen und Sprache scheinen mir der Schlüssel zu den Menschen zu sein. Nahrung die Lebensgrundlage und Worte, um allem einen definierten Namen zu geben – Nahrung für den Geist. Doch Sprache hat Grenzen. Kann nicht alles benennen. Es gibt Bereiche, da zwingt eine Ungeheuerlichkeit Worte zum Schweigen. Entmachtet diese. Eisige Kälte macht sich dann breit. Diese Kälte der Stille spürte ich immer dann, wenn mir Menschen von ihrer Kindheit sowie den Morden an ihrer Familie unter den Deutschen in den Jahren zwischen ’39 und ’45 erzählten. Nie als Vorwurf. Berichtend, um nie zu vergessen.

Neben meinen Essen-auf-Rädern-Touren durch Łódź mit Jurek, besuchte ich Menschen, die mir erzählen wollten. Von einer Kindheit zwischen Holzschaukel im Apfelbaum und den Deportationen. Niemand von ihnen erzählte mir Privates als Vorwurf oder um mich anzuklagen. Ihre zitternden Hände gaben mir oft alte, vergilbte Briefe. „Lesen Sie!“, so die immer gleiche Bitte. Eisige Stille. Ich las. Post an Vater und Mutter. Geschrieben in deutscher Sprache. Kinderhandschrift. Jeder Buchstabe sauber mit einem Bogen miteinander verbunden. Absender: Auschwitz, Dachau oder eine andere Hölle. Zeilen geschwärzt. Zensur. Beschwichtigungen in die Heimat, um nur irgendwie ein Lebenszeichen senden zu können. Immer wieder die gleichen Sätze: „Macht Euch keine Sorgen. Es geht mir gut. Ich habe Essen und Arbeit!“ Wut, Scham und tiefe Trauer stiegen in mir auf. Schwer wogen die Briefe in mir. Die historische Realität hinter den kindlichen Zeilen sowie die apokalyptischen Orte, von denen aus mit Hoffnung auf ein Wiedersehen der eigenen Mutter geschrieben wurde, machten mich im wohlbeheizten Wohnzimmer emotional zum Schuldigen. Ich schämte mich für ein Volk, das die Arroganz besaß, sich als ‚Herrenrasse‘ zu bezeichnen, und dessen Sprache ich als Muttersprache spreche. Je mehr ich von den alten Menschen erfuhr, desto mehr wuchs in mir der Wunsch, von ihnen zu lernen. Alles, was sie sagten, saugte ich wie ein Schwamm auf. Je weniger die Menschen mit Worten sprachen, desto mehr erzählten sie und desto mehr verstand ich ihre Geschichte. In der Stille. Mit dem Herzen. Aus tiefen Begegnungen wurden Freundschaften. Sie luden mich aufs Land ins Haus ihrer Kinder oder Enkel ein. Wir aßen gegrillte Griebenwurst mit Brot in der Hollywoodschaukel und ich versuchte Witze auf Polnisch zu übersetzen.

Die Eindrücke in meinem Jahr waren so intensiv, dass ich begann diese aufzuschreiben. Begann, meinen Fragen einen muttersprachlichen Raum zu geben. Es entstanden Rundbriefe an Freunde, Bekannte und Verwandte. Briefe, in denen ich versuchte, meine Begegnungen und Fragen unter einem Oberthema zusammenzufassen. Skizzierte sprachlich. Sei es auf meiner Winterrundreise durch Polen, am Krankenbett eines alten Mannes, im ehemaligen Ghetto von Łódź (Litzmannstadt), auf dem jüdischen Friedhof oder in der Synagoge. Jeder Ort schien mir Fragen zu stellen. Nicht alle konnte ich schriftlich fixieren, doch die zehn vorliegenden Briefe, die nun zu diesem Buch zusammengefasst wurden, sind mir die wichtigsten. Zehn Briefe, zehn Skizzen von einer Stadt, von einem Land und von Menschen, für die „Obiad“ mehr bedeutet als nur Mittagessen.

Obiad - Mehr als nur Mittagessen. Mein Jahr in Polen mit Überlebenden des Holocaust

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