Читать книгу Von Versailles bis Potsdam - André François-Poncet - Страница 7
VORWORT
ОглавлениеDas vorliegende Buch ist eigentlich nicht als ein rein wissenschaftliches Werk zu betrachten; das Beiwort »wissenschaftlich« ist zwar immer ehrenhaft, zuweilen aber ist es eine schwere Bürde. Das Buch erhebt nicht den Anspruch, den behandelten Gegenstand von Grund auf zu erneuern oder zu erschöpfen. Wie hätte es dies auch auf so wenigen Seiten vollbringen können? Es steigt nicht in die Niederungen hinab; es verweilt vorsätzlich auf den Gipfeln der Ereignisse. Es wendet sich nicht an einen Kreis von Historikern und Spezialisten, sondern an das große Publikum, an den wissbegierigen Leser, der sich ohne großen Zeitverlust unterrichten oder seine Kenntnisse auffrischen will, besonders aber an die jungen Menschen, die mit dem Wunsch ins Leben treten, sich über die geschichtlichen Tatsachen klar zu werden, die sich kurz vor ihrer Geburt oder in ihren ersten Lebensjahren abgespielt haben und deren unmittelbare Auswirkungen ihre eigene Existenz in Mitleidenschaft ziehen. Diese Jugend schwebte mir vor, als ich es schrieb. Ich dachte an Guizots Wort, der irgendwo bemerkt, dass »die Geschichte von vorgestern am wenigsten bekannt, die von gestern am meisten in Vergessenheit geraten ist«. Ein Anlass, es zu verfassen, war ferner die Aufgabe, die ich übernommen hatte, den Stoff in einem Dutzend Vorlesungen vor den Studierenden der Pariser Hochschule für Verwaltungslehre vorzutragen. Mithin war mein Bestreben vor allem auf Synthese, auf enge Zusammenfassung und Vereinfachung gerichtet. Ich würde mich belohnt sehen, wenn das auf diese Weise entstandene Werk, dessen Unvollkommenheiten mir keineswegs entgehen, ohne Ermüdung und Langeweile und zugleich mit einem gewissen Nutzen gelesen werden könnte.
Warum wurden die durch den 1918 über das Deutschland Wilhelms II. errungenen Sieg geweckten unermesslichen Hoffnungen so schnell und so schwer enttäuscht? Warum zog Frankreich aus den erdrückenden Opfern, die dieser Sieg es gekostet hatte, so wenig Nutzen? Warum nahm das Problem der deutsch-französischen Beziehungen, von dem man annehmen konnte, es ließe sich nach dem auf die französische Niederlage von 1870 folgenden Zusammenbruch des Reichs einer endgültigen Lösung entgegenführen, von Neuem und so rasch ein ungemein bedrohliches Aussehen an? Wie konnte so früh nach dem Ersten Weltkrieg ein zweiter ausbrechen? Das sind Fragen, die unsere Kinder, wenn sie dereinst erwachsen geworden, an uns zu richten das Recht haben – und die sie auch tatsächlich an uns richten werden.
Ich habe versucht, ihnen Antwort zu erteilen.
Ich habe die Irrtümer, die Fehler, die ihre Väter begehen konnten, nicht verheimlicht. Diese aber sind dafür nicht allein und auch nicht völlig verantwortlich.
Koalitionskriege und gemeinschaftlich errungene Siege erfordern auch gemeinschaftliche Friedensschlüsse. Es sind Kompromissfrieden, in denen sich die Widersprüche zwischen den Siegern spiegeln und die in sich Keime der Auflösung bergen. Das strenge Urteil über den Frieden von Versailles ist zweifellos nicht unbegründet. Aber darf dieses nicht gemildert werden angesichts des Schauspiels, das uns die Sieger von 1945 bieten, die noch heute unfähig sind, sich – selbst in einem schlechten Vertrag – über das Schicksal Deutschlands und Österreichs zu einigen?
Weder 1919 noch im Laufe der folgenden Jahre ist auf die Stimme Frankreichs gehört worden. Seine Ratschläge wurden oft von seinen Verbündeten nicht beachtet. Nachdem die Vereinigten Staaten das Zusammenwirken mit den Alliierten aufgegeben hatten, musste unser Land manches Zugeständnis machen, von dem schwerwiegenden Bedenken geleitet, die Bande der Solidarität und Freundschaft mit Großbritannien nicht zu zerreißen. Es ist heute leicht, den französischen Regierungen vorzuwerfen, nicht genug Energie bewiesen und in der Führung der Außenpolitik nicht mehr Unabhängigkeit bekundet zu haben. Doch sobald sie es zu einer Spannung und Verschärfung der Beziehungen zu London kommen ließen, wurden sie von den parlamentarischen Mehrheiten gestürzt. Dagegen waren sie der Zustimmung der Kammern sicher, wenn sie sich rühmen konnten, um den Preis eines Verzichtes unsere enge Freundschaft mit den Nachbarn jenseits des Kanals gefestigt zu haben. Raymond Poincaré wurde von der Wählerschaft verleugnet und als Ministerpräsident gestürzt, weil er trotz Tadel und Widerstand des britischen Kabinetts dem widerspenstigen Deutschland die starke Hand gezeigt und das Ruhrgebiet besetzt hatte. Und die Erinnerung an diesen Vorgang lastete auf seinen Nachfolgern wie auf ihm selbst.
Somit könnte ein Bericht über die Ereignisse, die sich von 1919 bis 1939 abspielten, leicht zu einer Anklage gegen England werden. Auf diesen Abweg wollte ich mich nicht begeben. Wir müssen die Engländer nehmen, wie sie sind, mit ihren Fehlern und Vorzügen, ebenso wie sie sich mit uns, wie wir nun einmal sind, abfinden müssen. Eine höhere und dauernde Interessengemeinschaft verbindet die beiden Völker. Die Freiheit Europas, wenn nicht der Weltfriede, beruht auf diesem Einvernehmen. Jedes Mal, wenn Europas Freiheit in Gefahr ist, finden sie sich Seite an Seite zu ihrer Verteidigung zusammen. Wir hatten also nicht unrecht, guten Beziehungen zu den Briten einen großen Wert beizumessen. Dank dieser Haltung konnten wir mit ihnen gegen den Ansturm der nazistischen Heere kämpfen, konnten unsere Widerstandsbewegung sogleich nach der Invasion von 1940 auf sie stützen und die entscheidende Hilfe von den Vereinigten Staaten erhalten.
Nichtsdestoweniger ist das Bedauern gestattet, dass nach dem Siege von 1945 die Ansicht Frankreichs bei den Beratungen seiner Alliierten nicht schwerer ins Gewicht fällt, sobald es sich darum handelt, festzusetzen, wie das niedergeschlagene Deutschland sowohl zu einem normalen Leben inmitten der anderen Nationen zurückgeführt als auch für die Zukunft unbedrohlich gemacht werden könnte. Die rassische Verbundenheit führt die Angelsachsen zu dem Glauben, sie seien bessere Kenner der deutschen Psychologie als wir Franzosen. Tatsächlich aber setzt dies sie der Gefahr aus, sich leichter missbrauchen zu lassen. Eine enge Nachbarschaft, jahrhundertealte Berührungen, wiederholte Konflikte und mehrfaches Unheil haben uns reichere Erfahrung beschert. Man täte gut daran, ihr mehr Rechnung zu tragen. Letzten Endes ist es ein psychologischer Irrtum, der die Misserfolge in der Zeit zwischen den zwei Kriegen einleitete. Die Sieger von 1918 beachteten nicht genügend die Deutung, die Deutschland seiner Niederlage vor der Welt und vor sich selbst gab. Sie erforschten die Mentalität der Deutschen nicht gründlich genug, die es Wilhelm II. weniger übelnahmen, dass er eine Politik betrieben hatte, die sie im Grunde billigten, als dass er diese Politik nicht bis zum Erfolg zu führen verstand. Dieses grundlegende Missverständnis wird im Allgemeinen nicht genügend in das rechte Licht gerückt. Alles, was sich in der Folge begab, leitet sich aber daraus ab, in einer Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die so lückenlos ist, dass man bei ihrer Betrachtung dem Ablaufen eines unwiderstehlichen Mechanismus zuzusehen glaubt.
Wenn man überdies die Periode zwischen den beiden Kriegen gerecht beurteilen will, muss man einen ihrer charakteristischen Züge berücksichtigen. Vor 1914 kümmerte sich die Öffentlichkeit recht wenig um Außenpolitik. Sie nahm in den meisten Zeitungen einen sehr beschränkten Raum ein. Die ihr vorbehaltene Spalte war zweitrangig. Selten fanden ihretwegen im Parlament Debatten statt, an denen dann meist nur ehemalige Ministerpräsidenten, ergraute Deputierte und Senatoren teilnahmen, die zuvor den Minister von ihrer Stellungnahme in Kenntnis gesetzt hatten. Die Diplomatie stellte sich weder in der parlamentarischen Arena noch auf offenem Markt zur Schau. Sie leistete ihre Arbeit in taktvoller Zurückhaltung, auf die gewohnheitsgemäß Rücksicht genommen wurde.
Nach 1919 nimmt alles einen anderen Lauf. Die breite Masse macht der Diplomatie heftige Vorwürfe, bezeichnet sie als Geheimdiplomatie und klagt sie an, den Krieg heraufbeschworen zu haben. Sie dringt in das Gehege ein, in das sich die Diplomatie zurückgezogen hat. Sie verlangt, alles zu erfahren, äußert sich lärmend über die geringfügigsten diplomatischen Schritte. Jeden Augenblick wirkt sie auf die Entschlüsse der Regierungen ein. Die Außenpolitik tritt in den Vordergrund der Zeitungspolemik. Sie bildet ein Hauptstück der Wahlprogramme. Sie wird zur Parteisache. Sie ist Gegenstand ständiger und leidenschaftlicher Auseinandersetzungen in den parlamentarischen Kreisen. Der mit ihr betraute Minister ist der Erregung, den Stimmungsschwankungen und dem Druck einer eher gefühlsmäßig als überlegt reagierenden Masse ausgesetzt, die bisweilen von außen beeinflusst wird. Ist dies ein Vorteil oder ein Nachteil? Ich fürchte, dass die »Diplomatie der Straße« mehr als einen Anlass bietet, sich nach der sogenannten Geheimdiplomatie zurückzusehnen, dass sie viel mehr Schaden anrichtet als diese und in Wirklichkeit die Verneinung aller Diplomatie ist. Aber sei es, wie es ist, in der Folge dieses Zustandes tragen die Völker mehr als früher die unmittelbare Verantwortung für die Handlungen ihrer Regierungen und die Fehler, die sie diesen zuschreiben, fallen ihnen oft selbst zur Last. Die öffentliche Meinung, nicht nur in Frankreich, gefiel sich in der Vorstellung, der Krieg von 1914–1918 habe den Schlussstrich unter ein Kapitel der Menschheitsgeschichte gezogen und das Zeitalter der Kriege sei nunmehr abgeschlossen. Sie interessierte sich nicht mehr für die Wehrpflicht. Sie setzte ihr ganzes Vertrauen in den Völkerbund, in die Idee der kollektiven Sicherheit und die automatische Ausschaltung des Krieges durch die Organisation des Friedens. Sie verfiel in eine Art Friedenspsychose und machte sich hiervon nur mühsam, ungern und zu spät frei. Sie hörte nicht auf die Warnungen derer, die sie aufzuwecken und ihren Blick auf bedrohliche Erscheinungen zu lenken suchten, die allerdings ihren vorgefassten Ansichten zuwiderliefen. Trotz der Speichelleckerei der Demagogen, die den Massen einreden wollen, sie besäßen alle Tugenden, werden Klugheit und Scharfblick immer Eigenschaften einer nur kleinen Elite sein.
Haben wir, wie uns oft vorgeworfen wird, der Rachsucht die Zügel schießen lassen? Haben wir durch unsere Forderungen und unsere Unnachgiebigkeit dazu beigetragen, die Weimarer Pseudodemokratie in Verruf zu bringen? Haben wir in Deutschland die nationalistische und kriegerische Glut geweckt, die sich in Hitler, diesem plebejischen Wilhelm II., verkörperte? Um die Wahrheit frei zu sagen: Diese Glut war nie erloschen. Sie glomm unter der dünnen Aschenschicht weiter, mit der man sie zugedeckt hatte. Sie verbarg sich so lange, wie es unklug war, sie offen zutage treten zu lassen. Dennoch gab es viele Franzosen, die aufrichtig wünschten, der deutsch-französische Zweikampf möge ein Ende nehmen, die von ganzem Herzen die Versöhnung anstrebten und sich allen Bemühungen um Annäherung anschlossen. Allerdings sollte nach ihrer Ansicht der Versailler Vertrag die Grundlage dieser Annäherung bilden. Sie glaubten nicht, dass seine Bedingungen übertrieben und ungerecht seien. Sie sahen in ihnen eine natürliche Entschädigung für das erlittene Unrecht und eine heilsame Vorsichtsmaßnahme für die Zukunft. Die Deutschen dagegen, die gewöhnt sind, sich als Opfer aufzuspielen, und denen angeboren ist, niemals einen Fehler einzugestehen, meinten, die Beseitigung des Vertrages, besonders seiner Klauseln über Reparationszahlungen und militärisches Statut des Reiches, müsse die Vorbedingung oder die erste Folge der Versöhnung sein. Auf diesem Boden war keine Verständigung möglich. Frankreich ist dennoch Stufe um Stufe auf der Leiter der Zugeständnisse herabgeglitten. Hätte Frankreich etwa bessere Ergebnisse erzielt, wenn es sich diese Zugeständnisse nicht hätte abpressen lassen, sondern sie – vorausgesetzt, dass sein Volk es geduldet hätte – allein, aus eigenem Antrieb und mit einem Schlage in Form der von den Deutschen geforderten »großen Geste« gewährt hätte? Man kann es mit Recht bezweifeln. Es ist nicht sicher, ob die fragliche große Geste nicht für ein Zeichen der Schwäche und der Angst gehalten worden wäre und zum Triumph der Nationalisten geführt hätte.
Aus der Geschichte jener zwanzig Jahre zwischen den beiden Kriegen lassen sich nützliche und treffende Lehren ziehen. Die meisten davon hat man schon aus den Augen verloren. Man würde sich wohl eher daran erinnern, wenn nicht klar wäre, dass das deutsche Problem sich heute in anderer Weise darstellt als gestern. Einerseits spricht die Niederlage von 1945 zu den Deutschen eine weit beredtere und schwerer zu verfälschende Sprache als die von 1918. Die in den Städten aufragenden Ruinen, die Besetzung des gesamten Staatsgebiets durch die fremden Heere, der Zusammenbruch der Industrien, das Verschwinden jeder militärischen Streitmacht, das herrschende Elend – sie reden eine Sprache, der sich das germanische Ohr und das germanische Gehirn nicht verschließen können. Deutschland hat für lange Zeit aufgehört, für sich allein eine Gefahr für den Frieden zu sein. Aber es ist andererseits ein Ereignis von bedeutender Tragweite eingetreten, das die Sieger nicht vorausgesehen hatten. Einer von ihnen, einer von denen, die an ihrer Seite mit der größten Erbitterung und dem größten Heldenmut gekämpft hatten, löste sich von ihnen los. Ja noch mehr, er erhob sich gegen sie. Dem Siege folgte die Zwietracht. Der nationalistisch, militaristisch und panslawistisch gewordene russische Kommunismus erwies sich als expansions- und eroberungslustig. Sowjetrussland riss die Staaten Mittel- und Osteuropas an sich. Es umgab sich mit einem Ring von Satelliten, seinem Willen unterworfen und hinter einem eisernen Vorhang abgesperrt, bildete einen Ostblock, dessen Spitze sich gegen den Westen richtet. Es nahm eine offen feindselige Haltung gegenüber seinen Gefährten von gestern ein, gegen die liberalen Demokratien und besonders gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, denen es seine eigenen imperialistischen Herrschaftspläne unterstellt. Es zwang Westeuropa, das eine Abneigung zeigt, den eigenen Augen zu trauen, sich auf seine Verteidigung einzurichten, seine Solidarität aufgrund des Marshallplanes zu organisieren, den ihm Amerika anbot, um dem Kontinent beim Verbinden der Kriegswunden zu helfen. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken nahm sogar das Recht in Anspruch, Westeuropa die Annahme dieses Planes zu verbieten. So sind Europa und die Welt in zwei gegensätzliche Gruppen geteilt, und die Organisation der Vereinten Nationen, welche die Harmonie und den Frieden der Welt sichern sollte, bleibt gelähmt. Aber die Trennungslinie, die Bruchlinie zwischen den beiden Blöcken, läuft in Europa mitten durch Deutschland. Sie zerschneidet Deutschland in zwei Hälften. Der eiserne Vorhang der Sowjets fällt vor der russischen Besatzungszone herunter. Wenn auch selbst ohnmächtig, wird Deutschland dadurch ein zusätzlicher Wertfaktor, der im Kampf um die politische Vormacht, den seine Gebieter ausfechten, eingesetzt werden kann. Jeder von diesen versucht, den von ihm kontrollierten Teil Deutschlands auf seine Seite zu bringen und in seinem Lager zu behalten. Russland entwickelt mit der Kommunistischen Partei, von ihm beraten und gelenkt, die hinterhältigste Propaganda. Es wirft sich zum Vorkämpfer der Wiederherstellung der Reichseinheit auf. Es befürwortet die Wahl einer Nationalversammlung für das ganze Reichsgebiet, und diese soll dem Reich ein politisches Statut geben. Von dieser Nationalversammlung hofft Russland, dass in ihr seine Anhänger die Oberhand gewinnen. Russland schmeichelt den patriotischen Gefühlen der deutschen Nationalisten, der ehemaligen militärischen Kreise, die für sich zu gewinnen, es sich während ihrer Kriegsgefangenschaft bemüht hat, der großen Masse der »kleinen Nazis«, die es schont, nachdem es die Führer bestraft und ausgeschaltet hat. Russland verbreitet den Gedanken, Deutschland habe, wenn es sich mit ihm in einem Nationalkommunismus als Nachfolger des Nationalsozialismus verbinde, die Gelegenheit, sich an den kapitalistischen Demokratien zu rächen und seine Stellung als Großmacht wiederzugewinnen. Es gibt keine deutsche Gefahr mehr. Aber an ihrer Stelle ist eine russische Gefahr aufgetaucht, und sofort droht die deutsche Gefahr als Folge der russischen wiederaufzuleben. Um sich dagegen zu verteidigen, können die Westmächte sich nicht damit begnügen, mit der Abneigung zu rechnen, die die meisten Deutschen dem Bolschewismus gegenüber noch empfinden, oder mit dem Hass, den grausame Methoden der russischen Besatzung gesät haben. Sie müssen der Bevölkerung ihrer Zonen ein Dasein schaffen, das dem der Bewohner der Ostzone vorzuziehen ist, bessere Ernährung, größere und lohnendere Verdienstmöglichkeiten, ein sanfteres und liberaleres politisches Klima, die Aussicht auf Gleichberechtigung in der Organisation eines künftigen europäischen Staatenbundes; und außerdem dürfen sie keinen Zweifel darüber lassen, dass sie einem etwaigen Angriff der Slawen Widerstand zu leisten vermögen.
An dieser Aufgabe kann Frankreich in wirksamster Weise mitarbeiten. Seine Lebensformen, der Ideenkreis, in dem es sich bewegt, die Atmosphäre seiner Kultur, seine Überlieferungen machen es ihm leichter als jeder anderen Nation, in Süd- und Westdeutschland Gehör und Verständnis zu finden. Gewiss hätte Frankreich tausend Gründe, in einer radikalen Ablehnung gegenüber jenem Volke zu verharren, das es im Verlauf von noch nicht einem Jahrhundert dreimal überfallen und so vielen seiner Kinder brutalste Misshandlungen und abscheuliche Martern zugefügt hat. Indes lässt sich nicht feststellen, dass Frankreich von Hass und Rachedurst beseelt sei. Zwar vergisst es die Vergangenheit nicht, aber sein Instinkt, seine tiefe Humanität treiben es im Gegenteil dazu, sich noch einmal auf die Suche nach den Wegen einer besseren Zukunft zu begeben und bei den Deutschen eine Entwicklung zu fördern, die es erlaubt, sie in den Kreis der Demokratien des Westens aufzunehmen und dauerhafte gutnachbarliche Beziehungen zu ihnen herzustellen.
Ich habe meinen Abriss der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen in der Zeit zwischen den Kriegen mit der Potsdamer Konferenz abgeschlossen. Diese stellt in der Tat den letzten Augenblick dar, da die Alliierten noch untereinander einig sind und man glauben kann, es sei ihnen gelungen, gemeinsame Grundsätze für eine gemeinschaftliche Regierung Deutschlands bis zum Abschluss eines endgültigen Vertrages festzulegen. Kaum zwei Monate später ist diese Einigkeit schon hinfällig. Es beginnt ein unruhevoller und dramatischer Zeitabschnitt, die Periode des »Kalten Krieges«, wobei die Sorge um die Zukunft und die Angst wieder in die Herzen einziehen. Sie dauert noch an, reich an überraschenden Wendungen und verschiedenen Zwischenfällen. Ich habe die Probleme angeführt, die diese Periode zu lösen hat, und die Faktoren, aus denen sie sich zusammensetzt.
Wie werden diese Probleme gelöst werden? Niemand vermag es zu sagen. Gleichwohl kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass das neue Kapitel der Geschichte, das vor uns aufgeschlagen ist, in eigentümlicher Weise dem ähnelt, das wir erlebt haben, und dass der Totalitarismus Stalins seltsam an den Totalitarismus Hitlers erinnert. Muss man daraus den Schluss ziehen, dass aus dem gegenwärtigen Konflikt zwangsläufig ein dritter Weltkrieg entsteht? Nein – wenn wir Nutzen aus den Lehren ziehen, die die jüngste Vergangenheit erteilt hat.
Hier gewinnen die Lehren der Zeit zwischen den beiden Kriegen ihre ganze Aktualität zurück. Die westlichen Demokratien, die Staaten, die das bilden, was man als das »atlantische Europa« bezeichnen kann, sind sich der sie bedrohenden Gefahr bewusst. Sie haben die Grundlage für eine gemeinsame, koordinierte Verteidigung geschaffen. Wenn Sowjetrussland sieht, dass es keine Aussicht mehr hat, sie zu trennen, ihren Widerstand und ihren Zusammenhang von außen zu brechen oder von innen zu sprengen, so ist es möglich, dass es vor der Gefahr eines Weltbrandes zurückschreckt. Wenn es begriffen hat, dass wir ihm gern den Genuss eines Regimes nach seinem Geschmack belassen, aber auch entschlossen sind, uns von ihm nicht verschlingen zu lassen, dann wird es sich vielleicht anschicken, die Formel eines auf der Teilung der Einflusssphären und dem Gleichgewicht der Kräfte beruhenden Friedens zu suchen.
Hätte sich Adolf Hitler einem kompakten und geschlossenen Block gegenübergesehen, so hätte er nicht gewagt, einen Krieg zu entfesseln.
Für das Abendland wäre es die schwerste Gefahr, wenn die Schwäche seiner Regierungen, der Defaitismus seiner öffentlichen Meinung, die Heftigkeit seiner inneren Gegensätze, der Egoismus und die Händel der Völker, aus denen es sich zusammensetzt, aus ihm eine verlockende, leicht zu verschlingende Beute machten.
Durch Einigkeit, Mut, Klarheit einer Interessengemeinschaft, methodische Organisation, Hinnahme der militärischen Notwendigkeiten, Bürgersinn, aber auch, im Innern der Staaten, durch wohlbedachte Verbesserung des Loses der Leidenden durch fortschrittliche Sozialpolitik und den Kampf gegen das Elend, diesen Zutreiber des Bolschewismus und Schöpfer des Aufruhrs, werden die Menschenrechte, die Achtung vor dem Individuum, die demokratischen Freiheiten und alle Errungenschaften am sichersten bewahrt werden, auf denen das Wesen unserer Zivilisation beruht und die ihren Wert ausmachen.