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DIE NATIONALVERSAMMLUNG VON WEIMAR

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Am 9. November 1918 hatte die deutsche Revolution die Republik ausgerufen. Die Arbeiter- und Soldatenräte und ihr Berliner Kongress, der Zentralrat und der Vollzugsrat, waren gewissermaßen der Ersatz für ein Parlament. Die Regierung lag in den Händen des Rates der Volksbeauftragten. Aber dies alles, das sich in fieberhafter Verwirrung, in der Anarchie, in erbitterten Kämpfen und blutigen Zusammenstößen abgespielt hatte, konnte nur eine provisorische Lösung sein. Im Lande lebte eine ungeheure Sehnsucht nach Beständigkeit und gesetzlicher Ordnung. Es war notwendig, die Lage irgendwie gesetzlich zu unterbauen, diesem Regime, das eines schönen Tages durch Scheidemann von einem Balkon herab ausgerufen worden war, eine Form, führende Männer, einen Rahmen und einen Inhalt zu geben. Darüber hatte bis jetzt niemand ernstlich nachgedacht. Das alte kaiserliche Regime wurde einhellig als abgeschafft betrachtet. Es war mit einem Schlage zusammengebrochen. Niemand dachte daran, es wieder einzuführen. Jedermann war damit einverstanden, dass es zweckmäßiger wäre, es durch ein dem Regime der Siegerstaaten ähnliches System zu ersetzen; es sollte diese geneigt machen, ein von jenem Reich, das sie bekämpft hatten, verschiedenes Deutschland wohlwollend zu behandeln. Allerdings wusste man nicht, welche Struktur und welchen Umriss dieses System haben sollte. Man fühlte indessen, dass die Zeit drängte. Wenn das Chaos andauerte, würden die Alliierten nicht mit den Friedensverhandlungen beginnen und sich versucht fühlen, in Deutschland einzufallen, um dort Ordnung zu schaffen. Also musste man sich so früh wie möglich vertragsfähig zeigen.

Noch eine andere Frage lastete auf den Gemütern. Die Novemberrevolution stand unter einem politischen, aber auch unter einem sozialen Zeichen. Sie war das Werk von Sozialisten, die zwar in feindliche Lager gespalten waren, aber alle in ihren Programmen seit Jahren eine mehr oder minder gründliche Umgestaltung der Gesellschaft forderten. War die Stunde für diese Neugestaltung gekommen? Welchen Charakter würde sie haben? Wie weit würde sie in sozialistischer Richtung gehen? Würden sich die von der Revolution aufgebrochenen Türen weit öffnen oder wieder vorsichtig schließen? Diese Frage stellte man sich, hoffnungsvoll oder sorgenvoll, je nachdem, welcher Gesellschaftsschicht man angehörte.

Auf diese Fragen und Nöte konnte nur eine von ganz Deutschland auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechts gewählte konstituierende Nationalversammlung die Antwort geben.

Obwohl das Land noch von revolutionären Zuckungen erschüttert wurde, dazu in Berlin drei Tage vorher Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet und der Spartakismus von den Einheiten des Heeres und der Freikorps grausam unterdrückt worden waren, fanden die Wahlen am 19. Januar 1919 ohne bemerkenswerte Zwischenfälle statt. Von 37 Millionen Wählern beteiligten sich 30 Millionen. Die tief gekränkten und wütenden Kommunisten enthalten sich der Stimme.

Die sich zur Wahl stellenden Parteien sind die gleichen wie einstmals, aber sie haben sich neue Namen zugelegt, in die das Wort »Volk« aufgenommen wird.

Die früheren Konservativen, Junker, Großgrundbesitzer und rechtsstehenden Monarchisten nennen sich »Deutschnationale Volkspartei«. Hier finden sich die Freunde Hindenburgs und des Generalstabs, die Helfferich, Westarp, von Graefe, Hergt, Hötzsch und Claß. Ihre Zeitungen sind der Lokalanzeiger, der Tag, die Deutsche Zeitung, die Kreuzzeitung und die Hamburger Nachrichten.

Die früheren Nationalliberalen, die der Industrie und dem Großhandel entstammen, nennen sich »Deutsche Volkspartei«. Ihre Zeitungen sind die Tägliche Rundschau, die Kölnische Zeitung und die Deutsche Allgemeine Zeitung. Ihre führenden Männer sind Stresemann, Rießer, Hugo Stinnes, Vögler.

Die alten Freisinnigen und Fortschrittler haben die »Deutsche Demokratische Partei«, die Partei der Demokraten, gegründet. Es ist die Partei des Berliner Tageblatts, der Vossischen Zeitung und der Frankfurter Zeitung, der bürgerlichen Intelligenz, der jüdischen Elite, der Akademiker und der aufgeklärtesten Beamten. Sie steht in Verbindung mit den westlichen und angelsächsischen Ländern. Man findet in ihren Reihen die Namen von Rathenau, Dernburg, Quidde, Schücking, Melchior, Hugo Preuß, Konrad Haußmann und Graf Bernstorff.

Das katholische Zentrum nennt sich »Christliche Volkspartei«. Aber man nennt es weiterhin das »Zentrum«. Dort gibt es eine Linke und eine Rechte. Die Linke wird von Erzberger, Josef Wirth und dem Gewerkschaftler Stegerwald, die Rechte von Trimborn, Marx, Fehrenbach und Porsch geführt. Zwei große Zeitungen: die Germania und die Kölnische Volkszeitung.

Auf der linken Seite des politischen Fächers befinden sich die Sozialisten beider Richtungen, von denen wir schon gesprochen haben und die sich um den Vorwärts streiten. Die Mehrheitssozialisten haben den Namen »Sozialdemokratische Partei Deutschlands« (SPD) bewahrt. Ihre Führer sind Ebert, Scheidemann, Otto Wels, Gustav Bauer, Hermann Müller. Bei der »Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« (USPD) sind Haase, Dittmann, Barth, Ledebour, Breitscheid, Crispien und Hilferding zu nennen. Die »Kommunistische Partei Deutschlands« (KPD) endlich ist aus der Spartakusgruppe hervorgegangen, die am 31. Dezember 1918 von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gegründet wurde. Ihr Organ ist die Rote Fahne. Sie hat beschlossen, der Wahl fernzubleiben.

Unter wechselnden Schicksalen bestehen diese Parteien während der gesamten Dauer der deutschen Republik fort. Für den Augenblick sind 421 Sitze zu besetzen. Die Mehrheit beträgt also 211 Sitze. Sie verteilen sich wie folgt:

Mehrheitssozialisten (SPD) 165Sitze
Unabhängige Sozialisten (USDP) 22Sitze
Deutsche Demokratische Partei (DDP) 74Sitze
Zentrum 89Sitze
Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 41Sitze
Deutsche Volkspartei (DVP) 23Sitze
Andere (Regionalparteien) 7Sitze

Mithin gewinnen die Mehrheitssozialisten, Ebert und seine Freunde, die meisten Stimmen. Mit den Unabhängigen fehlt es ihnen nicht viel an 45 Prozent der Gesamtstimmenzahl. Die Ergebnisse der Abstimmung stellen einen großen Sieg der Sozialdemokratie dar. Aber wenn man die Stimmen der Demokraten, des Zentrums, der Deutschen Volkspartei und der Deutschnationalen; also die der nichtsozialistischen bürgerlichen Parteien, zusammenzählt, so sieht man, dass sie 16 Millionen Stimmen auf sich vereinigen. Das liberale, katholische und industrielle Bürgertum und der reaktionäre Adel würden, wenn sie einen Block bildeten, eine klare Mehrheit haben. Der Erfolg der Sozialisten, der Erfolg der Revolution, ist also bloß relativ.

Auf jeden Fall haben die Sozialisten allein keine Mehrheit. Die beiden sozialistischen Fraktionen hätten zusammen 185 Stimmen. Die absolute Mehrheit beträgt aber 211. Außerdem weigern sich die Unabhängigen, sich mit den Mehrheitssozialisten zu verbünden. Auf das Angebot von Ministerposten, das diese ihnen machen, antworten sie, dass sie die Zusammenarbeit ablehnen, »solange jene nicht nur mit Worten, sondern mit Taten ihre Entschlossenheit bekundet haben, die demokratischen und sozialistischen Errungenschaften der Revolution gegen die Bourgeoisie und die militärische Aristokratie zu verteidigen«.

Besser könnte das Problem, das zur Erörterung steht, kaum umrissen werden. Wird die neugewählte Nationalversammlung die Revolution am Leben lassen oder wird sie sie begraben?

Sie wird nicht nach Berlin, sondern nach Weimar einberufen. In der Wahl dieser Stadt hat man ein Symbol erblicken wollen, ein Symbol des neuen Deutschland, das Potsdam, der Hochburg des preußischen Militarismus und des friderizianischen Geistes, den Rücken kehrt und sich unter den Schutz der großen Humanisten Goethe und Schiller stellt, die in der ganzen Welt bewundert werden. Es ist möglich, dass man bei der Wahl von Weimar von dem Gedanken erfüllt war, im Ausland Beifall zu finden. Gewiss ist, dass man auch daran dachte, der Aufenthalt in Berlin wäre gefährlich wegen der Einstellung der Arbeiter, die zum Teil Anhänger der Unabhängigen und Spartakisten waren, deshalb schien die Nationalversammlung in Weimar sicherer. In Berlin übernahm General Maercker keine Verantwortung für ihren Schutz, in Weimar garantierte er ihre Sicherheit.

Am 6. Februar 1919 tritt sie zur ersten Sitzung im Theater der thüringischen Hauptstadt zusammen. Sie nimmt sofort eine vorläufige Verfassung an und ernennt am 11. Februar Ebert zum provisorischen Präsidenten der Republik. Am folgenden Tage wird eine regelrechte Regierung gebildet. Da die Mehrheitssozialisten nicht auf die übrigens ungenügende Unterstützung der Unabhängigen zählen können, sind sie gezwungen, auf der rechten Seite Bundesgenossen zu suchen. Um die Ordnung wiederherzustellen, haben sie mit dem Generalstab und den Freikorps paktiert; nun paktieren sie auch mit dem Bürgertum, um ein Kabinett zustande zu bringen. Immerhin stellen sie drei Bedingungen: Ihre Verbündeten müssen die Republik vorbehaltslos anerkennen, ferner mit einer Finanzpolitik einverstanden sein, die hauptsächlich das Kapital und das erworbene Vermögen belastet, und mit einer Sozialpolitik, die bis zur Sozialisierung gewisser Unternehmungen geht.

Die Katholiken des Zentrums und die Demokraten nehmen an. So entsteht das, was die politische Sprache die »Weimarer Koalition« nennt. Sie verfügt über 327 Stimmen.

In der späteren parlamentarischen Geschichte der Republik bilden die Katholiken und Demokraten, wenn sich die Mehrheitssozialisten nicht mit ihnen verständigen können, unter Beteiligung der Volkspartei und gegebenenfalls sogar der Deutschnationalen den »Bürgerblock«. Schließlich gibt es eine Verbindung der Sozialdemokraten, Katholiken, Demokraten und der Deutschen Volkspartei, die den Namen der »Großen Koalition« trägt. Und diese drei Kombinationen spiegeln die parlamentarischen Wechselfälle der Zeit von 1919 bis 1933 wider.

Die Weimarer Koalition vertraut Scheidemann den Kanzlerposten an. Außerdem erhalten die Mehrheitssozialisten sechs Ministerposten. Noske wird Reichswehrminister, denn man spricht nicht mehr von einem Kriegsministerium. Das Heer nennt sich fortan Reichswehr. Das Zentrum erhält drei Ministersitze, von denen das Finanzministerium Erzberger zufällt. Den Demokraten werden ebenfalls drei Ministerposten zuteil. Graf Brockdorff-Rantzau, parteilos, aber den bürgerlichen Parteien nahestehend, wird Minister des Auswärtigen. Es gibt also sieben sozialistische und sieben bürgerliche Minister.

Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die Politik der Regierung und der Nationalversammlung sich in sozialen Dingen nicht sehr wagemutig zeigt. Ihr scheint im Gegenteil daran zu liegen, die Errungenschaften der Revolution nicht festzuhalten oder zu erweitern, sondern sie zu beschränken und zu schwächen.

Während Noske mit Hilfe des Generalstabs und der Freikorps im Februar, März, April und Mai die revolutionären Aufstände unterdrückt, die in Berlin, Bremen, Halle, im Ruhrgebiet, in Sachsen und Bayern ausgebrochen waren oder aufflammen, bemüht sich die Nationalversammlung, trotz Versprechungen und theoretischer Anerkennung die Rolle der Arbeiterräte zu beschränken, sie in den gewerkschaftlichen Rahmen zurückzuführen, ihnen jede politische und wirtschaftliche Zuständigkeit zu nehmen und sie unschädlich zu machen. Die Sozialisierung wird im Prinzip beschlossen, aber nicht durchgeführt. Der Wirtschaftsminister Wissell ist ein überzeugter Anhänger der Planwirtschaft. Mit ihr will er zur Sozialisierung gelangen. Man hört ihn mit Interesse an, denn er hat Ideen und Talent; trotzdem erweckt er Misstrauen. Er bringt ein Gesetz über die Organisation des Kohlebergbaus und der Kaliindustrie zur Annahme, die einem Reichskohlenrat bzw. Reichskalirat unterstellt werden, wo unter staatlicher Aufsicht Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Verbraucher vertreten sind. Praktisch bleiben diese Räte unwirksam, ebenso der Reichswirtschaftsrat, der nicht über eine beratende und dekorative Rolle hinauskommt. Wissell legt im Juli 1919 sein Amt nieder, und sein Rücktritt beweist, dass die Nationalversammlung nicht die Absicht hat, den Privatkapitalismus ernsthaft anzugreifen.

Sie hätte nach dem Zerfall des wilhelminischen Heeres die Heeresverfassung erneuern, das Heer säubern und sich des Generalstabs und der Freikorps entledigen können. Diese bilden einen sehr gefährlichen Herd des Nationalismus und des Militarismus, und ihnen strömt die ganze aus dem Heer entlassene Jugend zu, die, von der Niederlage angeekelt, sich gegen sie auflehnt und nach Abenteuern dürstet, jene Jugend, die Ernst von Salomon in seinem Roman »Die Geächteten« so treffend geschildert hat.

Sie wagt es nicht. Die bürgerlichen Minister würden sich nicht dazu hergeben. Die sozialistischen Minister haben sich selbst mit den Generalen verbündet und sich der Freikorps bedient, um den Schwung der Revolution zu brechen. Und Noske wurde das Werkzeug der Offiziere bei der Niederschlagung der Aufstände in Berlin und in der Provinz.

Das Gesetz vom 6. März 1919 über die vorläufige Reichswehr lässt einige Neuerungen mit demokratischem Anstrich zu. Es mildert die Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuches und gewährt die Einsetzung von »Vertrauensleuten« in der Truppe. Es sieht eine Beschwerdeordnung vor. Es begründet Sportkommissionen in den Einheiten. Doch alle diese Maßnahmen sind mit Zustimmung der obersten Heeresleitung getroffen, welche die Notwendigkeit von Zugeständnissen an den Geist der Zeit begriffen hat. Dafür werden die Traditionen der alten Regimenter sorgfältig gewahrt. Das Heer ist vereinheitlicht. Es gibt keine bayrische, sächsische oder preußische Armee mehr, sondern nur noch ein einziges Reichsheer. Die Freiwilligen, aus denen es sich zusammensetzt, werden aufs sorgfältigste gesiebt. Die Generale Wilhelms II. bleiben auf ihren Posten, die Freikorps werden nicht aufgelöst. Ende Dezember 1918 löste sich das Heer auf. Im Juni 1919 wird es straff zusammengefasst. Die Uniform ist eine andere, der Geist aber ist der von einst. Mit einer Stärke von 400 000 Mann stellt es im inneren Leben Deutschlands eine Macht dar, welche die Zivilgewalt nicht unterschätzen darf.

Auf diesem sehr bedeutungsvollen Gebiet hat also die Nationalversammlung trotz äußerlichen Änderungen eher ein konservatives als ein neuschöpferisches Werk vollbracht. Bürgerliche und Sozialisten haben sich verständigt, um den revolutionären Bestrebungen den Weg zu verlegen, die traditionsgemäß einflussreichen Kreise zu schonen und sich mit einer gemäßigt liberalen Richtung zufrieden zu geben. Übrigens war es ja insbesondere die Aufgabe der Nationalversammlung, eine Verfassung auszuarbeiten.

Sie hat unablässig daran gearbeitet; die Vorschläge, Verbesserungen, Ausschusssitzungen, Debatten und Reden häuften sich. Am 31. Juli 1919 vollendete sie ihr Werk und nahm mit 262 gegen 79 Stimmen die endgültige Verfassung an, die, von Reichspräsident Ebert unterzeichnet, am 14. August verkündet wurde. Der hauptsächliche geistige Anreger der sogenannten Weimarer Verfassung war der Professor für Staatsrecht Hugo Preuß, ein gewiss sehr intelligenter liberaler Jude, Mitglied der demokratischen Partei, 1917 beinahe abgesetzt, weil er eine Rede über die Veränderlichkeit des kaiserlichen Denkens gehalten hatte, ein glühender deutscher Patriot, aber mehr Theoretiker und Logiker als Psychologe und Realist, wie es zuweilen bei Professoren, sogar solchen der Rechtswissenschaft, vorkommen soll.

Versuchen wir, die Struktur und die charakteristischen Züge dieser Weimarer Verfassung in Kürze darzustellen.

Die Weimarer Verfassung setzt die Republik als Staatsform für das Reich und die Bundessaaten ein, die ihrerseits demokratische Verfassungen haben sollen. Aber diese Republik ist ein Reich, das heißt ein Imperium. Das ist die erste Eigentümlichkeit. Die Abgeordneten der Nationalversammlung wollten nicht auf das Wort »Reich« verzichten, einmal, um nicht die kaiserliche Tradition zu verleugnen, sodann aber, weil das Wort »Republik« immer einen schlechten Klang für deutsche Ohren hat. Das Wort »Reich« dagegen klingt, wie bereits erwähnt, militärisch und kriegerisch, erweckt die mystische und feudale Erinnerung an vergangene Herrlichkeit und lässt eine künftige Rückkehr zur Macht und Herrschaft erhoffen. Man nennt Ebert oder Hindenburg nicht den Präsidenten der Republik, sondern den Präsidenten des Deutschen Reichs. Und ganz allgemein wird das Wort »Republik« in der deutschen Republik vermieden.

Läge den Mitgliedern der Nationalversammlung daran, an die Vergangenheit anzuknüpfen, so hätte man die schwarzweißrote Fahne, die Nationalflagge des Bismarckreiches, beibehalten können. Sie schaffen aber dieses Emblem ab, überspringen die Geschichte des Hohenzollernreiches und beschließen – eine zweite Eigentümlichkeit –, dass die schwarzrotgoldene Fahne der Burschenschaften, der Verfechter der liberalen und nationalen Ideen von 1815 bis 1848, die Fahne des neuen Regimes sein solle. Hiermit begehen sie offensichtlich einen Fehler. Die Völker sind in der Frage der Nationalfarben sehr empfindlich. Unter den schwarzweißroten Farben hatten mehrere Generationen von Soldaten gedient. Man war an sie gewöhnt. Sie waren stets geehrt und nicht besiegt worden. Bürger, Militärs, Frontkämpfer, Nationalisten aller Art werden es der Weimarer Nationalversammlung verübeln, sie in den Kehricht geworfen zu haben.

Schon in ihren ersten Artikeln unterscheidet die Verfassung zwischen der Zentralregierung und den Bundesstaaten. In der Tat konzentrieren sich die Verhandlungen des vorbereitenden Verfassungsausschusses, sodann die Nationalversammlung sehr bald auf diesen Hauptpunkt. Es handelt sich um die Frage, ob und in welchem Maße Deutschland nach dem Kriege zentralistisch oder föderalistisch sein soll.

Das ist kein neues Problem. Seit hundert Jahren besteht die innere Geschichte Deutschlands in dem Konflikt zwischen Föderalisten und zentralisierenden Unitaristen. Im Jahre 1848 fordert die Frankfurter Nationalversammlung ein föderalistisches Reich nach dem Beispiel der Schweiz und der Vereinigten Staaten. Das Bismarckreich von 1871 selbst war ein Bundesstaat. Jedoch wurde der Föderalismus in Deutschland immer durch die maßlose Ungleichheit der Kräfte der Gliedstaaten des Bundes verfälscht. Nach der Ausschaltung Österreichs schmälerte Preußen nach und nach die Privilegien der Bundesstaaten. Es war Herr über den Bundesorganismus, weil der preußische Ministerpräsident gleichzeitig Reichskanzler war. Damit konnte es seinen Einfluss ausdehnen, seine Methoden überall einführen und den demokratischen und liberalen Geist des Südens und Westens zugunsten des konservativen, bürokratischen und militaristischen Geistes des Nordens ersticken. Preußen bediente sich des Föderalismus, um Deutschland zu »verpreußen«. In seinen Händen verwandelte sich der Föderalismus in sein Gegenteil. Er wurde zur Handhabe, um Preußen zum Mittelpunkt Deutschlands zu machen, wie auch Berlin die Hauptstadt Preußens und gleichzeitig die des Reiches wurde.

Die aufrichtigen Föderalisten hörten indessen nicht auf, gegen die preußischen Eingriffe zu kämpfen. Sie ließen nicht ab, die Zerschlagung Preußens zu fordern, um das große Missverhältnis, das zwischen ihm und den anderen Bundesstaaten bestand und das ganze System verfälschte, zu beseitigen. Sie verteidigten hartnäckig das Daseinsrecht ihrer kleinen Heimat.

Sogleich nach der deutschen Niederlage belebte sich ihre Tätigkeit, sie fanden in weiteren Kreisen Gehör. Das Ereignis scheint in der Tat die Richtigkeit ihrer Ideen zu bestätigen, ja diese voll zu rechtfertigen. Ist es nicht Preußen, das Deutschland in einen unheilvollen Krieg gestürzt hat? Ist nicht Preußen für das nationale Unglück verantwortlich? Die Novemberrevolution und die ihr folgenden Unruhen haben eine autonomistische Richtung und einen mehr oder weniger separatistischen Charakter. Die aufständischen Regierungen verweigern den ausdrücklichen Befehlen der Zentralregierung den Gehorsam und treiben es sogar bis zum Bruch mit ihr. Nicht nur in Bayern erschallt der Ruf: Los von Preußen! Los von Berlin! Hannover, Schleswig und die Rheinlande fordern das Recht, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen. In Köln erklärt sich am 4. Dezember 1918 eine große, von dem Zentrumsabgeordneten Marx, dem späteren Reichskanzler, und Trimborn einberufene öffentliche Versammlung für die Errichtung einer rheinisch-westfälischen Republik im Rahmen des Reiches. Am 1. Februar 1919 erwartet man, dass der Kölner Oberbürgermeister Adenauer im Rathaus die rheinische Republik ausruft, wohin er die soeben gewählten Abgeordneten der Nationalversammlung und des preußischen Landtags eingeladen hat. Im Mai bitten Dr. Dorten, der Oberlehrer Kuckhoff und der Oberpfarrer Kastert in Mainz den Oberkommandierenden der französischen Besatzungsarmee, General Mangin, sie bei der Gründung eines Rheinstaates zu unterstützen. Noch im September und November rühren sich die Katholiken und setzen eine Bittschrift zugunsten eines rheinischen Parlaments in Umlauf.

Die föderalistischen Verbände, der Deutsche Föderalistenbund und der Deutsche Bund, fordern eine Reorganisation Deutschlands im föderalistischen und deutschen Sinn, eine Aufteilung Deutschlands nach seinen natürlichen Stammesgrenzen in gleichartige und gleichberechtigte Staaten, also eine territoriale Neugliederung. In ihrer Verlautbarung heißt es: »Das deutsche Volk ist keine gleichförmige und einheitliche Volksmasse. Es ist das Volk der Völker. Hierin bestehen sein Charakter und sein größter Vorzug. Es ist das Ergebnis verschiedener Volksstämme mit besonderen Lebensformen und Merkmalen. Diese durch eine Geschichte von über 1500 Jahren bestätigte Tatsache ist die Quelle des politischen und kulturellen Reichtums Deutschlands. Man hüte sich, sie zum Versiegen zu bringen.«

Über das Thema des Föderalismus und Zentralismus entwickelt sich eine reichliche Literatur einander widerstreitender Bücher, Flugschriften und Kommentare. Natürlich bricht der Streit in der Nationalversammlung heftig und leidenschaftlich aus. Dr. Spahn, der Zentrumsführer, erklärt am 28. März 1919: »Eine umfassende bundesstaatliche Organisation ist dem deutschen politischen Genius und dem Reichtum der deutschen Kulturtradition weit mehr angepasst.« Und der Kölner Abgeordnete Trimborn befürwortet die Errichtung einer rheinisch-westfälischen Republik, die, wie er sagt, die Zusammenarbeit mit Frankreich, Belgien und Holland gestatten, die wirtschaftliche Einheit des Niederrheins unangetastet lassen und aus dem Rhein den europäischen Strom im wahrsten Sinne des Wortes machen würde. Die Zentralisten rekrutieren sich aus der Rechten und aus der Linken der Nationalversammlung. Es sind die Preußen, die Nationalisten und die Militaristen, die Deutschnationalen, die Volksparteiler sowie die Mehrzahl der Demokraten und die Sozialisten beider Richtungen, Anhänger der einheitlichen und unteilbaren Republik. Hugo Preuß selbst ist Zentralist, aber er erfasst die Notwendigkeit, die preußische Hegemonie zu zerschlagen. Er wünscht eine einheitliche Republik, die nicht preußisch ist, und möchte deshalb Preußen in mehrere Teile zerlegen, in der Hoffnung, dass Bayern, Sachsen und Württemberg dem Beispiel folgen und es hinnehmen würden, nur noch Verwaltungsprovinzen zu sein.

In dieser Auseinandersetzung führen die Zentralisten vier Arten von Argumenten ins Feld, die gewichtig sind und Eindruck machen:

Sie beziehen sich auf den Gang der Entwicklung, der nicht aufgehalten oder zurückgedreht werden kann. Wie alle großen Staaten, leider ihnen gegenüber im Rückstand, geht Deutschland einer zunehmenden Einheit entgegen. Es ist vergebliche Liebesmüh, diesen natürlichen Prozess aufhalten zu wollen. Der Föderalismus war zulässig, solange es Dynastien gab. Diese aber sind verschwunden. Ihr Verschwinden soll für den deutschen Föderalismus das Grabgeläute sein.

Eine der Ursachen des historischen Rückstandes, der chronischen Schwäche, in der sich Deutschland befindet, ist gerade das Überleben des Partikularismus. Einigkeit macht stark. Die Wiederaufrichtung des Reiches nach der Niederlage erfordert eine Verdichtung seiner Einheit, eine Festigung seiner zentralisierten Leitung. Die schweren Unruhen, die ausgebrochen sind und noch immer in den einzelnen Ländern schwelen, bekunden zwei Gefahren, die bolschewistische Gefahr und die Gefahr der Zerstückelung. Über Deutschland schwebt die Drohung, in eine revolutionäre Anarchie zu versinken und in Stücke zu zerfallen. Dem muss man vorbeugen.

Man nimmt weiterhin eine Reihe verdächtiger Gleichsetzungen vor. Föderalismus ist gleichbedeutend mit Einverständnis mit dem Ausland. Einverständnis mit dem Ausland ist Landesverrat. Die Föderalisten sind Landesverräter, oder, wenn nicht Landesverräter, so doch schlechte Patrioten, schlechte Deutsche. In dieser Hinsicht haben die Dorten und Genossen, als sie sich an den französischen Oberbefehlshaber wandten, einen schweren Fehler begangen. Sie haben sich dem Verdacht und der Anklage ausgesetzt, Werkzeuge eines Frankreichs zu sein, das darauf erpicht ist, Deutschland auseinanderzureißen und das linke Rheinufer zu annektieren.

Schließlich, und das nimmt am meisten Wunder, interessieren sich die siegreichen Alliierten, die mit Deutschland nach Belieben verfahren können, nicht für die Sache des Föderalismus. Sie begünstigen sie nicht. Sie glauben nicht, dass sie Zukunft hat. Sie geben vielmehr zu verstehen, dass sie eher zentralistisch gesinnt sind und ihnen ein zentralistisches und geeintes Deutschland mehr Garantien verspreche. Die Engländer beklagen sich über die Haltung des Generals Mangin, und die Franzosen opfern ihn auf deren Wunsch.

Trotz der Trümpfe, welche die Zentralisten somit in der Hand halten, begreifen sie, dass der Widerstand des Föderalismus zu kräftig ist, als dass sie mit ihm fertig werden könnten. Hugo Preuß ist genötigt, nachzugeben. Die Nationalversammlung sucht nach einem Ausgleich und kommt auf eine Lösung, die den Charakter eines Kompromisses hat. In Wirklichkeit war keiner der Beteiligten davon befriedigt.

Deutschland verbleibt nach der Weimarer Verfassung ein Bundesstaat. Es besteht, wie vorher auch, aus einer Reihe von Gliedstaaten, unter sich durch ein zentrales Regierungsorgan verbunden. Jeder dieser Staaten besitzt ein Parlament, einen Landtag, der nach allgemeinem Stimmrecht und dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt ist, eine dem Landtag verantwortliche Regierung, eine Beamtenschaft, eine auf gewisse Gebiete beschränkte Zuständigkeit der Gesetzgebung, eine umfangreichere verwaltungsrechtliche Zuständigkeit und eigene Einnahmequellen. Aufgrund des Artikels 18 können die Grenzen dieser Staaten verändert, Gebiete von einem Staat abgetrennt und einem anderen angeschlossen sowie neue Staaten geschaffen werden, nach einer Abstimmung der daran interessierten Bevölkerungen, sobald sich eine Mehrheit von 3/5 der abgegebenen Stimmen dafür ausspricht. Dies scheinen wesentliche Zugeständnisse an die Föderalisten zu sein. Trotzdem sind sie es nur scheinbar, denn die Suprematie der Reichsregierung über die Bundesstaaten ist absolut. Die Gliedstaaten sind keine Staaten mehr. Man vermindert ihre Zahl von 26 auf 18. Sie heißen von nun an »Länder«. Die Reichsgesetzgebung kann jederzeit und in jeder Angelegenheit in die Gesetzgebung der Länder eingreifen. Marine, Diplomatie, Handel, Verkehr und Verkehrsmittel und das Münzwesen gehören ausschließlich zur Machtbefugnis des Reichs. Bayern, Sachsen und Württemberg hatten früher eigene Heere mit besonderen Abzeichen und eigene Kriegsministerien. Fortan wird es schon in Friedenszeiten nur noch eine Armee geben, die Reichswehr, die vom Reichswehrministerium in Berlin geleitet wird, wie es nur noch eine Reichspost-, eine Reichsbahnverwaltung und eine Notenbank geben wird. Überall hin streckt das Reich die Hand aus. Die Tragweite des Artikels 18 wird dadurch eingeschränkt, dass die Änderung des Gebiets oder die Neubildung eines Landes durch Reichsgesetz erfolgen muss. Außerdem wird sein Inkrafttreten um zwei Jahre nach Verkündigung der Verfassung verzögert. In Wirklichkeit wird er nie angewendet werden.

Die Weimarer Verfassung stellt also einen beträchtlichen Fortschritt auf dem Wege zum radikalen Einheitsstaat dar. In diesem Sinne verschlimmert sie die Verfassung Bismarcks. Berlin und Preußen mit ihrem Beamtenapparat, ihren Befehlsgewohnheiten, ihrer Verachtung provinzieller Eigentümlichkeiten werden sich noch mehr als in der Vergangenheit für eine Zentralisierung des Reichs einsetzen. Der Föderalismus geht aus dieser Prüfung zwar nicht besiegt, aber geschwächt hervor. Das neue Deutschland wird kein Staatenbund, wobei die wesentliche Macht bei den Gliedstaaten läge, sondern ein Bundesstaat, in dem die Staatsgewalt dem Bundesorgan übereignet und von ihm nach Gutdünken auf die ihm untergeordneten Staaten übertragen wird.

Das Organ des Bundes übt die gesetzgebende und vollziehende Gewalt aus.

Die gesetzgebende Gewalt gehört dem Reichstag, der aufgrund des allgemeinen Stimmrechts und der Verhältniswahl von allen über zwanzig Jahre alten Deutschen für vier Jahre gewählt wird. Ihm zur Seite tagt eine zweite Kammer, der Reichsrat, der an den einstigen Bundesrat erinnert. Der Reichsrat setzt sich aus Vertretern der Bundesländer zusammen. In ihm hat jedes Land mindestens eine Stimme, und eine Stimme auf 700 000 Einwohner in den größeren Ländern. Er ist aber dem Reichstag nicht gleichgestellt. Er prüft die Gesetzesvorlagen der Regierung. Diese ist aber nicht verpflichtet, seiner Auffassung Rechnung zu tragen. Er kann das Inkrafttreten der vom Reichstag beschlossenen Gesetze aufschieben. Aber seine Opposition ist wirkungslos, wenn der Reichstag an seinem Beschluss mit Zweidrittelmehrheit festhält. Grundsätzlich gibt es zwei Kammern, in der Praxis aber nur eine Kammer, den Reichstag, der direkt aus dem Volke hervorgeht und das Recht hat, die Regierung jederzeit durch ein Misstrauensvotums zu stürzen. Vor ihm schwört der Reichspräsident seinen Eid. Der Reichstag hat das Recht, vor dem Staatsgerichtshof den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister anzuklagen, wenn sie die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzen.

Der Regierungschef behält die Bezeichnung Reichskanzler. Er wird, wie auch die Minister, vom Reichspräsidenten ernannt, aber er und die Minister müssen das Vertrauen des Reichstags besitzen. Der Reichspräsident, der sie ernennt, entlässt sie auch aus ihren Ämtern.

Die Weimarer Nationalversammlung hat also für die Einführung einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland Sorge getragen.

Aber sie wollte, dass an der Spitze dieser Demokratie eine starke Exekutivgewalt stehe. Sie wollte eine autoritäre Demokratie schaffen. Unzweifelhaft hat sie aus diesem Grunde dem Reichspräsidenten sehr weitgehende Befugnisse eingeräumt. Der Reichspräsident wird vom deutschen Volk auf sieben Jahre gewählt, ist wieder wählbar und vertritt das Reich nach außen. Er schließt Bündnisse und Verträge mit den auswärtigen Mächten. Er beglaubigt und empfängt die Botschafter Er hat das Begnadigungsrecht. Er hat den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht. Er kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass. Er kann die Forderung erheben, dass ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz binnen einem Monat einem Volksentscheid unterworfen wird.

Dies sind seine ordentlichen Rechte. Sie entsprechen denen der Staatsoberhäupter anderer Republiken. Aber darüber hinaus ist er mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet, die in einem Artikel festgelegt sind, der als »Artikel 48« Berühmtheit erlangen sollte.

Gemäß den Bestimmungen des Artikels kann der Reichspräsident, wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, es mit Hilfe der bewaffneten Macht dazu zwingen. »Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet werden, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Von allen diesen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstages außer Kraft zu setzen.«

Der Artikel 48 wurde von der Nationalversammlung sichtlich unter dem Eindruck der Ereignisse angenommen, die im März 1919 zu blutigen Kämpfen in Berlin, im April und Mai in Bayern und Sachsen geführt hatten. Sie wollte damit dem Staatsoberhaupt im Falle der Wiederkehr ähnlicher Ereignisse – und tatsächlich haben diese sich wiederholt – die Mittel an die Hand geben, die Aufstände zu unterdrücken und die öffentliche Ordnung durch geeignete Maßnahmen wiederherzustellen, als da sind Belagerungszustand, unmittelbar durchführbare Notverordnungen, Einsetzen der bewaffneten Macht. Dies unter der Voraussetzung, nach Wiederherstellung der Ruhe dem Reichstag über die unter dem Zwang einer Notlage dringlich getroffenen außerordentlichen Maßnahmen Rechenschaft abzulegen.

Eine solche Vorsichtsmaßnahme schien damals so natürlich, dass dieser Artikel zu keiner ernstlichen Beanstandung Anlass gab. Tatsächlich überließ er es dem Reichspräsidenten, zu entscheiden, ob die öffentliche Ordnung und Sicherheit ernsthaft gefährdet wären und das Reich in Gefahr brächten. Dem Reichspräsident stand es frei, anzunehmen, Ordnung und Sicherheit des Reichs seien ernsthaft bedroht, nicht nur durch einen Umsturzversuch, eine bewaffnete Revolte in Preußen oder anderwärts, sondern auch durch eine Finanzkrise, eine Wirtschaftskrise, eine politische Krise oder durch die Haltung des Reichstags und, damit im Zusammenhang, die Schwierigkeit einer parlamentarischen Mehrheitsbildung. In diesen Fällen konnte der Reichspräsident das normale parlamentarische Regime zeitweilig aufheben und nach eigenem Gutdünken mithilfe von Notverordnungen regieren. Die Diktatur ging auf nahezu legalem Wege aus der parlamentarischen Demokratie hervor und steckte sie in die Tasche. Dazu kam es im Jahre 1930, als Feldmarschall Hindenburg den Reichskanzler Brüning deckte und anfing, mit Notverordnungen zu regieren. Man kann sagen: Von diesem Augenblick an war die Republik krank und sollte nicht mehr lange leben. Deutschland wurde reif für Hitlers Diktatur.

Es trifft zu, dass der Artikel 48 bestimmt, dass die vom Reichspräsidenten beschlossenen außerordentlichen Maßnahmen auf Forderung des Reichstages aufgehoben werden müssen. Aber wird der Reichstag es je fordern? Nie wird er es wagen, in einen offenen Konflikt mit dem Reichspräsidenten zu geraten. Nicht etwa, dass die Nationalversammlung nicht an die Reibungen gedacht hätte, die innerhalb des Räderwerks ihres Systems entstehen konnten. Sie hat ein Reichsgericht als Kassationshof und einen Staatsgerichtshof als oberstes Gericht vorgesehen, vor dem die Streitfälle zwischen dem Reich und den Ländern wie der Länder untereinander entschieden werden sollten, ferner die vom Reichstag gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister erhobenen Klagen wegen Verfassungsbruchs. Denn der Reichspräsident hat Waffen gegen den Reichstag. Er kann ihn in die Schranken weisen, er kann ihn auflösen, während er selbst auf Vorschlag des Reichstags nur kraft eines Volksentscheids seines Amtes enthoben werden kann. Und wenn dieser günstig für ihn ausfällt, dann gilt er automatisch als wiedergewählt, und der Reichstag wird aufgelöst.

Die Verfasser des Artikels 48 wären sehr erstaunt gewesen, wenn man ihnen gesagt hätte, dass er die größten Schwierigkeiten hervorrufen und zum Stein des Anstoßes werde, an dem eines Tages das Werk der Nationalversammlung zerbrach.

Aber es ist zuzugeben, dass die Weimarer Nationalversammlung schwer zu vereinigende Ziele verfolgte. Sie wollte sich sehr demokratisch gebärden. Deshalb übertrug sie dem Reichstag eine vorbeherrschende Stellung. Sie sah weitgehend das Eingreifen des Volkes durch die Einführung des Volksbegehrens und des Volksentscheides vor. Gleichzeitig errichtete sie eine ebenso mächtige Exekutivgewalt, die ebenfalls auf Volksabstimmung begründet war. Sie stellte zwei Gewalten einander gegenüber, von denen sie annahm, sie würden harmonisch zusammenarbeiten. Aber wenn diese Harmonie fehlte, wurden die beiden Gewalten zu Gegnerinnen. Den Sieg davontragen würde die entschlossenere von beiden, nämlich diejenige, welche die Mehrheit der öffentlichen Meinung für sich hätte, über die bewaffnete Macht verfügte und sich besser auf die Auslegung des Verfassungstextes verstände. Eine solche Entschlossenheit konnten die sozialistischen Abgeordneten des Reichstags nicht aufbringen. Ihr Prestige hatte unter dem Gang der Ereignisse gelitten, es konnte dem des Feldmarschalls Hindenburg nicht die Waage halten.

Neben diesem Geburtsfehler erscheinen die Grundrechte, welche die Verfassung in ihre Artikel aufnahm, das Versammlungsrecht, die Vereinsfreiheit, das Eigentumsrecht, die Freiheit der Meinungsäußerung, Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit und religiöse Neutralität des Staates, alles an sich sehr schätzenswerte Garantien, heute verblasst. Mit einer Handbewegung konnten sie – wie es geschehen ist – beseitigt werden. Dennoch stellt die Weimarer Verfassung gegenüber der Bismarck’schen Verfassung vom 16. August 1871, diesem Bund von Monarchen unter der Fuchtel des Königs von Preußen, dieser Karikatur eines Parlamentarismus mit einem Reichstag ohne Autorität, einem Kanzler ohne Verantwortung vor der Kammer, mit Ministern, die ohne parlamentarische Mitwirkung berufen wurden, einen bemerkenswerten Fortschritt dar. Nach dem Vorbild ausländischer Verfassungen, wie der schweizerischen oder der US-amerikanischen geschaffen, stellt sie wirklich eine demokratische Verfassung des in den westlichen Demokratien gebräuchlichen Typs dar. Sie war eine brauchbare Grundlage für ein parlamentarisches Regime und hätte andauern und normal funktionieren können, wenn sie die vorbehaltlose Zustimmung der Nation und die Unterstützung durch die politische Moral gefunden hätte. Aber wie die Geschichte so mancher anderen Verfassung beweist auch die der Weimarer, dass die Texte nicht viel zu bedeuten haben. Schließlich tun die Menschen immer hinzu oder hinweg, was sie wünschen, und biegen sie nach ihrem Maß zurecht. Man wünscht, dass sich die Menschen Vorschriften unterordneten; aber es sind die Menschen, die Herren über die Vorschriften sind.

Der Weimarer Nationalversammlung hat es an gutem Willen nicht gefehlt, und im Ganzen gesehen hat sie beachtliche Arbeit geleistet. Sie beging Fehler eher aus Mangel an Psychologie und Kenntnis des eigenen Volkes. Dieser Vorwurf trifft den Professor Hugo Preuß. Es war ein Fehler, nicht bemerkt zu haben, dass die dem Reichspräsidenten verliehenen außerordentlichen Vollmachten im Fall einer schweren Krise ihrem eigentlichen Sinn entfremdet und gegen die Verfassung benutzt werden konnten. Die Zukunft hat dies deutlich gezeigt. Aber es war auch ein Fehler, der meist nicht hervorgehoben wird, die Länder gegenüber der Reichsinstanz zu entmachten, die Autorität der Zentralgewalt noch zu steigern und diese in Berlin zu belassen, wo sich der ganze Einfluss der Kreise des alten Regimes konzentrierte. Man glaubte, die Zentralgewalt werde in ganz Deutschland den demokratischen Geist verbreiten. Aber auf dem Wege über Amtsstuben, Beamten, Verbände, Gesellschaften und Vereine verbreitete sie den nationalistischen und reaktionären Geist. Und so wird es morgen wieder sein, wenn man erneut den gleichen Weg einschlägt. Der demokratische Geist wird sich in Deutschland nur dort entwickeln, wo er geboren ist und seine ersten Wurzeln geschlagen hat, im Leben von Dorf, Stadt und Provinz, in der städtischen Verwaltung und der Regierung der Länder im Süden und Westen. Zentralisation und Vereinheitlichung werden in Deutschland stets eine Neigung zur Diktatur und das Streben nach Wiederherstellung des nationalistischen Dynamismus und der militärischen Stärke des Landes bemänteln.

Ein anderer Fehler ist noch weniger offenbar, aber nach unserer Meinung nicht weniger eine Tatsache, nämlich die Anwendung der Verhältniswahl auf alle in der Weimarer Verfassung vorgesehenen Wahlakte. Unzweifelhaft gibt es kein wirklich gutes Wahlsystem, und es wäre am besten, es grundsätzlich von Zeit zu Zeit zu ändern. Aber mit dem System der Verhältniswahl sollte nicht bei einem Volke begonnen werden, das erst zu demokratischen Methoden hingeführt und für sie gewonnen werden muss. Es setzt eine schon gereifte politische Erziehung voraus. Es erweckt weder die Neugierde noch das Interesse der Wähler. Es wird dem Wert der Persönlichkeit weniger gerecht und erschwert es, Persönlichkeiten zu entwickeln. Es bringt Parteistreitigkeiten hinter den Kulissen mit sich, die auf den Außenstehenden recht abstoßend wirken. Endlich gibt es dem parlamentarischen Leben etwas Mechanisches und erschwert dennoch die Bildung von Regierungsmehrheiten.

Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass der Parlamentarismus der Weimarer Verfassung niemals die Herzen der Deutschen gewonnen hat. Diese haben ihn mehr als einen fremden Import empfunden, dazu bestimmt, im Ausland Anklang zu finden, weniger als bodenständigen Ausdruck deutschen Wesens. Ohne Verständnis für die furchtbare Schwierigkeit von Fragen und Lagen, der der Parlamentarismus gegenüberstand, machten sie ihn für die Mittelmäßigkeit seiner Lösungen verantwortlich und tadelten die Verwirrung, Langwierigkeit und Langeweile seiner Debatten, die Gehässigkeit seiner Intrigen und die Häufigkeit seiner Ministerkrisen. Der Großteil der deutschen öffentlichen Meinung fand weder in den Weimarer Verfassungseinrichtungen noch in der Art, wie sie sich gebrauchen ließen, Ursache, von seiner alten antiparlamentarischen Grundtendenz abzuweichen. Es sind nur wenige, die dem Reichstag eine Träne nachweinten, als Hitler ihn zu einem Werkzeug automatischer Jasagerei herabdrückte.

Der Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 widerfuhr es, dass ihre Zusammensetzung bald nicht mehr der Entwicklung der politischen Gesinnung entsprach. Die Wahlen hatten den Schwerpunkt auf die Linke verlegt, und die politische Entwicklung ging nach rechts. Als die revolutionäre Gefahr vorüber war, erhoben die Generale, der Großgrundbesitz und das Großkapital wieder das Haupt und gewannen Einfluss. Die Nationalversammlung machte den Fehler, ihr Dasein bis in den Sommer 1920 zu verlängern. Ihre Debatten verliefen unter fast allgemeiner Teilnahmslosigkeit. Die Verfassung, die sie zur Welt gebracht hatte, wurde ohne Begeisterung aufgenommen. Sie hatte die Arbeiterschaft durch die Brutalität enttäuscht, mit der die Regierung die revolutionäre Bewegung unterdrückt hatte, durch die Zaghaftigkeit ihrer Sozialpolitik, die im Widerspruch zu den von ihr proklamierten Grundsätzen stand, und durch den Umfang ihrer Zugeständnisse an das Bürgertum. Nicht weniger hatte sie aber auch dafür gesorgt, dass sich das Bürgertum von ihr abwendete durch das verwegene Bild der parlamentarischen Demokratie, die von ihr eingeführt worden war.

Am 14. Juni 1919 erklärte der damalige Wirtschaftsminister Wissell auf dem sozialdemokratischen Kongress: »Das Volk sieht sich in seinen Erwartungen enttäuscht. Es ist kein Zweifel, dass wir die politische Demokratie entwickelt haben. Aber im Ganzen haben wir nichts anderes getan, als das fortzusetzen, was Prinz Max von Baden begonnen hatte. Wir haben eine Verfassung auf die Beine gebracht. Aber es ist uns nicht gelungen, das Volk wirklich daran zu interessieren. Im Wesentlichen hat unser Staatsleben seine alten Formen beibehalten. Nur in sehr geringem Maße haben wir ihm einen neuen Geist eingehaucht. Die Revolution hat nicht die Wirkung gehabt, den Geist Deutschlands wirklich tiefgehend zu verändern. Das kulturelle und soziale Leben ist nur wenig anders geworden. Die Öffentlichkeit muss feststellen, dass die Regierungsgrundsätze, die uns leiten, sich nicht fühlbar von denen des alten Regimes unterscheiden. Es ist möglich, dass die Geschichte über die Nationalversammlung und unsere eigene Regierung ein strenges Urteil fällen wird.«

Es fehlte Wissell nicht an Scharfblick, obwohl die Geschichte, soweit sie sich schon geäußert hat, nicht so streng über die Weimarer Verfassung urteilte, wie er glaubte. Denn die Geschichte weiß, dass es keine unfehlbare Verfassung gibt. Sie bedenkt überdies, dass die Nationalversammlung, welches auch ihre Irrtümer und Fehler gewesen sein mögen, sich in einer denkwürdigen Stunde entschlossen und verantwortungsbewusst gezeigt hat. Am 22. Juni 1919 hat sie die Regierung ermächtigt, den Versailler Vertrag zu unterschreiben.

Aber die öffentliche Meinung sollte ihr gerade diese Handlung am wenigsten verzeihen.

Dies ist es auch, was die deutschen Historiker ihr am meisten vorwerfen werden. Denn es gibt nicht nur eine Geschichte, sondern mehrere. Auch der Lateiner sprach nicht von Geschichte (historia), sondern von Geschichten (historiae).

Von Versailles bis Potsdam

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