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DER VERTRAG VON VERSAILLES

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Wenige diplomatische Urkunden wurden so widersprechend beurteilt und riefen so leidenschaftliche, noch immer nicht zum Schweigen gebrachte Gegensätze hervor wie der Vertrag von Versailles. Die einen meinten, er stelle, ohne vollkommen zu sein, ungefähr das Beste dar, was im Hinblick auf die Umstände, unter denen er ersonnen und abgefasst worden war, geschaffen werden konnte. Er war verständig, angemessen und durchführbar. Bloß eines ging ihm ab: Er wurde nicht durchgeführt. Wenn er scheiterte, lag es nicht daran, dass er überhaupt nichts taugte. Doch man hielt sich nicht an ihn. So urteilt André Tardieu in seinem Buch La Paix (Der Friede). Die gleiche Ansicht vertritt der leider 1945 in jungen Jahren getötete Etienne Mantoux in seinem sehr beachtenswerten Werk La Paix calomniée (Der verleumdete Friede). Auch Georges Bidault scheint so zu denken, wenn er in einer Rede am 13. Juni 1947 sagte: »Nicht seine Fehler haben den Vertrag von Versailles zu Fall gebracht, sondern die Tatsache, dass seine Unterzeichner nicht an ihn geglaubt und ihn nicht verteidigt haben.« Dagegen versicherte Keynes seit Dezember 1919 in seinem berühmten, in Tausenden von Exemplaren verbreiteten und in alle Sprachen übersetzten Buch Die wirtschaftlichen Folgen des Friedens, der Vertrag bedeute eine Herausforderung der Gerechtigkeit und der Vernunft, einen Versuch, Deutschland der Versklavung zuzuführen, ein Gewebe von jesuitischen Auslegungen, um die Ausraubungs- und Unterdrückungsabsichten zu bemänteln.

Manche tadelten den Vertrag, weil er zu mild, andere, weil er zu hart sei. Während der Ratifizierungsverhandlungen vor der französischen Kammer vernahm man die Verfechtung beider Anschauungen. Endlich gab es noch Beurteiler – vielleicht diejenigen mit dem größten Scharfblick –, die ihn zu mild und gleichzeitig zu hart fanden. Darunter war Jacques Bainville, dessen Definition vom »Frieden, der zu mild ist für das, was er an Härten enthält«, unvergessen ist. Zu diesen ablehnenden Beurteilern gehörte auch der Balkan-Staatsmann, den Pierre Rain in seinem vortrefflichen Buch L’Europe de Versailles (Das Europa von Versailles) zitiert; er schrieb einige Wochen vor der Unterzeichnung: »Soviel ich weiß, ist der Friede gleichzeitig zu hart und zu mild. Er legt napoleonische Bedingungen auf und möchte sie mit Mitteln Wilsons vollstrecken.« Und in der Voraussicht, dass Deutschland sich eines Tages auflehnen werde, bedauerte er, dass man es »nicht mit einem eisernen Gürtel, sondern mit den Girlanden des Völkerbundes« umgeben habe, um es in Schranken zu halten.

Die einen wie die anderen stimmten darin überein, dass der Versailler Vertrag keinen dauerhaften Frieden einleiten, ihm vielmehr wahrscheinlich ein neuer Krieg folgen werde. Nun wäre noch zu entscheiden, ob ein neuer Krieg dem Ersten Weltkrieg folgte, weil man den Vertrag durchführte oder weil man ihn nicht durchführte. Diese Kontroverse wird die Gemüter noch lange beschäftigen. Fest steht, dass der Vertrag zwanzig Jahre lang auf Europa lastete und sein Leben vergiftete; dass er auch zwanzig Jahre lang die deutsch-französischen Beziehungen belastete und vergiftete. Da er die Franzosen nicht befriedigte, sollte man annehmen, dass er die Deutschen hätte befriedigen müssen; umgekehrt hätte er die Franzosen befriedigen müssen, wenn er den Deutschen nicht behagte. Beides war nicht der Fall. Wie ist dieser scheinbare Widerspruch zu erklären?

Wir rufen uns zunächst den Vertrag von Versailles in großen Zügen ins Gedächtnis. In seinen politischen Bestimmungen sprach er Belgien Moresnet, Eupen und Malmedy zu, erstattete Frankreich das annektierte Elsaß-Lothringen zurück und überließ ihm als Ersatz für die Zerstörung der Kohlengruben in Nordfrankreich das Eigentum an den Saargruben unter der Bedingung, dass das Saargebiet von einer durch den Völkerbund ernannten Kommission, bestehend aus fünf Mitgliedern, darunter einem Deutschen, verwaltet wird. Nach Ablauf einer fünfzehnjährigen Frist sollte die Bevölkerung aufgefordert werden, sich durch eine Volksabstimmung für die Staatshoheit zu entscheiden, unter die sie sich zu begeben wünschte. Der Vertrag verpflichtete Deutschland zur Anerkennung der unabänderlichen Unabhängigkeit Österreichs in den für dieses Land festzusetzenden Grenzen sowie zur Anerkennung der Existenz eines tschechoslowakischen und eines polnischen Staates, der einen Zugang zum Meer durch einen 100 km breiten Korridor haben sollte. Dieser Korridor schnitt das alte Preußen entzwei und wurde aus Teilen der Provinzen Posen, Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien gebildet.

Danzig wurde Freie Stadt unter dem Schutz des Völkerbundes. Über das Schicksal Oberschlesiens und Schleswigs sollten Volksabstimmungen entscheiden.

Deutschland verzichtet auf alle seine Kolonien, die unter die Verwaltung der Hauptsiegermächte kraft eines Völkerbundsmandates kamen.

In dem Vertrag wurden Deutschland folgende militärische Bestimmungen auferlegt: Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, Herabsetzung der Heeresstärke auf 100 000 Mann (einschließlich 4000 Offizieren), die lediglich zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern und zum Grenzschutz bestimmt waren, sehr niedrig angesetzte Höchstzahlen für Bewaffnung, Munition und Material, Zerstörung, des überschüssigen Kriegsmaterials, Auflösung des Großen Generalstabes und aller Kriegsschulen bis auf je eine Schule für jede Waffengattung, Auflösung aller Kriegsakademien und ähnlicher Anstalten, Schleifung aller Befestigungen im Westen bis zu einer Linie 50 km östlich des Rheins, Beschränkung der Kriegsflotte auf 6 Schlachtschiffe, 6 leichte Kreuzer, 12 Zerstörer und 12 Torpedoboote, alle von geringer Wasserverdrängung, Auslieferung aller anderen Kriegsschiffe, Hilfskreuzer und Hilfsschiffe, Verbot aller Land- oder Marine-Luftstreitkräfte, Gründung einer interalliierten Kontrollkommission zur Überwachung der pünktlichen Ausführung all dieser Bestimmungen.

Der Vertrag stellte Wilhelm II. wegen »schwerster Verletzung der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge« unter Anklage. Deutschland verpflichtete sich, alle Personen an die Alliierten zur Aburteilung auszuliefern, die von ihnen wegen einer gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges verstoßenden Handlung angeklagt waren.

Teil VIII des Vertrages regelte die Frage der Wiedergutmachungen. Sein erster Artikel (231) lautete: »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.« Die Alliierten begründeten also ihr Recht auf Wiedergutmachung mit der Kriegsschuld Deutschlands. Die Reparationen sollten Sach- und Personenschäden decken, das heißt die Kosten für den Wiederaufbau der verwüsteten Gebiete und die Zahlung von Pensionen an zivile und militärische Kriegsbeschädigte, Kriegerwitwen und Kriegerwaisen. Die Höhe der Ersatzansprüche sollte später von einer Reparationskommission festgesetzt werden, die einen Plan für die Zahlungsverpflichtungen und die Tilgungsraten der Gesamtschuld während der Dauer von dreißig Jahren, beginnend mit dem 1. Mai 1921, aufzustellen hatte. Bis zu diesem Tage sollte Deutschland 20 Milliarden Goldmark zahlen.

Darüber hinaus sollte Deutschland fortgeschaffte Banknoten bar zurückerstatten, desgleichen Vieh, beschlagnahmte oder sequestrierte Wertpapiere und Gegenstände aller Art. Es sollte die versenkten Handelsschiffe ersetzen, teils durch Abtretung der eigenen, teils durch den Bau neuer Schiffe, ferner an Frankreich zehn Jahre hindurch jährlich 7 Millionen Tonnen Kohle liefern, wozu noch eine gewisse Kohlenmenge kam, die den Verlust ausgleichen sollte, den Frankreich dadurch erlitt, dass durch Zerstörung von Gruben in den Departements Norden und Pas de Calais nach dem Krieg weniger Kohle gefördert wurde als vorher. Schließlich hatte Deutschland gewisse Mengen von chemischen Erzeugnissen und Farbstoffen zu liefern.

Wir können hier die rein finanziellen Bestimmungen übergehen, ebenso die sehr ausführlichen und genauen wirtschaftlichen Bestimmungen, die Bestimmungen hinsichtlich der Häfen, Wasserstraßen und Eisenbahnen, Teil XIII über die Organisation der Arbeit und das Internationale Arbeitsamt, und uns sofort Teil XIV zuwenden mit der Überschrift »Sicherheiten für die Ausführung«.

Um aufgrund der Artikel dieses Teiles die Ausführung des Vertrages zu sichern, sollten Truppen der alliierten und assoziierten Mächte das deutsche Gebiet westlich des Rheins »einschließlich der Gesamtheit der Brückenköpfe« fünfzehn Jahre lang besetzen. Bei getreuer Erfüllung der Vertragsbedingungen sollte die Kölner Zone nach fünf Jahren, die Koblenzer Zone nach zehn Jahren geräumt werden. Die Räumung der Mainzer Zone und des Brückenkopfes von Kehl war nach Ablauf von fünfzehn Jahren vorgesehen. Wenn aber zu diesem Zeitpunkte die Sicherheiten gegen einen nichtprovozierten Angriff Deutschlands als unzureichend betrachtet wurden, konnte die Räumung so lange aufgeschoben werden, wie man es für nötig hielt, um diese Garantien zu erhalten. Stellte die Reparationskommission vor oder nach Ablauf der fünfzehn Jahre fest, dass Deutschland sich weigerte, die Gesamtheit oder einzelne der Reparationsverpflichtungen des Vertrages zu erfüllen, so durften die Besatzungszonen sofort ganz oder teilweise von Neuem besetzt werden.

Ein Rheinlandstatut ergänzte diese Bestimmungen und schuf in den besetzten Gebieten eine »Hohe Interalliierte Kommission für die rheinischen Gebiete« (H.C.I.T.R.), die aus vier Mitgliedern bestand – je einem belgischen, französischen, englischen und amerikanischen – und beauftragt war, Verordnungen, gegebenenfalls bis zur Ausrufung des Belagerungszustandes, zu erlassen, um Unterhalt, Sicherheit und Bedürfnisse der alliierten und assoziierten Streitkräfte zu gewährleisten.

Dies waren im Wesentlichen die Ergebnisse der Verhandlungen und Arbeiten der Friedenskonferenzen. Es wird immer eine beachtenswerte Leistung und ein schwer zu überbietender Rekord bleiben, dass diese Ergebnisse in vier Monaten, von Januar bis Mai 1919, erreicht und in einem konstruktiv fest zusammenhängenden Vertragswerk niedergelegt wurden, das so klar in seinen Richtlinien und so präzis auch in den geringfügigsten Einzelheiten seiner zahlreichen Anlagen und dessen Text in einer so klaren, gehaltvollen und sorgfältigen Sprache abgefasst war. Die Vergleiche, die sich in unseren Tagen aufdrängen, scheinen diesen Eindruck nicht abschwächen zu können. Ich persönlich zweifle nicht daran, dass die Nachwelt den Vertrag von Versailles als ein Denkmal ansehen wird, das von großer geistiger Kraft Zeugnis ablegt und das Verdienst hat, reiflich durchdacht zu sein, mag diese Nachwelt auch sonst über die in dem Vertrage steckende Mäßigung und die praktische Durchführbarkeit oder über die Illusionen und Utopien, denen man sich hingab, urteilen, wie sie will.

Diese Ergebnisse waren aber nicht ohne Mühen erreicht worden. Wenn es sich darum handelt, den gemeinsamen Feind zu schlagen, dann halten die Koalitionen einigermaßen zusammen. Sobald er geschlagen ist, geraten sie ins Schwanken. Die Kraft, die sie vereinigte, der Siegeswille oder die Furcht vor der Niederlage lassen nach, da sie gegenstandslos wurden. Es ist deshalb schwieriger, einen Koalitionsfrieden zu schließen als einen Koalitionskrieg zu führen, der übrigens an sich schon zur Ursache manchen Streits und manchen Hindernisses wird. Man hebt gern die Charakterunterschiede der drei beherrschenden Persönlichkeiten der Friedenskonferenz hervor. Der »Tiger« Clemenceau, ein sarkastischer Spötter, Realist, glühender Patriot, zur Menschenverachtung neigend, lebhaft, stürmisch und keinen Widerspruch duldend, autoritär, dickköpfig und wenig umgänglich. Lloyd George, geistsprühend, spitzfindig, beredsam, verführerisch, aber unwissend und ungebildet, zynisch und wankelmütig, ein auf die Schwankungen der öffentlichen Meinung achtender Demagoge, voll persönlicher Eitelkeit und nationaler Voreingenommenheit, im Grunde von Abneigung gegen Frankreich erfüllt. Wilson, schulmeisternd, idealistisch, großmütig, über Zufallswidrigkeiten schwebend, von dem Gedanken besessen, das Zeitalter der Kriege für immer zu beenden und die Welt zu erneuern, durch eine großartige und nie dagewesene Organisation die Herrschaft der internationalen Gerechtigkeit, des ewigen Friedens und der Völkerverständigung einzuleiten, von der menschlichen und amerikanischen Größe seiner Sendung überzeugt, enttäuscht und verletzt durch die Bedenken seiner Gegenspieler wie durch die Einwände seiner eigenen Landsleute.

Selbst wenn sich diese drei Männer ähnlicher gewesen wären, so hätten sie sich doch nicht weniger erbittert auseinandergesetzt und nicht leichter verständigt. Sie vertraten Länder, die im Kriege nicht dieselbe Rolle gespielt, nicht die gleichen Leiden durchgemacht hatten und deren geschichtliche Überlieferungen, deren gegenwärtige und zukünftige Interessen auseinandergingen.

Frankreich hatte die Hauptlast des Krieges getragen und die größten Opfer gebracht. Zehn seiner Departements waren verwüstet, 1 500 000 seiner Söhne gefallen. Es wollte die Sicherheit haben, dass sich eine derartige Prüfung, die zweite in weniger als fünfzig Jahren, nicht wiederholte, dass Deutschland außerstandgesetzt würde, Frankreich zu schaden. Seine Sicherheit sollte endgültig garantiert werden. Gleichzeitig schien ihm die Wiedergutmachung seiner Kriegsschäden durch ihre Urheber, die einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen hatten, ein Gebot der Gerechtigkeit. Frankreich hatte als Kriegsschauplatz gedient. Es zählte mehr Tote und Verwundete als alle seine Verbündeten. Es empörte sich gegen den Gedanken, dass es unter Umständen aus eigenen Mitteln seine zerstörten Häuser, Fabriken und Bergwerke wiederherstellen und die Pensionen für seine Kriegsversehrten, Witwen und Waisen bezahlen sollte. England erhob nicht die gleichen Sicherheits- und Wiedergutmachungsforderungen. Es hatte sich in Scapa Flow die ganze deutsche Kriegsflotte ausliefern lassen. Das war ihm Hauptangelegenheit. Von einem Deutschland ohne Marine und ohne Kolonien fühlte es sich nicht mehr beunruhigt. Es hatte keine Invasion erlebt. Es glaubte auch nicht, dass es jemals den Feind im Lande haben könne. Weder seine Häuser noch seine Fabriken und Bergwerke hatten Schaden gelitten. Dagegen erinnerte es sich daran, dass Deutschland als Lieferant und Kunde stets ein vorzüglicher Partner gewesen war, und es wünschte, so bald wie möglich seine geschäftlichen Beziehungen zu ihm wiederaufzunehmen. Deshalb durfte das Reich nicht allzu geschwächt werden. Außerdem war England in viel geringerem Maße europäische Macht als Frankreich. Seine Dominien, das »Commonwealth«, nahmen seine Aufmerksamkeit mindestens ebenso in Anspruch. Es war ihm unangenehm, dass Europa weiterhin sein Sorgenkind bleiben könnte. Der Blick, den es auf den Kontinent richtete, war jetzt durch die Furcht getrübt, Frankreich könnte dort zu stark werden, nach der Ausschaltung Deutschlands eine zu große Rolle spielen, einem Expansions- und Annexionsdrang nachgeben und in Europa eine Hegemonie ausüben. In der Vergangenheit hatte England stets die Macht bekämpft, die kontinentale Hegemonie anstrebte, das Frankreich Napoleons, das Deutschland Wilhelms II. Am Tage nach dem Siege erschien ihm Frankreich wieder gefährlich. Als ich im Oktober 1919 Mitglied einer zu einer Reise in die Vereinigten Staaten eingeladenen Handelsdelegation war, wurde ich mit meinen Kollegen vor der Abreise von Georges Clemenceau empfangen. Der »Tiger«, der immer ein herzlicher Freund Englands gewesen war und darunter zu leiden hatte, sagte uns dem Sinne nach etwa Folgendes: »England ist die Enttäuschung meines Lebens. Kein Tag vergeht, ohne dass ich von irgendeinem unserer Auslandsvertreter Berichte erhalte, worin wirklich feindselige Handlungen Englands gemeldet werden. Ich hatte geglaubt, dass die Waffenbrüderschaft, das gemeinsam vergossene Blut die alten überlieferten Vorurteile beseitigen würden. Davon ist keine Rede. Aber das ist nun mal so! In den Vereinigten Staaten ist es anders. Von dort ist noch etwas zu erhoffen; wir können auf Freundschaft rechnen. Ich wünsche Ihnen gute Reise und guten Erfolg!« Fünf Monate später weigerte sich der amerikanische Senat, den Vertrag zu ratifizieren, zu dessen Ausarbeitung Präsident Wilson so wesentlich beigetragen hatte.

Der Grund war, dass die Vereinigten Staaten noch stark der Monroedoktrin, dem überlieferten Isolationismus, anhingen. Sich so weit davon zu befreien, dass sie ein Heer aufstellten und über den Atlantik sandten, bedeutete für sie eine Initiative, eine Neuerung, eine ungewöhnlich kühne und gewagte Abweichung von allem Herkömmlichen. Die Erinnerung an Lafayette, die Gelegenheit, England, dem früheren Herrn, zu Hilfe zu eilen, hatten der Fantasie und dem Empfinden der Amerikaner geschmeichelt. Ihr stürmischer Idealismus hatte sich an dem Gedanken entflammt, in Europa zu erscheinen mit dem Ruf: »Lafayette, hier sind wir!«, als Befreier der unterdrückten Nationen, als Werkmeister der Befriedung, als Stifter einer neuen Ordnung, die in der Geschichte des Kontinents und der Menschheit einen entscheidenden Abschnitt darstellen sollte. Doch ihr anfänglicher Schwung war erlahmt. Sie waren erstaunt und entrüstet, dass man sich auf ihre Anregungen nicht mit mehr Begeisterung und Dankbarkeit stürzte; sie waren überrascht von den Hindernissen, denen sie begegneten und die ihnen Europa im Lichte eines Brandherdes unbegreiflicher Eifersucht, des Ehrgeizes, der Gewalt und Heuchelei erscheinen ließ, aus dem für sie nichts Gutes zu erwarten war. Ihr Realismus, nicht weniger tief verwurzelt als ihr Idealismus, ließ sie begreifen, dass sie sich mit Unrecht noch länger in diese europäischen Streitigkeiten einmischten, die so verwickelt und sinnlos waren. Sie schätzten es auch nicht, dass ihr Präsident sich so lange von Washington entfernt hielt und sich bei den Pariser Friedensverhandlungen nicht von geeigneten Vertretern des Senats begleiten ließ. Und ihre »boys« waren nicht allzu sehr mit dem Empfang zufrieden, den man ihnen bereitet hatte. Sie beklagten sich, man habe sie ausgebeutet, und verlangten, unverzüglich in die Heimat zurückbefördert zu werden. Schließlich gab es auch in den Vereinigten Staaten 30 Millionen Deutschamerikaner, die nicht müde wurden, Nachsicht für die unglücklichen Deutschen, Hilfe in ihrem Elend und Versöhnung mit ihnen zu predigen.

Die Ereignisse jenseits des Rheins blieben nicht ohne Einfluss auf die Atmosphäre der Konferenz. Die Angelsachsen verdächtigten die Franzosen, heimlich die an verschiedenen Stellen des Reichs auftretenden partikularistischen und separatistischen Bewegungen zu begünstigen. Sie nahmen daran Anstoß; denn sie waren der Meinung, es sei vorteilhaft, einem geeinten Deutschland gegenüberzustehen, dessen Regierung durch ihre Stabilität die Übernahme und Ausführung vertraglicher Verpflichtungen verbürgte. Aber ihre Verdächtigungen waren unbegründet und ungerecht. Weder Clemenceau noch Tardien dachten jemals daran, die partikularistische Agitation zu begünstigen. Zu einer Zeit, da es so viele Gründe gab, entgegengesetzter Auffassung zu sein, waren die beiden der Ansicht, es sei ungeschickt und vergeblich, sich der Strömung, die immer stärkerer Vereinheitlichung zutrieb, zu widersetzen. Tardieu rühmt sich dessen in seinem Buch über den Frieden, und der »Tiger« zögerte keinen Augenblick, General Mangin abzuberufen, als dieser zur Zielscheibe englischer und amerikanischer Angriffe wurde und man ihm vorwarf, zu sehr an den separatistischen Bestrebungen Dr. Dortens Anteil zu nehmen. Dagegen waren die Angelsachsen von starker Furcht erfüllt vor dem Bolschewismus und der Ausbreitung des Spartakismus in Deutschland. Sie befürchteten, dass ein Einverständnis Deutschlands mit Russland Mittel- und Westeuropa der Gefahr kommunistischer Ansteckung aussetzte. Deshalb empfanden sie eine gewisse Sympathie für die Bemühungen der deutschen demokratischen Regierung, die Revolution abzuwürgen. Sie wünschten, Deutschland nicht allzu sehr durch drakonische Forderungen zu bedrücken, ihm die Unterzeichnung des Vertrages nicht unmöglich zu machen und es nicht ins Chaos zurücksinken zu lassen. Die Franzosen räumten ein, derartige Bedenken seien nicht gegenstandslos. Aber sie ließen nicht zu, dass Deutschland unter dem Vorwand des Systemwechsels und der Einführung der republikanischen Staatsform sich auch nur im geringsten Maße der Verpflichtung entzöge, den Alliierten, besonders aber Frankreich, die Genugtuung zu geben, auf die sie berechtigten Anspruch hatten.

In der Geschichte der Friedenskonferenz traten zwei besonders kritische Augenblicke ein, in denen die Fäden der interalliierten Verhandlungen abzureißen schienen: der erste während der Erörterung des Problems der Rheingrenze, der zweite wegen des Schicksals des Saargebiets. Schon 1917 hatte Aristide Briand die Regierung des Zaren Nikolaus II. unmittelbar vor ihrem Sturz gebeten, später die französische Forderung nach einer Ostgrenze zu unterstützen, die sich bis zu den Grenzen des ehemaligen Fürstentums Lothringen erstrecken und nach strategischen Gesichtspunkten gezogen werden sollte, wodurch das Lothringer Erzbecken und das Saargebiet Frankreich einverleibt wurden. Der übrige Teil des linken Rheinufers sollte von Deutschland politisch und wirtschaftlich abgetrennt und in selbstständige und neutrale Staaten unter französischer militärischer Besetzung bis zur völligen Erfüllung der Friedensbedingungen durch den Feind aufgeteilt werden.

Am 27. November 1918 und am 10. Januar 1919 hatte Marschall Foch an Clemenceau zwei Denkschriften gerichtet, in denen er die Festsetzung der militärischen Grenze Deutschlands am Rhein forderte. Diese Schranke hielt er nicht nur für die französische, sondern auch für die englische Sicherheit für unbedingt notwendig. Die Gebiete auf dem linken Rheinufer sollten selbstständige Staaten bilden und auf ihren Wunsch durch eine Zollunion mit Frankreich, Belgien, ja, sogar mit England verbunden, gleichwohl aber von alliierten Streitkräften besetzt werden.

Für Frankreich war es ziemlich schwierig, diese Forderung zu unterstützen und gleichzeitig zu beteuern, dass es weder Annexionen noch Angriffe auf die Reichseinheit beabsichtige. Es war auch nicht gut verständlich, wie die etwaigen Staaten auf dem linken Rheinufer zugleich autonom und militärisch besetzt sein sollten. Ebenso wenig verstand man, wie sich Frankreich – ohne in Widerspruch mit sich selbst zu geraten – dem von Dorten angepriesenen rheinischen Separatismus und den föderalistischen Plänen eines Adenauer und Trimborn gegenüber gleichgültig verhalten, gleichzeitig aber die Schaffung unabhängiger Staaten auf dem linken Rheinufer betreiben konnte. Clemenceau und Tardieu machten sich indessen die Forderung Marschall Fochs zu eigen. In einem Memorandum vom 12. Februar und einer Note vom 12. März 1919 verlangten sie die militärische Rheingrenze, die Abtrennung des linken Rheinufers von Deutschland, die Umwandlung dieses Gebiets in ein oder mehrere unabhängige Staaten unter dem Schutz des Völkerbundes und deren Besetzung durch interalliierte Truppen kraft Mandats desselben Völkerbundes.

England gab sofort seine unbedingte Opposition gegen die französische Forderung kund, und Amerika schloss sich ihm an. Um aus dieser ausweglosen Situation herauszukommen, schlug Wilson, der von einem kurzen Aufenthalt in Amerika zurückgekehrt war, am 14. März im Verein mit Lloyd George vor, die von den Franzosen geforderte Sicherheitsgarantie der militärischen Besetzung deutscher Gebietsteile und die Gründung unabhängiger Staaten auf dem linken Rheinufer durch eine solidarische englische und amerikanische Verpflichtung zur Hilfeleistung an Frankreich im Falle eines nichtprovozierten deutschen Angriffs zu ersetzen.

Selbstverständlich musste die vorgeschlagene Verpflichtung die Zustimmung des Senats der Vereinigten Staaten erhalten. Wenn Amerika sie nicht ratifizierte, war England ipso facto von dieser Verpflichtung entbunden. Unter diesen Umständen zögerte Clemenceau und weigerte sich, abzuschließen. Am 7. April befahl Wilson, das Schiff seeklar zu machen, das ihn in die Vereinigten Staaten zurückbringen sollte.

Da der Bruch drohte, gab Clemenceau nach. Und als Gegenleistung für den englisch-amerikanischen Garantievertrag willigte er in die Bestimmungen über die militärische Besetzung der drei rheinischen Zonen auf fünfzehn Jahre und in das Rheinlandstatut ein, durch das die oben erwähnte Hohe Interalliierte Rheinlandkommission eingesetzt wurde. Von der Gründung eines oder mehrerer selbstständiger Staaten auf dem linken Rheinufer war nicht mehr die Rede, aber dieser Gedanke wurde nicht endgültig begraben, ebenso wenig wie die Verdächtigungen und Einwände der Engländer. Sie tauchten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf, als es sich darum handelte, über das Los Deutschlands und dessen Westgrenze sowie über die Frage der französischen Sicherheit eine Entscheidung zu treffen. Nach 28 Jahren wurde dieser Gedanke ungefähr in der gleichen Form wieder aufs Tapet gebracht.

Die Frage der Rheingrenze hatte Frankreich besonders in Gegensatz zu England gestellt. Die Festsetzung des Saarstatuts führte hauptsächlich zum Konflikt mit dem Präsidenten Wilson. Die französischen Unterhändler hatten die Wiederherstellung der um einige Gebiete, besonders die Städte Saarbrücken und Landau, erweiterten Grenze von 1814 verlangt sowie den Besitz des Saarbeckens, dessen Kohlengruben für Frankreich und die wiedergewonnenen Provinzen unentbehrlich waren.

Die Engländer standen jeder Annexion feindlich gegenüber, nicht aber der Bildung eines unabhängigen Staates, der mit Frankreich durch Zollunion verbunden war, ebenso wenig der Abtretung der staatlichen Saargruben. Doch Wilson protestierte mit größter Heftigkeit und beschuldigte die Franzosen, so wie die Deutschen im Jahre 1871 zu handeln und ein zweites Elsaß-Lothringen vorzubereiten. Er hatte den Plan eines unabhängigen Staates und der Abtretung der Gruben an Frankreich verworfen. Und er drohte mit dem Bruch, getrieben von einigen seiner Berater, die ihn gegen den französischen Imperialismus aufzuhetzen und ihn zu bewegen suchten, seine Politik aufzugeben und zum Isolationismus zurückzukehren.

Auch hierin gab Frankreich nach und begnügte sich mit einer Lösung, wonach die Saar wirtschaftlich mit dem französischen Gebiet verbunden, ihm das Eigentumsrecht an den Kohlengruben übertragen und ein Saarstaat gebildet wurde, jedoch unter der Verwaltung einer interalliierten Regierungskommission und unter Aufsicht des Völkerbundes. Die ganze Regelung hatte den Charakter eines Provisoriums. Sie sollte nach fünfzehn Jahren durch eine Volksabstimmung wieder infrage gestellt werden, die der Bevölkerung Gelegenheit geben sollte, selbst über ihr endgültiges Statut zu entscheiden.

Die Saarfrage, in der 1935 die Volksabstimmung gegen uns entschied, erstand, ebenso wie das Rheinproblem, seit 1945 aufs Neue und zeigt sich in keinem anderen Lichte als 1919. Die auf der Moskauer Konferenz vertretene französische These ist eng mit der verwandt, die André Tardieu vor 28 Jahren vertrat. Sie besteht nicht mehr auf politischer Annexion, fordert aber neuerlich die Abtrennung der Saar von Deutschland, die Zollgemeinschaft und das Eigentumsrecht an den Gruben. Und heute wie einstens neigt England dazu, unsere Wünsche zu erfüllen; Amerika hat es weniger eilig, Russland aber lehnt ab.

Die Lösung der Rhein- und Saarkonflikte auf der Friedenskonferenz von 1919 hatte außerdem den Charakter eines ehrlichen Ausgleichs. Jeder machte dem anderen ein Zugeständnis und erhielt von ihm eine Gegenleistung. Niemand war absoluter Sieger oder Verlierer. Es wäre schwer gewesen, sich besser aus der Affäre zu ziehen.

Obwohl die Alliierten in vielen Punkten geteilter Meinung waren, hatten sie sich wahrhaft um Ausgleich bemüht. Keiner von ihnen wich jemals der Suche nach einem ehrenhaften Kompromiss aus. Man mag das Ergebnis ihrer Auseinandersetzungen beurteilen, wie man will. Jedenfalls haben die Alliierten Weite des Blicks, geistige Vornehmheit, Gefühlsstärke und Verantwortungsbewusstsein bekundet, die, wie wir innig wünschen, von ihren Nachfolgern erreicht werden mögen, aber gewiss nicht übertroffen werden können.

Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten bildeten sie nach außen hin eine Einheitsfront und wiesen deshalb den Gedanken zurück, mit den Deutschen zu verhandeln. Am 7. Mai 1919 übergaben sie den Bevollmächtigten des Gegners die von ihnen getroffenen allgemeinen Bestimmungen des Vertrages sowie die Sonderbestimmungen für Deutschland und vertagten die Entscheidungen über die Organisation des europäischen Donauraums und des Balkans auf später. Denn sie waren – wie wir glauben, mit Recht – der Ansicht, dass das deutsche Problem das Hauptstück des Vertrages sei und man mit ihm beginnen müsse. Die Einwände der deutschen Delegierten hatten einige nebensächliche Änderungen zur Folge. Von ihren Gegenvorschlägen waren manche nicht ohne Interesse, z. B. der Vorschlag, dass das Reich eine Pauschalschuldsumme von 100 Milliarden anerkennen wollte, die durch Einzahlung eines bestimmten Betrages aus den Steuer-, Monopolund Zolleinnahmen in eine besondere Kasse verbürgt war, aber die Alliierten sahen von einer Prüfung der deutschen Anregungen ab. Sie forderten die Annahme oder Ablehnung ihrer Fassung des Friedensvertrages binnen einer sehr kurzen Frist. Im Falle der Ablehnung würden die militärischen Operationen wiederaufgenommen. War das richtig? Anscheinend sagten sie sich, dass Deutschland sich niemals gutwillig den ihm bekanntgegebenen Bedingungen fügen, eine Auseinandersetzung mit ihm sich unendlich lange – und nicht ohne Gefahr – hinziehen und schließlich doch mit einem Ultimatum enden würde. Deshalb zogen sie es vor, sofort ihren Willen durchzusetzen.

So war es den Deutschen möglich, von Anfang an gegen die ihnen angetane Vergewaltigung zu protestieren. Der Vertrag von Versailles war nicht durch Verhandlungen zustande gekommen. Es war ein diktierter Vertrag, ein »Diktat«, das einzig und allein auf dem Recht des Stärkeren beruhte. Dem ist entgegenzuhalten, dass Verträge, die einen Krieg beenden, stets mehr oder minder die Hinnahme des Siegerwillens durch den Besiegten bedeuten. Doch die Deutschen hielten sich nicht für besiegt, nicht für militärisch besiegt. Naiverweise rechneten sie damit, der Friede werde so sein, wie ihn der Reichstag 1917 empfohlen und wie Prinz Max von Baden ihn im Oktober 1918 erbeten hatte: ein Verständigungsfriede. Sie hatten nicht die geringste Vorstellung von den Gefühlen und Rachegedanken, die sie bei ihren Gegnern und in der ganzen Welt hervorgerufen hatten.

Schon die Waffenstillstandsbedingungen versetzten sie durch ihre Härte in Bestürzung. Ihre Bewunderung für Marschall Foch verwandelte sich in tiefen Groll. Für die Weigerung der Alliierten, zu verhandeln, und den in ihren Augen unmäßigen und unbarmherzigen Charakter des Friedensvertrages machten sie in erster Linie Clemenceau verantwortlich, weil es Clemenceau war, der im Namen der Alliierten zu ihnen sprach. Frankreich wurde daher sehr rasch für die Deutschen der Feind Nummer eins, der nur auf ihren Untergang bedacht war, und ihr Hass steigerte sich in den folgenden Jahren immer weiter bis zur höchsten Erbitterung. Seltsamerweise wurden sich die Franzosen darüber niemals so recht klar. Sie waren so völlig von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt, ihre Sicherheits- und Wiedergutmachungsforderungen schienen ihnen so natürlich und der gesunden Vernunft wie der Billigkeit entsprechend, sie fühlten sich selbst so weit von der Erfüllung aller ihrer Wünsche entfernt, dass sie kaum begriffen, wie Deutschland sie verabscheuen könne. Man wird sehen, wie sie hartnäckig auf der Erfüllung ihrer rechtmäßigen Forderungen bestehen, gleichzeitig aber eine Entspannung, eine Verständigung mit dem Reich suchen, ohne recht zu begreifen, dass das Reich sich ihnen nur annähern würde, wenn sie auf einen Teil ihrer Rechtsansprüche verzichteten. Die Franzosen glaubten, ein politischer Gegensatz schließe nicht notwendig auch einen wirtschaftlichen Gegensatz ein. Wiederholt bemühten sie sich, in den zwanzig Jahren zwischen den beiden Weltkriegen, ja, schon bald nach dem Friedensschluss, mit Alexandre Millerand und Botschafter Charles Laurent, dem Präsidenten des Verbandes der Metall- und Montanindustrie, späterem Botschafter in Berlin, Formeln für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu finden.

Den Deutschen mussten bei ihrer geistigen Einstellung die politischen Bestimmungen des »Diktats« ungeheuerlich erscheinen. Der polnische Korridor schnitt in ihr lebendiges Fleisch. Preußen und damit Deutschlands Aufstieg ging auf die Vereinigung der ostpreußischen Provinzen mit der Mark Brandenburg zurück. Zwei Jahrhunderte deutscher Geschichte wurden in Versailles glatt verleugnet, und dies zugunsten eines Volkes zweiten Ranges, der verhassten und verachteten Polen, der »Polacken«. Danzig und Memel wurden Deutschland geraubt, dem sie allein ihr kulturelles Ansehen verdankten. Dass Elsaß-Lothringen an Frankreich zurückgegeben wurde, war keine Überraschung. Man fand sich damit ab. Ebenso fügte man sich in die Abtretung Nordschleswigs, Eupens und Malmedys, sowie in den Verzicht auf die Kolonien, die dem deutschen Volk niemals sehr am Herzen gelegen waren. Aber jeder Deutsche war außer sich darüber, dass man seinem Vaterlande die Provinz Oberschlesien, deren Blüte einzig und allein deutsches Werk war, streitig und ihr Schicksal vom Ergebnis einer Volksabstimmung abhängig machen wollte.

Die militärischen Bestimmungen des Vertrages riefen keine geringere Entrüstung hervor. Für jeden Deutschen bedeutete die Aufhebung der militärischen Dienstpflicht einen schmerzlichen Verlust, die Verweisung der glorreichen und großartigen alten Armee auf den Rang eines kleinen Heeres ohne Flugzeuge, Panzer und schwere Artillerie eine furchtbare Demütigung, die Einsetzung einer Kontrollkommission, die überall herumschnüffelte, einen unerträglichen Zwang, und die zeitweilige Besetzung des linken Rheinufers und der Brückenköpfe durch fremde Truppen, zum Teil durch Senegalesenregimenter, eine Schande, die »schwarze Schmach«.

Die finanziellen Bestimmungen wurden ebenfalls nicht als zulässig angesehen. Die geforderten Summen stellten keine reale Größe dar. Sie waren von astronomischer Höhe. Es konnte keine Rede davon sein, sie je zu bezahlen. So wie die Deutschen das Wort »Diktat« geprägt hatten, um den ganzen Vertrag zu brandmarken, prägten sie nun ein Wort zur Bezeichnung der finanziellen Forderungen der Alliierten, besonders Frankreichs. Diese finanziellen Forderungen waren keine Entschädigung, nicht einmal eine Wiedergutmachung; sie waren ein »Tribut«, wie er nur von versklavten Völkern erhoben wird. Was aber die Deutschen vielleicht noch mehr als alles andere verletzte, war die moralische Diskriminierung, womit der Vertrag sie traf, die Behauptung, dass sie am Kriege schuld seien. Mit Artikel 231 zwang man sie dazu, anzuerkennen, dass sie für den Angriff von 1914 verantwortlich und nun verpflichtet seien, die Folgen dieses Verbrechens wiedergutzumachen. Die Vorurteilsfreiesten unter den Deutschen wollten wohl eine geteilte Verantwortlichkeit für den Krieg zugeben, aber mit Ausnahme einer Handvoll Leute, die wussten, was sich am Vorabend des Krieges von 1914 hinter den Kulissen der kaiserlichen Regierung abgespielt hatte, erkannte niemand die These der Kriegsschuld an, am wenigsten die der kollektiven Schuld.

Die Deutschen wiesen diese These 1919 zurück. Sie weisen sie auch heute, nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes, ebenso zornig und sogar mit noch weniger stichhaltigen Gründen zurück.

Es verletzte sie zutiefst, dass man sie nicht für würdig hielt, ohne Weiteres in den Völkerbund einzutreten, dass man sie als Verworfene und Aussätzige betrachtete.

Traf ihre Behauptung zu, dass der Vertrag von Versailles sich über die 14 Punkte Wilsons hinweggesetzt hatte? War es richtig, dass sie Opfer eines Betrugs geworden waren, als man ihnen diesen Köder vorhielt, um sie zum Waffenstillstand zu verlocken, ihn aber preisgab, als man sie so weit hatte?

Um die Wahrheit dieser Behauptung zu prüfen, braucht man nur auf diese 14 Punkte zurückzugreifen:

1.Räumung und Wiederherstellung Belgiens ohne jeden Versuch einer Einschränkung seiner Souveränität

2.Räumung des französischen Gebiets; Wiederherstellung seiner besetzten Gebiete; Wiedergutmachung des Frankreich 1871 zugefügten Unrechts in Bezug auf Elsaß-Lothringen

3.Räumung des russischen Gebiets und eine Regelung, die es Russland gestattet, über sein Schicksal in voller Unabhängigkeit zu entscheiden

4.Berichtigung der italienischen Grenzen gemäß dem Nationalitätenprinzip

5.Möglichkeit autonomer Entwicklung für die Völker Österreich-Ungarns

6.Räumung und Wiederherstellung Rumäniens, Serbiens und Montenegros; freier Zugang zum Meer für Serbien

7.Beschränkung der ottomanischen Souveränität auf die tatsächlich türkischen Gebiete; Autonomie für alle anderen Nationalitäten; internationale Garantien für den freien Durchgang durch die Dardanellen

8.Ein unabhängiges Polen mit freiem Zugang zum Meer

9.Bildung eines Völkerbundes zum Zweck der Gewährung gegenseitiger Garantien für politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität sowohl für die großen wie für die kleinen Staaten

10.Unparteiische Regelung der Kolonialfragen

11.Wechselseitige Garantien für die Herabsetzung der Rüstungen

12.Nach Möglichkeit Aufhebung der wirtschaftlichen Schranken; gleichmäßige Handelsbedingungen für alle Nationen

13.Freiheit der Meere

14.Öffentliche Friedensverträge unter Ausschluss geheimer Abmachungen zwischen den Nationen für die Zukunft

Diesem von Wilson entworfenen Programm schenkte Deutschland weder Aufmerksamkeit noch Interesse, als es am 8. Januar 1918 veröffentlicht wurde. Liest man es durch, so kann man darin in Wahrheit nur die Vorahnung der großen Umrisse erblicken, in denen die Gestalt Europas aus den Beratungen und Entscheidungen der Friedenskonferenz hervorging.

Was nun Deutschland betrifft, so findet man darin nichts, was in flagrantem Widerspruch zu den Bestimmungen des Vertrages steht, mit Ausnahme vielleicht des 10. Punktes, der von der unparteiischen Regelung der Kolonialfragen spricht. Und auch da könnte man noch über den Sinn des Wortes »unparteiisch« streiten. Übrigens war es nicht der Verlust ihrer Kolonien, der die Deutschen am meisten schmerzte.

Wenn es nun auch normal war, dass die Deutschen sich in ihrem Stolz und in ihren unermesslichen Illusionen durch die Bestimmungen des ihnen auferlegten Vertrages verletzt fühlten, wie kam es, dass die Franzosen ihrerseits mit diesen kaum weniger unzufrieden waren?

Die Rückgewinnung Elsaß-Lothringens war für sie ein Anlass tiefer Befriedigung, aber in ihren Augen war sie nur die Beseitigung einer Ungerechtigkeit, kein positiver Gewinn. Von lebenswichtigem Interesse erschienen ihnen die Probleme der Wiedergutmachung ihrer Kriegsschäden und ihrer Sicherheit. Diese aber waren nur unvollkommen, fragwürdig und zu beiläufig gelöst worden.

Grundsätzlich war in dem Vertrag das Recht auf vollständige Wiedergutmachung der in Frankreich erlittenen Personen- und Sachschäden anerkannt worden. Allerdings hatte man tatsächlich weder die für die vollständige Wiedergutmachung dieser Schäden notwendige Summe noch die Modalitäten ihrer Einhebung und Zahlung festgesetzt. Hierfür sollte die Reparationskommission sorgen. Da sie jedoch aus Vertretern der alliierten Regierungen bestand, musste man sich fragen, ob ihr das glücken würde, nachdem es den Vertretern derselben Regierungen während der Verhandlungen der Friedenskonferenz nicht gelungen war. Die in dieser Hinsicht auf Frankreich lastende Ungewissheit war umso bedenklicher, als sich der französische Staat seit April 1919 unverzüglich an Stelle Deutschlands gegenüber den Geschädigten zur Vergütung ihrer Schäden verpflichtet hatte. Diese Handlungsweise stand einzig da. 1871 hatte man Thiers nahegelegt, die Franzosen zu entschädigen, deren Hab und Gut im Kriege zerstört worden war. Er hatte es aufs heftigste abgelehnt und ausgerufen: »Ihr wollt also, dass der Staat Bankrott macht?« Der französische Staat war also verpflichtet, seinen Angehörigen Zahlungen zu leisten, die er selbst noch nicht von seinem Schuldner erhalten hatte. So musste er das unerfreuliche Aussehen eines auf Zwangsvollstreckung gegenüber einem widerspenstigen Schuldner versessenen Gerichtsvollziehers annehmen, eines auf sein Pfund Fleisch erpichten Shylock. Er hätte hinter einer Schuldforderung herlaufen müssen, die er nur mithilfe seiner Alliierten hätte eintreiben können, die an der Sache weniger interessiert waren als er selbst und mit der Zeit seines Drängens müde geworden wären. Und dies hätte sich natürlich auf die Beziehungen zwischen Gläubiger und Schuldner ausgewirkt. Die deutsch-französischen Beziehungen hätten sich im Zustand einer ständigen Krise befunden. Der Friede wäre lahm geblieben.

Das Saarstatut verschaffte Frankreich wertvolle Kohlenzuschüsse, aber seine Dauer war begrenzt und es konnte einer Revision unterzogen werden.

Auch hinsichtlich seiner Sicherheit wurde Frankreich nicht von seinen Sorgen befreit. Die Vorschriften des Vertrages waren streng, doch sie mussten auch eingehalten werden. Eine Kontrollkommission sollte darüber wachen – eine undankbare und schwierige Aufgabe gegenüber einem Land, das sich der Kontrolle zu entziehen suchte. Ein französischer General sollte Präsident der Kommission sein. Wieder wäre es also Frankreich, das sich dadurch in erster Linie der Rachsucht der Deutschen aussetzte. Überdies war es recht ungewiss, ob das von den Versailler Vertragspartnern beschlossene System des Berufsheeres, das sich auf dem Wege langfristiger Anwerbungen ergänzte, wirklich das am wenigsten gefährliche von allen war. Unter der Voraussetzung, dass eine Entwaffnung Deutschlands tatsächlich erreicht wurde, musste man sodann zur allgemeinen Abrüstung der anderen Länder übergehen. Denn der Vertrag besagte ausdrücklich – und Clemenceau hatte es in einem Brief an die deutsche Delegation bestätigt –, dass die Entwaffnung Deutschlands nur das Vorspiel zu einer allgemeinen Abrüstung wäre; und dies eröffnete recht beunruhigende Aussichten. Schließlich hatte Frankreich als Entgelt für einen englisch-amerikanischen Hilfspakt auf die Rheingrenze verzichtet. Würde dieser Pakt ratifiziert werden? Wurde er es nicht – und er sollte es tatsächlich nicht werden; am 19. März 1920 war er schon hinfällig –, so war Frankreich überlistet worden. Nach fünfzehn Jahren sollte die Besetzung des linken Rheinufers ein Ende nehmen. Fünfzehn Jahre, das war die Zeit, die Deutschland brauchte, um sich wieder zu erheben und seine Kräfte wiederherzustellen. Mit anderen Worten, die durch die Besetzung gegebenen Garantien schwanden in demselben Augenblick dahin, da sie zur Notwendigkeit wurden. Auf diese Fehler und künftigen Gefahren hat niemand mit größerer Deutlichkeit und größerem Nachdruck hingewiesen als Marschall Foch noch vor der Übergabe des Textes an die deutschen Delegierten, und es kam deswegen zu einem unheilbaren Bruch zwischen ihm und Clemenceau.

Richtig ist, dass man dem allerdings entgegenhalten konnte, den bedingten und vorübergehenden Sicherheitsgarantien für Frankreich ordne sich die allgemeine Garantie über, die durch die Einsetzung des Völkerbundes gegeben war. Der Völkerbund war in der Tat das Hauptstück des Vertrages, seine Krönung und sein Dach. Mit dem Text der Völkerbundssatzung, des Paktes einer Liga der Nationen, hob das Buch des Vertrages an. Der Gedanke einer Vereinigung der Nationen zur Erhaltung des Friedens und ewigen Verbannung des Krieges war nicht neu. Er spukte seit Jahrhunderten in den Köpfen der Menschheit. Wilson hatte ihn nicht erfunden, aber er hatte ihn sich zu eigen gemacht. In ihn hatte er sein ganzes idealistisches und puritanisches Vertrauen gesetzt, die innere Glut eines Kreuzfahrers und auch seine Sehnsucht, in der Geschichte eine unverwischbare Spur zu hinterlassen. Übrigens entsprachen seine Gefühle denen der Frontkämpfer, und die Verwirklichung des Plans, die Veröffentlichung des Statuts der Liga hatten eine mächtige Woge der Hoffnung erregt.

Aber der Völkerbund war mit schweren Gebrechen behaftet zur Welt gekommen. Der Pakt, der ihn begründete, war an den Friedensvertrag gebunden. Er verpflichtete die Mitglieder, die Gerechtigkeit walten zu lassen und die Vertragsverpflichtungen unbedingt zu achten. Nun leugneten aber die besiegten Völker, dass der Vertrag auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit aufgebaut sei. Sollten sie sich nun verpflichten, einen Vertrag einzuhalten, den sie für ungerecht hielten? Zunächst waren sie gar nicht zum Völkerbund zugelassen. Der Pakt sah in seinem Artikel 19 auch eine Revision der Verträge für den Fall vor, dass ihre Aufrechterhaltung den Frieden gefährdete. Logischerweise hätten die Besiegten und vor allem Deutschland erst in den Bund eintreten müssen, nachdem dieser geprüft hätte, ob ein Anlass zur Revision des Vertrages vorläge, damit dieser den Besiegten als gerecht erschien. Revision des Vertrages bedeutete aber ein Wiederaufreißen der alten Wunden und neue Streitigkeiten. Man ließ es nie dazu kommen; und in der Frucht des Völkerbundes barg sich von Anfang an ein Wurm.

Im Übrigen hatte der Völkerbund einen mehr platonischen als praktischen Charakter. Er war sowohl im Rat als auch in der Vollversammlung einer einstimmigen Beschlussfassung unterworfen. Dies lähmte ihn, so wie heute das Vetorecht die UNO, seine Nachfolgerin, lähmt.

Gegen den Wunsch der französischen Vertreter verfügte der Völkerbund über keine bewaffnete Streitmacht, um seine Beschlüsse durchzusetzen. Er hatte keinen Gendarmen, keine weltliche Streitmacht, um sich Achtung zu verschaffen.

Immerhin versprachen seine Mitglieder, sich gemeinsam jedem Angriff oder jeder Angriffsdrohung gegen einen von ihnen zu widersetzen. In diesem Fall sollte der Völkerbund die notwendigen Maßnahmen treffen. Der Artikel 10 besagte nichts mehr darüber. Artikel 16 ging einen Schritt weiter. Er verfügte die wirtschaftliche und finanzielle Boykottierung des Angreifers und beauftragte den Völkerbundsrat, den beteiligten Regierungen die Stärke der Streitkräfte zu empfehlen, mit denen die Bundesmitglieder ihrerseits an der Aufstellung der bewaffneten Macht teilzunehmen hätten, die zur Wahrung der Bundespflichten bestimmt sein sollte. Aber auch da handelte es sich lediglich um eine Empfehlung, und die Bereitstellung eines rasch und wirksam funktionierenden Sanktionsmechanismus wurde niemals näher festgelegt, geschweige denn automatisch einsetzende Sanktionen.

Des Weiteren gestattete die Völkerbundssatzung den Abschluss regionaler Verträge. Hierdurch gab sie in einer Vereinigung, die eine einzige Familie hätte bilden sollen, besonderen Gruppierungen von Nationen Raum, was bei den übrigen Misstrauen und Eifersucht hervorrief.

Im Grunde setzte das Statut bei den Bundesmitgliedern den guten Willen und die Zustimmung zur Aufgabe eines Teils ihrer nationalen Souveränitätsrechte zugunsten der internationalen Obrigkeit voraus. Nicht ein Einziges von ihnen war dazu bereit. Es setzte ferner voraus, dass der von dem Rat oder der Bundesversammlung ausgeübte moralische Druck die Friedensstörer der Ordnung wieder zuführt und sich diese damit begnügten, sich an das Schiedsgericht oder den ständigen internationalen Gerichtshof zu wenden. Voraussetzung für diesen moralischen Druck war wieder eine enge Solidarität zwischen den Nationen. Diese hatte sich aber schon unter den Siegern während der Friedensverhandlungen als fragwürdig erwiesen. Sie verstärkte sich in der Folgezeit nicht, sondern schwächte sich noch ab.

Nachdem Genf schöne Tage erlebt hatte, wurde es bald der Schauplatz eines eigenartigen Parlamentarismus mit seinen verschiedenen Kundenkreisen, seinen Kulissenmanövern, pomphaften Reden, wohl abgewogenen und in spezifischem Genfer Stil abgefassten Anträgen. Es bestand keine Übereinstimmung mehr zwischen der Atmosphäre der internationalen Hauptstadt und derjenigen der Hauptstädte der einzelnen Länder; und überall versiegte allmählich die anfängliche Begeisterung der öffentlichen Meinung.

Die zusätzliche Sicherheitsgarantie, die Frankreich im Völkerbund finden konnte, war also, wenn nicht gleich Null, so doch keineswegs von Dauer. Sie war problematisch. Sie hing davon ab, was der Völkerbund selbst wurde, von der Macht und Autorität, die er sich zu erwerben und die er auszuüben wusste. So wie Frankreich hinter den Reparationen herlaufen musste, so musste es auch hinter einer Sicherheit herlaufen, die ihm der Versailler Vertrag nur zur Hälfte und zeitlich beschränkt garantierte, und der Amerika neun Monate nach der Unterzeichnung durch Verleugnung Wilsons, durch die des anglo-amerikanischen Sicherheitspaktes und des Völkerbundes einen furchtbaren Schlag versetzte. Darauf wollte Raymond Poincaré hinweisen, als er sagte, dass »der Versailler Vertrag keinen Abschluss, sondern eine fortdauernde Neuschöpfung darstelle«. Der Vertrag war vielmehr der Schöpfer immer neuer Schwierigkeiten, und auf seinem Weg türmten sich bei jedem Schritt Hindernisse auf.

Von Versailles bis Potsdam

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