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DIE MILITÄRISCHE NIEDERLAGE UND DIE DEUTSCHE REVOLUTION
ОглавлениеDas deutsche Problem ist für Frankreich so alt wie Frankreich selbst. Es reicht bis in die Zeit zurück, in der die Nachfolger Karls des Großen sein Reich teilten und in Uneinigkeit gerieten. Recht oft haben mir Deutsche, die witzig sein wollten, gesagt: »Wir sind für die Abschaffung des Vertrages …«, und ehe ich Anstoß an ihrer Äußerung nehmen konnte, fügten sie eilig hinzu: »Für die Abschaffung des Vertrages von Verdun.«
Der im Jahre 843 nach der Niederlage Lothars bei Fontenay und den Straßburger Eiden geschlossene Vertrag von Verdun sprach Ludwig dem Deutschen das Land ostwärts des Rheins sowie Speyer, Worms und Mainz auf dem linken Rheinufer zu, Karl dem Kahlen das Land westlich der Schelde und Maas, während ein Gebietsstreifen zwischen der Schelde und der Weser Lothar zugleich mit der Kaiserwürde zugeteilt wurde.
Seitdem gibt es ein Frankreich und ein Deutschland, seitdem auch einen jahrhundertelangen Streit. Es ist, als zögen sich die beiden Hälften eines früher einheitlichen Ganzen in gleichem Maße wechselseitig an und stießen sich ab, als lebte in ihnen eine verborgene Sehnsucht nach der verlorenen Einheit und als versuchten sie, diese Einheit auf dem Wege der Politik oder der Gewalt wiederzugewinnen. Besonders die Deutschen träumen noch heute wie ihre Altvordern davon, Karl den Großen zu wiederholen. Sie möchten, wie er es war, Nachfolger und Erben des römischen Reiches sein, Europa beherrschen, wie er es beherrschte und wie nach ihm das Heilige Römische Reich deutscher Nation es zu beherrschen strebte.
Die Erinnerung an das heilige Imperium ist im neuzeitlichen Deutschland keineswegs erloschen. Sie wird schon durch das Wort »Reich« heraufbeschworen, das den Deutschen so teuer ist, das, der Vergangenheit zugewandt, Stolz und Bedauern ausdrückt, im Hinblick auf die Zukunft aber eine Hoffnung und ein Programm bedeutet. Franz von Papen sprach gern vom heiligen Reich, wohl wissend, dass er damit den Ohren seiner Hörer schmeichelte. Und eine der ersten Maßnahmen Hitlers nach der Annexion Österreichs und der Besetzung Wiens war es, die Reichsinsignien von dort wegzunehmen und nach Nürnberg zu bringen.
Als an der Spitze des Römischen Reiches Deutscher Nation Österreicher standen, die in Flandern, Lothringen, Italien und Spanien begütert waren, entstand für Frankreich die tödliche Gefahr einer Einkreisung. Es wurde zu seiner Hauptsorge, der Erstickung zu entgehen und seine Sicherheit auf der am meisten bedrohten Seite zu festigen, das heißt im Norden, im Osten und am Rhein. Hieraus ist zum großen Teil die Politik Richelieus, Ludwigs XIV., der französischen Revolution und Napoleons zu erklären.
In uns näherliegenden Zeiten nahm die deutsche Frage ein neues Gesicht an, als Preußen die Bühne des europäischen Theaters betrat. Dieses halbslawische, unter einen für barbarisch erachteten Himmelsstrich entrückte Preußen, das erst seit 1701 ein Königreich war, genoss in Frankreich zunächst große Beliebtheit, da es sich als Nebenbuhler Österreichs erwies. Wir verhalfen ihm zum Aufstieg, indem wir zur Schwächung Österreichs beitrugen, Österreich auf den Schlachtfeldern des Erbfolgekrieges schlugen, später bei Magenta und Solferino, schließlich zuließen, dass es bei Königgrätz besiegt wurde, und indem wir die Bildung der italienischen und der deutschen Einheit begünstigten. Bismarck wollte ein föderatives Deutsches Reich unter preußischer Führung gründen, dem alten österreichischen Kaiserstaat gewachsen, wenn nicht gar überlegen. Die Deutschen nach ihm waren weniger klug. Sie waren von dem Ehrgeiz besessen, die erste Macht des Kontinents zu werden. Verblendet von dem stolzen Bewusstsein, in der Reformation nicht nur die einzige große Ketzerei des Christentums, die gelungen war, verbreitet, sondern auch in der kurzen Spanne von ein bis anderthalb Jahrhunderten die ganze Welt durch Reichtum und Vielseitigkeit geistiger Schöpfungen wie auch durch einen unerhörten industriellen Aufschwung verblüfft zu haben, berauscht von außerordentlich raschen Erfolgen, verfielen die Deutschen zwei Krankheiten, von denen sie auch jetzt noch nicht geheilt sind: dem Verfolgungswahn und dem Größenwahn. Für ihr Streben nach Hegemonie, dieser Kehrseite zurückgedrängter Emporkömmlingsgefühle, erschien Frankreich als Hindernis. Der Krieg von 1870/71 hatte dieses Land nicht ausgeschaltet. Es hatte sich ziemlich rasch wieder aufgerichtet. Mit Russland verbündet, mit England befreundet, war es für Deutschlands Bestrebungen wieder ein Hemmschuh geworden. Das Deutschland Wilhelms II. wollte Frankreich das Rückgrat brechen. Es gelang ihm aber nicht. Jedoch hat es aus Gründen, die wir noch darlegen werden, das durch den Entscheid der Waffen gefällte Urteil nicht anerkannt.
Deutschland fiel in einen nationalistischen Rausch zurück. Es brachte einen Hitler hervor, der auf einer mehr plebejischen Ebene mittels einer verwegenen sozialen Demagogie die Massen für sich gewann. Hitler hat den Versuch Wilhelms II. erneuert. Er ist noch gründlicher gescheitert. Deutschland ist besetzt, zerschmettert, ruiniert und praktisch vernichtet. Dennoch zählt es nicht weniger als siebzig Millionen Einwohner, ein beachtenswertes menschliches Potenzial. Es handelt sich jetzt darum, über sein Los zu entscheiden, ihm ein Statut zu geben, es durch einen Vertrag zu binden, der nach Möglichkeit weniger brüchig ist als der Vertrag von Versailles. Es gilt, die Rolle zu umreißen, die Deutschland hinfort in Europa zu spielen berufen ist. Was wird diese Rolle sein? Und was wird dieses Europa sein? Die Sieger, die sich auf deutschem Boden niedergelassen haben, sind unter sich uneinig. Sie können sich darüber nicht verständigen, wie der vor zweieinhalb Jahren errungene Sieg verwertet werden soll, sodass die deutsche Frage noch immer ungelöst ist. Bei meinem Versuch, zu klären, wie sich das zeitgenössische deutsche Problem vor unseren Augen darstellt, will ich nicht bis auf die Ursprünge dieses episodenreichen und noch nicht abgeschlossenen Dramas zurückgehen. Das Wort »zeitgenössisch« allerdings ist ein dehnbarer Begriff. Ich war Zeitgenosse von Ereignissen, die vor der Geburt der meisten meiner Leser liegen. Die dritte Republik, deren Weg meine Generation nur zur Hälfte oder zu zwei Dritteln miterlebt hat, rechnen die Historiker, wenn ich nicht irre, auch zur zeitgenössischen Geschichte. Es wäre, glaube ich, richtig, als zeitgenössisch die Ereignisse zu betrachten, für die es noch Augenzeugen, wenn nicht gar Mitwirkende gibt, die imstande sind, darüber mindestens das zu berichten, was sie wahrgenommen haben.
Gemäß dieser Auffassung werde ich meine Betrachtung mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges Ende 1918, mit der Stunde des Waffenstillstandes und des Friedens beginnen. Ich werde sie vom Versailler Friedensschluss weiterführen bis zur deutschen Kapitulation, die den Zweiten Weltkrieg beendet, bis zur Konferenz von Potsdam, die nach der Niederlage Deutschlands Schicksal bestimmt hat. »Von Versailles bis Potsdam« kann somit der Titel dieser Studie lauten.
Ich werde mich bemühen, zu zeigen, wie der Versailler Vertrag nicht hielt, was er versprach; wie er weder den deutsch-französischen Gegensatz noch das deutsche Problem löste; wie die Weimarer Republik Bankrott machte, von der man doch erwartete, dass sie demokratische Einrichtungen einbürgerte und Deutschland ein neues Gesicht und eine neue Seele gäbe; wie, so kurz nach der Niederlage, das Reich an Revanche denken konnte; wie Aufstieg, Diktatur und Sturz Adolf Hitlers zu erklären sind; wie sich endlich, nach der Kapitulation und der zweiten Katastrophe, die Lage Deutschlands gestaltet, das von vier fremden Heeren besetzt und von vier fremden Regierungen abhängig ist.
Ich gebe nur eine summarische, in großen Zügen gehaltene Skizze von den rund 28 Jahren, die seit dem Zusammenbruch des Reiches Wilhelms II., des »zweiten Reichs«, verflossen sind. Man findet hier keinen vollständigen Bericht, keine lückenlosen Aufzählungen und Chronologien. Ich bemühe mich vor allem, die allgemeinen Ideen herauszuarbeiten, die meines Erachtens den Tatsachen zugrunde liegen und zu deren Erklärung dienen. Dabei hebe ich die Männer hervor, die ich persönlich kannte, und die Ereignisse, an denen ich irgendwie beteiligt war.
Man wird auf diesem Wege bemerken, dass die Fragen, die uns zur Stunde bewegen, oft sehr verwandt mit den Fragen sind, die uns gestern beschäftigt haben. Die Geschichte ist eine Lehrmeisterin. Aber es wird sich auch zeigen, dass der Mensch sich nicht viel um die Lehren der Geschichte kümmert. Die Erfahrungen seiner Vorgänger zählen in seinen Augen gering. Und er kehrt fröhlich zu den schon begangenen Fehlern zurück. Man kann dies in gewisser Hinsicht bedauern. In anderer Beziehung ist es besser, sich philosophisch damit abzufinden. Denn wenn jede Generation die Früchte aller Erfahrungen erntete, die von allen ihr vorausgehenden Generationen erworben worden sind, befände sich unsere Generation heute auf dem Gipfel einer Pyramide der Weisheit. Aber ihr Selbstvertrauen, ihr Lebensmut, ihre innere Glut, wären dadurch empfindlich herabgesetzt. Ich war stets der Meinung, dass die Ausbreitung der Weisheit den Beginn des Niedergangs der Menschheit bedeutet. Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist das sich uns heute bietende Bild der Welt durchaus beruhigend. Es ist uns kein Zweifel darüber erlaubt, dass die Menschheit Aussicht hat, noch viele Jahrtausende zu erleben.
Im Herbst 1918 kamen für viele von uns das Ende der militärischen Operationen, die Unterzeichnung des Waffenstillstandes und die deutsche Kapitulation plötzlich und unerwartet, fast wie ein Wunder.
Das ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass im März 1918 das englische Heer mit knapper Not dem Unheil entging, dass wir selbst im Mai am Chemin des Dames zerschmettert und auf die Marne zurückgeworfen wurden, dass Paris zu dieser Zeit den Granaten des langen Max ausgesetzt war und dass es uns erst Mitte Juli durch einen Gegenangriff in der Champagne gelang, wieder die Initiative zu ergreifen und eine Reihe erfolgreicher Offensiven durchzuführen. Von Juli bis November hatten wir das deutsche Heer zum Rückzug gezwungen. Aber es ging Schritt für Schritt zurück, in voller Ordnung, kämpfend; und es machte den Eindruck, dass es noch in sich gefestigt und furchtbar war. Marschall Foch hatte für November einen Angriff auf Deutsch-Lothringen vorbereitet. Er erhoffte davon bedeutenden Erfolg. Dennoch glaubte er nicht, dass es die letzte Schlacht sein würde. Er rechnete mit einem Winterfeldzug, mit dem Endsieg erst im Frühling 1919. Aber am 11. November 1918 erklärte sich Deutschland besiegt. Es unterzeichnete den Waffenstillstandsvertrag. Vier Monate hatten genügt, um eine völlig veränderte Lage zu schaffen und die gewaltige Kriegsmaschine des Gegners außer Gefecht zu setzen. Man traute seinen Augen nicht. Die Reichweite und die Schnelligkeit dieses Umschwungs erfreuten natürlich die Alliierten, überraschten sie aber auch, denn sie konnten seine Ursachen nicht klar erkennen.
Ihrer Freude, ihrem Triumph war deshalb ein gutes Teil Misstrauen beigemischt. Die Furcht vor Deutschland, seiner verbleibenden Kraft und seinen möglichen Gegenwirkungen überlebte den Waffenstillstand und beeinflusste während der Ausarbeitung des Friedensvertrages den Geist der Unterhändler, nicht nur der Engländer und Amerikaner, sondern auch der Franzosen. Frankreichs Sorge um seine Sicherheit, die in der Folgezeit eine so wichtige Rolle spielen sollte, tritt in demselben Augenblick in Erscheinung, in dem das Reich Wilhelms II. die Waffen niederlegt.
Als das Signal zum Einstellen des Feuers ertönt, sieht es so aus, als seien die Engländer von tiefem Hass gegen die Deutschen erfüllt. Sie bezeichnen sie nur als »Hunnen«. Lloyd George schwört, der Kaiser werde in einem Käfig durch die Straßen geführt und dann gehängt werden, und man werde Deutschland zur Wiedergutmachung der von ihm verursachten Schäden pressen, »bis man die Knochen krachen hört«.
Weniger grimmig sind die Amerikaner. Ohne die Zerstörungen durch den U-Bootkrieg und die Torpedierung der »Lusitania« vergessen zu haben, denken sie eher daran, Schiedsrichter zu spielen, in dieses kleine und doch so zersplitterte Europa Ordnung hineinzubringen und dort eine neue und aufsehenerregende Einrichtung zu schaffen, die unter dem Namen »Völkerbund« den Weltfrieden verbürgen soll. Und obendrein wollen sie so früh wie möglich heimkehren.
Die Franzosen können den »Boches« nicht die begangenen Verwüstungen verzeihen, die Ersäufung der Gruben, die Verstümmelung der Obstbäume und die Deportierung der Bevölkerung der nördlichen Departements. Deutschland soll die Schäden, für die es verantwortlich ist, vollständig wieder gutmachen und die Kosten der Reparationen tragen. Auch soll der Krieg, dessen Lasten Frankreich vier Jahre hindurch getragen hat, der letzte aller Kriege gewesen sein. Das Mittel hierzu ist die Entwaffnung des Reichs. Es soll unter die Aufsicht eines Bundes aller friedliebenden Völker gestellt werden. Wiedergutmachung aller Schäden von gestern und Sicherheit für morgen sind die Hauptforderungen, die sich die französische öffentliche Meinung einhellig zu eigen macht. Sie erkennt nichtsdestoweniger an, dass die Deutschen tapfere Soldaten gewesen sind. Bei allem Abscheu empfindet sie für den deutschen Soldaten insgeheim eine gewisse Achtung, was ihr den Wunsch eingibt, die Ära der deutsch-französischen Konflikte möchte ein für alle Mal beendet sein.
Engländer, Amerikaner und Franzosen sind gleichermaßen überzeugt, dass dieser grausamste und blutigste aller Kriege, den es je gegeben hat und nach ihrer Meinung je geben wird, von Deutschland, seinem Ehrgeiz, Machthunger und Hegemoniestreben gewollt und hervorgerufen worden ist, dass Deutschland schuldig ist und als schuldig behandelt werden muss.
Den Deutschen dagegen hat man ihrerseits eingeredet, und sie haben es gehorsam anerkannt, dass sie nichts anderes taten, als sich in einem Krieg zu verteidigen, der ihnen aus Neid und Hass aufgezwungen wurde, um ihrem Land den gebührenden Platz an der Sonne zu verwehren. Nach Kriegsende wendet sich ihr Groll fast ausschließlich gegen die Engländer. Die Engländer haben das Reich blockiert und die Frauen und Kinder systematisch ausgehungert. Gott strafe England! Das ist das deutsche Schlagwort. Die Amerikaner, die sich auf den Schlachtfeldern als Neulinge erwiesen haben, betrachten sie mit einer recht verächtlichen Ironie. Ihre ganze Sympathie gehört den Franzosen. Sie erkennen an, dass die Franzosen gute Soldaten und würdige Gegner waren. Sie bewundern den »poilu«. Sie beneiden die Franzosen um Clemenceau und Foch und hoffen auf eine Versöhnung mit ihnen.
So stellt sich beim Waffenstillstand das Gefühlsbild der Kriegführenden dar. Es währte nicht lange, so sollte es einschneidende Veränderungen erfahren.
Untersucht man den Zustand der öffentlichen Meinung in Deutschland kurze Zeit danach, fragt man, wie sie in ihrer überwältigenden Mehrheit den Waffenstillstand vom 11. November 1918 und den ihm folgenden Frieden vom Juni 1919 auffasst, wie sie über die entscheidenden Ereignisse unterrichtet wird und darüber denkt, so begegnet man folgender Ansicht, von allen Zeitungen verbreitet, in allen Schulen gelehrt, in jedem Gehirn verankert, lange vor der Machtübernahme durch Hitler und den Nazismus:
Deutschland ist nicht militärisch besiegt worden. Sein Heer wurde nicht im Felde geschlagen und durch eine Niederlage zur Übergabe gezwungen, seine Grenzen wurden nicht verletzt, es erfolgte keine Invasion.
Deutschland ist vor allem ein Opfer der Blockade, eines unmenschlichen Kriegsmittels, demgegenüber der uneingeschränkte U-Bootkrieg völlig gerechtfertigt war.
Deutschland wurde außerdem noch durch die Bekanntgabe der 14 Punkte betroffen, die nach der Erklärung des Präsidenten Wilson in einer Botschaft an den Kongress vom Januar 1918 die Grundlage für den Frieden bilden sollten.
Die ganze Welt war gegen Deutschland verbündet.
Deshalb hat es auf Veranlassung der Zivilregierung und der parlamentarischen Kreise um einen Waffenstillstand gebeten, als notwendige Voraussetzung für die Eröffnung von Verhandlungen über einen Frieden, der nach deutscher Ansicht auf der Basis der Gleichberechtigung zu verhandeln war, da es auf dem Schlachtfeld weder Sieger noch Besiegte gegeben hatte.
Die von den Alliierten auferlegten Waffenstillstandsbedingungen waren indessen so drakonisch und hart wie bei einer Niederlage des deutschen Heeres. Deutschland hätte sie zurückweisen und den Kampf wiederaufnehmen können, aber in diesem Augenblick versetzten Sozialdemokraten, Marxisten und Juden dem Vaterlande einen Dolchstoß in den Rücken. Die Heimat verriet die Front. Sie revolutionierte und machte damit jeden Widerstand unmöglich.
Deutschland rechnete trotzdem auf einen Verhandlungsfrieden. Es hatte die Revolution im Innern niedergeschlagen und sich eine republikanische und demokratische Verfassung nach dem Muster der Alliierten gegeben.
Doch die Alliierten machten sich seine Ohnmacht zunutze, nachdem sie ihm beim Waffenstillstand Waffen und Verteidigungsmittel weggenommen hatten. Sie isolierten in Versailles die deutschen Vertreter, verwarfen ihre Einwände und Gegenvorschläge und lehnten jede Verhandlung mit ihnen ab. Als wahrhafte Betrüger legten sie zunächst den Köder der 14 Punkte Wilsons aus, warfen ihn dann beiseite und zwangen Deutschland unter Drohung mit Invasion einen nicht frei verhandelten, sondern diktierten Frieden, ein Diktat auf. Mit einem besonders hassenswerten Artikel dieses Diktats, dem Artikel 231, zwangen sie Deutschland, sich als schuldig am Kriege zu bekennen. Daraus leiteten sie die Verpflichtung zur Zahlung von Reparationen in astronomischer Höhe ab. Hiernach ließen sie Deutschland nicht einmal zum Völkerbund zu.
Deutschland unterzeichnete diesen leoninischen Vertrag, weil es gefesselt war und nicht anders konnte. Aber diese erpresste Unterschrift verpflichtet es nicht. Und die Deutschen werden, sobald sie können, die Ketten sprengen, mit denen man sie gefesselt hat.
Diese hier kurz zusammengefassten Thesen wurden in Deutschland so stark und eindringlich verbreitet, fanden so allgemeine Annahme und finden auch heute noch überall so viel Glauben, dass es der Mühe wert ist, sie den Tatsachen gegenüberzustellen. Wir wollen für den Augenblick die den angeblichen Betrug durch Wilsons 14 Punkte betreffende Behauptung beiseitelassen, dagegen die These prüfen, wonach das deutsche Heer nicht militärisch geschlagen worden sei, der unter dem Druck der Zivilisten erbetene Waffenstillstand ebenso wie der Friede hätten verhandelt werden können, wenn nicht der sozialistische Dolchstoß und der Verrat der Heimat Deutschland zur Ohnmacht verurteilt hätten.
Als am 11. Dezember 1918 die Truppen der Berliner Garnison in die Hauptstadt zurückkehrten und durch das Brandenburger Tor einzogen, hatten Offiziere und Soldaten ihre Helme mit Eichenlaub geschmückt. Und die Begrüßungsrede, die Ebert, der Präsident der Regierung der Volksbeauftragten, die aus der Revolution vom 9. November hervorgegangen war, an sie richtete, begann mit den Worten: »Ich grüße Euch, die Ihr unbesiegt von den Schlachtfeldern zurückkehrt!«
Der Schweizer Journalist René Payot1 hat kürzlich erzählt: »Ich habe im Dezember 1918 in Berlin den Einzug der Garderegimenter mitangesehen. Nun, ich versichere Sie, dass ich während eines ganzen Nachmittags das Gefühl hatte, einem Vorbeimarsch siegreicher Truppen beizuwohnen, denen man Blumen zuwarf!«
So trägt auch das zu Ehren der auf dem Felde der Ehre gefallenen Berliner Studenten errichtete Mal folgende Inschrift: Invictis victi victuri – den Unbesiegten von gestern die Besiegten von heute, die morgen Sieger sein werden! – In Wirklichkeit verhalten sich die Dinge ganz anders, als sie in der Darstellung erscheinen, welche zu geben die herrschenden, besonders die militärischen Kreise sich hartnäckig und von Anfang an bemüht haben.
In der ersten Juliwoche 1918 besucht Admiral von Hintze, eben zum Staatssekretär des Äußeren ernannt, Ludendorff in Avesnes und stellt ihm folgende Frage:
»Sind Sie gewiss, den Feind entscheidend und endgültig zu schlagen?«
»Auf Ihre Frage«, erwidert Ludendorff, »antworte ich mit einem kategorischen Ja.«
Aber am 3. August, als in Spa ein großer Kronrat stattfindet, an dem Wilhelm II., der österreichische Kaiser, Reichskanzler von Hertling, von Burián, Hindenburg und Ludendorff teilnehmen und jeder, besonders aber der Kaiser von Österreich, Besorgnisse um die Zukunft zu erkennen gibt, sagt Ludendorff zu Hintze: »Jetzt habe ich nicht mehr die gleiche Gewissheit«, und er setzt sich für eine strategische Defensive ein, die den Gegner ermüdet und ihn für Friedensverhandlungen geneigt macht.
Es ist aber das deutsche Heer, dessen Reserven immer knapper werden, das ermüdet ist und an Frieden denkt. Österreich seinerseits zieht sich mehr und mehr zurück. Man beginnt, nach einem Neutralen zu suchen, der den Gegner ausforschen soll.
Am 26. September zieht sich Bulgarien aus dem Kampf zurück.
Am 1. Oktober ruft Ludendorff unter dem Eindruck der wiederholten Schläge, die ihm Fochs Armeen versetzen, zwei Beamte der Wilhelmstraße, Grünau und von Lersner, zu sich und erklärt ihnen: »Es muss augenblicklich ein Friedensangebot gemacht werden. Heute hält die Truppe noch stand, aber man kann nicht voraussehen, was morgen geschieht!«
Und am gleichen Tage, um Mitternacht, ruft er sie telefonisch an: »Das Heer kann keine 48 Stunden mehr warten!«
Prinz Max von Baden, der soeben die Nachfolge des Reichskanzlers von Hertling angetreten und ein parlamentarisches Kabinett nach westlichem Muster gebildet hat, sichtlich um leichter mit den Alliierten zu verhandeln, fordert einen Aufschub und will sich erst informieren. Am 3. Oktober schreibt ihm Hindenburg: »Es besteht keine Hoffnung mehr, den Feind zum Friedensschluss zu zwingen. Die Lage wird von Tag zu Tag kritischer und kann die oberste Heeresleitung zu folgenschweren Entschlüssen zwingen!«
Am 5. Oktober entschließt sich Max von Baden durch Vermittlung der Schweiz an den Präsidenten Wilson zu telegraphieren; er bittet ihn, sofort einen Waffenstillstand abzuschließen und die Kriegführenden zu Friedensverhandlungen auf der Basis der 14 Punkte zusammenzurufen.
An diesem Datum des 5. Oktober 1918 gibt es noch keinerlei revolutionäre Erhebung, keinen Dolchstoß der »Roten«, keinen Verrat der Heimat. Dennoch gibt die oberste Heeresleitung, geben Hindenburg und Ludendorff, die Abgötter des deutschen Volkes, zu, dass die Armee besiegt ist. Sie erklären sich außerstande – freilich nicht öffentlich –,noch länger den Angriffen des Gegners Widerstand zu leisten. Nur ein Gedanke beschäftigt sie noch: durch einen sofortigen Waffenstillstand und Aufnahme von Friedensverhandlungen einen katastrophalen Zusammenbruch der Front und die Invasion zu verhüten.
Sie sind noch mehr besiegt als nach einer Schlacht, da sie nicht einmal mehr das Risiko dieser Schlacht auf sich nehmen und von vornherein gewiss sind, sie zu verlieren.
Und wie es nicht der Verrat der Heimat ist, der sie zur Kapitulation zwingt, so ist es auch nicht die zivile Gewalt, die sie drängt, Frieden zu schließen. Im Gegenteil; sie selbst sind es, die die zivile Gewalt drängen, den Reichskanzler Max von Baden bestürmen, ihnen den bang ersehnten Waffenstillstand zu verschaffen.
Vom 5. bis zum 21. Oktober entspinnt sich ein telegraphischer Dialog zwischen dem Präsidenten Wilson und dem Reichskanzler. Dieser Dialog bezeugt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten nicht bereit ist, das deutsche Angebot ohne Abwägen der Aktiv- und Passivposten anzunehmen und zu vermitteln. Er lässt sich auf keine Auseinandersetzung ein und stellt vorläufige Bedingungen. Nach diesem Notenwechsel besteht für Deutschland kein Zweifel mehr. Der Waffenstillstand wird nicht verhandelt. Er kann nur angenommen oder abgelehnt werden. In dieser Beziehung ist Wilson sehr geschickt verfahren, aber in anderer Hinsicht begeht er einen politischen und psychologischen Fehler.
Er teilt mit, dass die Alliierten nicht mit jener militärischen Macht einen Vertrag schließen werden, die den Weltfrieden gebrochen hat. Damit regt er die Absetzung oder Abdankung Wilhelms II. an. Aber er meint gleichzeitig Hindenburg, Ludendorff und den ganzen Generalstab. Dieser ergreift unverzüglich den Vorteil, den er daraus ziehen kann. Er zieht sich aus dem Spiel zurück und versteckt sich hinter den Zivilisten. Übrigens war er infolge der Reformen des Prinzen Max von Baden der zivilen Gewalt unterstellt worden. Er lässt es zu, dass ein sehr rühriger Reichstagsabgeordneter, der schon seit längerer Zeit die Reichspolitik dem Frieden zuzusteuern empfiehlt, Matthias Erzberger, mit dem Vorsitz der deutschen Delegation betraut wird, die die Bedingungen der Alliierten entgegennehmen soll. Hindenburg gibt ihm seinen Segen und dankt ihm später, dass er seine Aufgabe so gut erfüllt habe. Doch die Öffentlichkeit erfährt davon nichts. Und mit außergewöhnlichem Zynismus behaupten die deutschen Militärs später, mit der Kapitulation nichts zu tun gehabt zu haben. Der Schein ist für sie. Man glaubt ihnen, wenn sie aufgrund eines schamlosen Betruges erklären, sie hätten nur dem Willen der Zivilisten gehorcht. Ohne Zweifel wäre es besser gewesen, Hindenburg und Ludendorff selbst wären nach Rhetondes gegangen und hätten dort ihre Namen unter das Dokument gesetzt, um hiernach, ihres Ansehens beraubt und mit dem Brandmal der Niederlage gezeichnet, in die Heimat zurückzukehren.
Wäre es nicht auch besser gewesen, Marschall Foch hätte das Angebot des Waffenstillstandes abgelehnt, die vorbereitete Schlacht geliefert und dadurch die Möglichkeit gewonnen, in Deutschland einzudringen?
Die von ihm aufgestellten Bedingungen enthielten die Räumung Belgiens, Frankreichs, Elsaß-Lothringens, des linken Rheinufers und seiner Brückenköpfe, die Auslieferung von 5000 Geschützen, 25 000 Maschinengewehren, 3000 Granatwerfern, 5000 Lokomotiven, 150 000 Güterwagen, 1700 Flugzeugen, 5000 Lastkraftwagen, 100 U-Booten, 8 leichten Kreuzern, 6 Panzerschiffen, die Aufrechterhaltung der Blockade, den Verzicht auf die Kolonien. Nach einer durch einen vollständigen militärischen Sieg gekrönten Schlacht hätten die Bedingungen des Siegers keine anderen sein können. Man konnte also das Blut einer Schlacht sparen, da man auch so das gleiche Ergebnis erzielte. So urteilte Marschall Foch, als er in Senlis zu Clemenceau sagte: »Den Kampf noch länger weiterzuführen hieße viel aufs Spiel setzen. Wir würden vielleicht 50 000 oder 100 000 Franzosen mehr opfern, ohne die Verluste der Alliierten mitzurechnen, um recht fragwürdige Ergebnisse zu erzielen. Das müsste ich mir mein Leben lang vorwerfen. Es ist leider schon viel Blut vergossen worden. Das genügt!«
Diese Worte gereichen den menschlichen Gefühlen des Mannes zur Ehre, der sie gesprochen hat. Die Tatsache aber, dass Deutschland mit Ausnahme des Rheinlandes nicht von fremden Heeren besetzt wurde und die Hauptstadt Berlin keine alliierten Garnisonen in ihren Mauern sah, trug dazu bei, die für den nationalen Stolz so schmeichelhafte Fabel glaubhaft zu machen, wonach das deutsche Heer nicht militärisch besiegt worden und es seinen Führern gelungen sei, den Feind am Betreten des vaterländischen Bodens zu hindern. Dieselbe Missachtung der Wahrheit findet sich in der gegen die Sozialisten, die Männer der Linken und die Juden erhobenen Anklage, dem Vaterland durch Entfesseln einer revolutionären Bewegung einen Dolchstoß in den Rücken versetzt und hierdurch die militärische Kapitulation unvermeidlich gemacht zu haben. Gewiss hat es im November 1918 in Deutschland eine revolutionäre Erhebung gegeben, der noch zwei oder drei weitere von ungleichem Umfang folgten. Aber der erste dieser Aufstandsversuche brach am 30. Oktober aus. Und wir haben soeben festgestellt, dass seit dem 1. Oktober die vor der Niederlage stehende militärische Führung unaufhörlich einen Waffenstillstand forderte und entschlossen war, ihn unter jeder Bedingung anzunehmen. Sodann wurde das Signal zur Revolte nicht von den Zivilisten, auch nicht von den politischen Parteien gegeben. Vielmehr waren es Soldaten, Matrosen der Hochseeflotte auf Schillig-Reede, die auf den Linienschiffen meuterten, um ihre Offiziere zu hindern, sie zur letzten Seeschlacht gegen England zu führen, die von den Admiralen beschlossen worden war. Nicht die Zivilisten haben die Militärs verführt. Es waren vielmehr die Militärs, die die Zivilisten von ihrer Pflicht abwendig machten. Die deutsche Revolution Anfang November 1918 ist dem Entschluss der obersten Heeresleitung zur Beendigung des Krieges um jeden Preis nicht vorausgegangen, sondern gefolgt. Der Generalstab und die ihm nahestehenden Kreise haben einfach und zynisch die Verantwortlichkeit verschoben, indem sie die Reihenfolge beider Erscheinungen vertauschten und aus der zweiten den Vorläufer und die direkte Ursache der ersten machten. So wälzten sie die Last der Missbilligung, die ihre eigenen Schultern zu bedrücken drohte, auf andere ab. Die hartnäckig und schamlos verbreitete Dolchstoßlegende wird zu einer der wirksamsten Waffen, mit denen – besonders durch Hitlers Leute – die Sozialdemokraten und die deutschen Liberalen bekämpft und diskreditiert werden.
Von den Panzerschiffen der Flotte geht die Revolution auf das Land über, erobert die Häfen, Wilhelmshaven, Kiel, Hamburg, Bremen, in den ersten Novembertagen. Sie lässt Banden entstehen, in denen sich Matrosen, Etappensoldaten, Rekruten aus den Depots, Arbeiter, russische Agitatoren und niedere Elemente mischen. Diese bunt zusammengesetzten, mit Gewehren und Handgranaten bewaffneten Banden nehmen die Eisenbahnzüge im Sturm und ergießen sich in die großen deutschen Städte, Köln, Halle, Dresden. Frankfurt, München und Berlin. Überall, wohin sie den Funken tragen, flammt die Feuersbrunst auf. Überall bilden sie in Nachahmung der russischen Revolution, die lebhaft in den Gemütern gezündet hat, Arbeiter- und Soldatenräte, die sich der örtlichen Gewalt bemächtigen. In wenigen Tagen sind es Zehntausend in ganz Deutschland, von sehr verschiedener Art. Die einen kennen eine Rangordnung, achten die alte Autorität und die Befehlsgewalt und sind gemäßigt in ihren Forderungen. Die anderen sind erhitzt, heftig, Rebellen gegen die alte Disziplin und wirklich revolutionär.
In den Staaten, in denen der Aufstand seine Herrschaft durchsetzt, im Rheinland, im Ruhrgebiet, in Sachsen, Hessen und Bayern, nimmt er ohne Weiteres einen partikularistischen, in Bayern einen offen separatistischen Charakter an. Er vollzieht sich unter dem Zeichen des Misstrauens und des Grolls gegen Preußen. Er gibt seinen Willen kund, sich von der Berliner Vormundschaft zu befreien. Diese Tatsache scheint von den Alliierten nicht genügend beachtet worden zu sein, oder man hat ihr im Augenblick nicht die Bedeutung beigemessen, die sie verdiente. Aber in Deutschland hat man sich darüber keiner Täuschung hingegeben. Die Gegner der Revolution begriffen sofort, dass diese die Einheit des Reichs gefährdete, und das war einer der Gründe, weshalb sie sie schonungslos bekämpften. Diese Tatsache muss nachdrücklich hervorgehoben werden. Sie sollte die Männer erleuchten, welche die Aufgabe haben, Deutschland eine neue Verfassung zu geben. Jedenfalls liefert sie, nach unserer Meinung, die Erklärung für das, was man als einen Irrtum der Verfasser des Vertrages von Versailles ansehen kann, einen Irrtum, von dem wir wünschen, er möchte nicht mehr wiederholt werden.
Die Haltung der Revolutionäre vom November 1918 ist übrigens, wie häufig in Deutschland, widerspruchsvoll. Sie wollen sich von Berlin emanzipieren und daheim die Revolution auf ihre eigene Art machen. Gleichzeitig entsenden die Arbeiter- und Soldatenräte jedoch Delegierte in die Reichshauptstadt, um dort nach dem Rechten zu sehen, sodass Berlin trotzdem Schauplatz der entscheidenden Vorgänge bleibt.
Die Novemberrevolution war ein anarchischer und stürmischer Ausbruch. Sie ist von den grundsätzlich revolutionären politischen Parteien weder vorbereitet noch ausgelöst worden. Diese wurden im Gegenteil von ihr überrascht. Gleichwohl ist es ihnen und ihren Führern, die im Reichstag die Linke bilden, nicht möglich, abseits zu stehen. Sie schließen sich deshalb der Bewegung an und bemühen sich, ihre Leitung zu übernehmen.
Aber diese Parteien und ihre Führer sind in sich selbst gespalten. Seit 1917 hat sich die Sozialdemokratie in zwei Gruppen geteilt: die Mehrheitssozialisten und die »unabhängigen« Sozialisten; und diesen stehen auf der Linken die Spartakisten zur Seite.
Der Mehrheitssozialismus hat seit langer Zeit aufgehört, eine Revolutionspartei zu sein. Er entspricht ungefähr dem Radikalsozialismus in Frankreich. Er stimmte allen Maßnahmen der Kriegspolitik zu. Er begnügte sich damit, zusammen mit den Gewerkschaften das materielle Dasein der Arbeiter zu schützen, und ging rein politischen Auseinandersetzungen aus dem Wege. Er dachte weder an die Revolution noch an die Formen, die sie annehmen könnte. Die Sozialdemokratie erstrebt keine republikanische Staatsform. Was sie wünscht, ist die legale Umwandlung des kaiserlichen autokratischen Regimes in eine volkstümliche parlamentarische Regierung. Die Politik des Prinzen Max von Baden, eines liberalen Geistes, der, wie erwartet, Anfang Oktober 1918 zum Reichskanzler ernannt wird und seine Reformen (u.a. Verantwortlichkeit des Reichskanzlers vor der Volksvertretung, allgemeines Wahlrecht in Preußen, Unterordnung der militärischen unter die zivile Autorität) scheinen ihr ausreichende Errungenschaften zu sein. Sie ist keine Anhängerin eines überstürzten sozialistischen Aufbaus. Sie glaubt, dass diesem eine demokratische Erziehung vorausgehen müsse. Ihre Führer, Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Gustav Bauer, Otto Wels, Hermann Müller, sind friedliche Kleinbürger, ohne jede Erfahrung in der Regierung und in der großen Politik, durch nichts auf die Übernahme der Regierungsgewalt vorbereitet.
Die unabhängigen Sozialisten, Hugo Haase, Wilhelm Dittmann, Arthur Crispien, Georg Ledebour, Emil Barth, Oskar Cohn, sind genauso unerfahren und ebenso unvorbereitet auf die Verantwortlichkeit in der Regierung, aber sie haben mehr Kraft, Kühnheit und revolutionäres Temperament. Sie haben die Kriegskredite verweigert und 1916, 1917 und 1918 Streiks entfacht, die allerdings schnell erstickt wurden. Sie predigen den offenen Kampf gegen die konservativen und reaktionären Elemente, den Kaiserthron und den Generalstab. Sie fordern die Ausrufung der Republik und die Sozialisierung.
Auf ihrem linken Flügel stehen die Spartakisten, so genannt nach Spartacus, jenem Mann, der im Altertum den Sklavenaufstand gegen Rom anführte, und nach dem Titel umstürzlerischer und geheimer Flugschriften, die in Deutschland seit 1916 umliefen (Spartakusbriefe). Die von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg geführten Spartakisten bekennen sich zu Lenin und der russischen Revolution. Sie wollen sofort die Diktatur des Proletariats errichten und die Arbeiter- und Soldatenräte den Sowjets angleichen. Überdies bezeichnen sie sich bald offen als Kommunisten.
Die Kräfte dieser drei Gruppen sind ungleich. Die Mehrheitssozialisten haben die gemäßigten Elemente der Arbeiterschaft auf ihrer Seite, das heißt die Mehrheit. Die Unabhängigen sind ihnen an Zahl unterlegen, bilden aber eine wagemutigere Minderheit. Die an Zahl noch geringeren Spartakisten haben mehr Einfluss auf aufrührerische Elemente, auf die Straße, und sie zählen in ihren Reihen Emissäre aus dem bolschewistischen Russland.
So eröffnen sich vor der durch die Meuterei der Kieler Matrosen hervorgerufenen Revolution drei Wege. Welchen dieser Wege wird sie einschlagen? Die Partie beginnt und wird sieben Monate dauern, vom November 1918 bis zum Mai 1919.
Zunächst nähern sich Mehrheitssozialisten und Unabhängige einander an. Scheidemann erhebt seine Stimme. Er verlangt die Abdankung des Kaisers und des Kronprinzen. Wilhelm II. verzichtet tatsächlich auf die Kaiserwürde, nicht aber auf die preußische Krone. Doch seine Abdankung erfolgt nicht auf die Forderungen Scheidemanns hin, sondern auf die in Spa geäußerte Meinung von 50 Generalen, die General Groener, der Nachfolger Ludendorffs, zur Beratung einberufen hatte. Ludendorff selbst war zurückgetreten und geflohen. Am 9. November proklamiert Scheidemann mit begeistertem Schwung vom Balkon des Reichstags aus die Republik. Am selben Tage und fast zur selben Stunde schwingt Liebknecht auf dem Balkon des königlichen Schlosses die rote Fahne.
Mit Zustimmung der Arbeiter- und Soldatenräte verständigen sich Mehrheitssozialisten und Unabhängige über die Gründung eines Rates von sechs Volksbeauftragten, in den jede Richtung drei Vertreter entsendet. Ebert, Scheidemann und Landsberg vertreten die Mehrheitssozialisten, Haase, Dittmann und Barth die Unabhängigen. Ebert wird zum Präsidenten des Rates ernannt. Aber Prinz Max von Baden, der sein Amt niederlegt, hat ihn schon zum Reichskanzler ernannt, sodass er eine zweifache Belehnung erfährt. Er ist zugleich der Mann des abtretenden Regimes und der der aufsteigenden Revolution. Diese Eigenschaft erklärt und verkündet die bedeutende Rolle, die er fortan spielt.
Seine Persönlichkeit zeichnet sich indessen weder durch blendende Eigenschaften noch durch eine ungewöhnliche Begabung aus. Ebert ist von kleiner Statur, ein rundlicher Mann von bescheidenem Äußeren. Das Gesicht, leicht gedunsen und mit einem Spitzbärtchen geschmückt, zeigt gewöhnliche Züge. In bürgerliche Kleidung gezwängt, sieht er aus wie ein kluger Werkmeister oder ein gesetzter kleiner Unternehmer. In moralischer Hinsicht ist er besonnen, einfach, gemäßigt, weniger unruhig und hohl als Scheidemann. So verkörpert er vollkommen den Typ des Mehrheitssozialisten, einer Spielart des konservativen Sozialismus. Als Süddeutscher hat er gefällige Umgangsformen. Er wirkt sympathisch und erweckt Vertrauen. Die Arbeiter kennen und achten ihn. Übrigens entstammt er der Arbeiterklasse. Er ist Sohn eines Schneiders und hat das Sattlerhandwerk ausgeübt. Er war Sekretär seiner Gewerkschaft und widmete sich dann innerhalb und außerhalb seiner Berufsorganisation ganz der gewerkschaftlichen Tätigkeit und dem Schutz der Arbeiterinteressen. Er wurde Reichstagsabgeordneter und einer der Führer der Sozialdemokratie.
In Deutschland gehört es zum guten Ton, über ihn zu lächeln. Ist es nicht spaßhaft, dass ein Staat von solchem Rang einen Sattlermeister an seine Spitze gestellt hat? Wie hätte eine von einer so mittelmäßigen Figur geleitete Republik gedeihen können? In Wirklichkeit sind diese Urteile von schwärzestem Undank geprägt. Wir Ausländer, wir Demokraten dürfen über Ebert richten, uns vor Augen halten, dass er viel dazu beigetragen hat, die deutsche revolutionäre Bewegung zum Scheitern zu bringen, und damit Deutschland der Möglichkeit einer tiefgehenden Erneuerung beraubt hat, welche die starke Erschütterung durch die Niederlage zur Folge haben konnte. Wir dürfen ihm vorwerfen, den nationalistischen Kreisen, die das Reich dem Untergang zugeführt hatten und die Weimarer Republik torpedieren sollten, wieder in den Sattel und zur Macht geholfen zu haben. Aber eben diese nationalistischen Kreise sollten wenigstens so viel Anstand haben, ihm ein Andenken voll Nachsicht zu bewahren.
Der Mehrheitssozialist Ebert gehört zu jenen Deutschen, die jede Unordnung zutiefst abstößt, denen schon der Gedanke daran unerträglich ist. Angesichts der revolutionären Woge, die sich über alle deutschen Städte ergießt und die Einheit des Reiches bedroht, hat er nur eine Sorge: sie zu zügeln, einzudämmen, zu brechen und zu verhindern, dass sie Deutschland zerstückelt und im Gefolge der Spartakisten in die Fluten eines Bolschewismus nach russischem Muster hinabzieht. Auf wen kann er sich stützen, um sein Ziel zu erreichen? Auf seine Partei, die ihm folgt, aber keinen Kampfgeist hat, und auf die gemäßigten Elemente in den Arbeiterund Soldatenräten. Er genießt ihr Vertrauen, auch das des Zentralrats, in dem ihre Delegierten versammelt sind. Aber durch seine Richtung und seine Handlungsweise empört er die Spartakisten. Sie klagen ihn bald des Verrats an. Er erregt die Besorgnis der Unabhängigen, seiner Kollegen im Rat der Volksbeauftragten, die als überzeugte Revolutionäre mit dem alten Regime ein Ende machen und die sozialistische Republik errichten wollen. Und auf der Seite der Unabhängigen stehen die kämpferischen Elemente aus den Arbeiter- und Soldatenräten, der Vollzugsrat, den sie gebildet haben und der dem Zentralrat opponiert.
Ebert hat also keine sehr starke Stellung und wäre zum Misserfolg verurteilt, hätte er nicht von vornherein einen grundlegenden Entschluss gefasst. Er hat Beziehungen zu dem in Spa, dann in Kassel befindlichen Großen Generalstab angeknüpft. Er steht mit Hindenburg und dessen Stabschef in Verbindung, einem festen, ruhigen, energischen und positiven Mann von kaltem Realismus. General Wilhelm Groener ist Süddeutscher wie er selbst, während des gesamten Krieges Chef des Eisenbahn- und Transportwesens, ehe er Nachfolger Ludendorffs beim Feldmarschall wird. Eine direkte und geheime Telefonleitung, die Linie 998, verbindet Ebert mit dem Großen Hauptquartier. Und jeden Abend schließt sich Ebert in sein Arbeitszimmer ein und spricht mit Groener. Er teilt ihm die Tagesereignisse mit, fragt ihn um Rat, erbittet Hilfe. Groener gibt ihm Verhaltensmaßregeln, beruft sich auf die Autorität des Feldmarschalls, um sein Zögern zu überwinden, und schickt ihm seinen Vertrauensmann in der Person des Majors von Schleicher. Der besiegte Große Generalstab hat es fertiggebracht, dass man ihn für unbesiegt hält, und glaubt, er habe nichts mit dem Abschluss eines erdrückenden Waffenstillstandes zu tun. Er hat den allgemeinen Rückzug des Heeres der Westfront auf das rechte Rheinufer in vollkommener Ordnung und reibungslos durchgeführt, in einer Art, die als meisterhaft beurteilt worden ist. So hat er den Schein gewahrt.
Doch in diesem Augenblick tritt eine für ihn bedrohliche Erscheinung auf.
Als die Truppen auf dem Rückzug wieder mit der Zivilbevölkerung und den Soldaten der Rekrutendepots in Berührung kommen, in einem völlig aufgewühlten Deutschland, lösen sie sich auf. Ihre Disziplin schmilzt wie Schnee an der Sonne. Die Soldaten entziehen sich der Befehlsgewalt ihrer Vorgesetzten. Sie laufen auseinander, die einen nach Hause, andere schließen sich den Meuterern an. Damals verhaftet man die Offiziere, beschimpft sie auf der Straße und reißt ihnen die Achselstücke ab. Deutschland, das aus alter Tradition so viel Ehrfurcht vor seinem Heer hat, wird wie von einer antimilitaristischen Krise geschüttelt. Der Generalstab ist aufs tiefste bestürzt. Heftige Hass- und Rachegefühle gegen die Revolutionäre, die »Roten«, erfüllen ihn, und er schwört sich, das entfesselte Volk die Demütigung entgelten zu lassen, die es ihm zufügte. Auf keinen Fall denkt er auch nur daran, sich aufzulösen. Im Gegenteil, er setzt seine Tätigkeit im Hintergrund fort. Er hält die zuverlässigsten Einheiten zusammen. Um einige treu ergebene und unerschrockene Offiziere sammeln sich wieder Männer, die entschlossen sind, sowohl an den Ostgrenzen gegen die Übergriffe der Balten, Polen und Russen als auch im Innern gegen die Revolution zu kämpfen. Hier liegt der Ursprung der Freikorps. Das erste und bedeutendste ist das des Generals Maercker, das Freiwillige Landesjägerkorps. Nach seinem Beispiel bilden sich auf der Grundlage der Freiwilligkeit die Brigade Ehrhardt, die Freikorps von Dohna, von Hülsen, Reinhard, Roßbach, von Epp und noch zwanzig andere, bunt zusammengesetzt, von verschiedener Stärke und Bewaffnung, aber alle kampflustig und von Mut beseelt.
Der Generalstab steht also nicht allein und ist keineswegs gänzlich machtlos. Es ist keine leere Geste, wenn Ebert sich mit ihm verbündet. Dieser sonderbare Revolutionär, den die Revolution an ihre Spitze gestellt hat und der nur daran denkt, sie zu ersticken, hat sich eine wirksame Unterstützung gesichert. Seinerseits hat der Generalstab, den man aus der politischen Führung ausgeschaltet wähnen konnte, das Mittel gefunden, durch sein geheimes Einverständnis mit Ebert die Geschehnisse zu beeinflussen und weiterhin hinter den Kulissen die Drähte der Politik zu ziehen. So wird es während der ganzen Herrschaft der Republik bleiben.
Während das Militär seine Fassung sichtlich wiedergewinnt, sehen die Roten ihrerseits nicht tatenlos zu. Sie gründen Milizen, die Armbinden und Kokarden ihrer Farbe tragen, Hundertschaften, eine Sicherheitsgarde. Sie verlegen die 1300 Mann der Volksmarinedivision, die die Kieler Revolution gemacht hat und den festen Kern des Aufstandes bildet, nach Berlin. Ein Zusammenstoß scheint unvermeidlich. Die Einigung zwischen Mehrheitssozialisten und Unabhängigen war nur vorübergehend. Von Tag zu Tag steigt die Spannung zwischen ihnen und zwischen Mehrheitssozialisten und Spartakisten. Der Rat der sechs Volksbeauftragten liegt in lebhaftestem Streit. Er regiert unter den widerspruchvollsten Umständen, denn er hat die Beamten des alten Regimes auf ihren Posten belassen und begnügt sich damit, sie zu kontrollieren. Das heißt, er ist von Reaktionären umgeben, die ihn verraten und verspotten. Auf Veranlassung Groeners möchte Ebert die Bevölkerung entwaffnen, sich der Extremisten entledigen und so bald wie möglich die Wahl einer konstituierenden Nationalversammlung in ganz Deutschland vornehmen lassen. Die Unabhängigen dagegen wollen die Bevölkerung bewaffnen, die Wahlen verschieben, Hindenburg absetzen, das Offizierskorps abschaffen und Sozialisierungsmaßnahmen ergreifen.
Der Konflikt wird im Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin am 16. Dezember ausgetragen. Die Extremisten sind zunächst Sieger. Aber drei Tage später nimmt Ebert seine Rache. Ihm gelingt die Ernennung eines gemäßigten Zentralrats und die Festsetzung der Wahlen zur Nationalversammlung auf den 19. Januar 1919. Doch dies ist nur eine Phase des Kampfes. Am 23. Dezember umstellen die Matrosen die Reichskanzlei und schließen Ebert ein. Dieser alarmiert sofort das Große Hauptquartier, das inzwischen nach Kassel verlegt worden ist.
Der Generalstab hält es für an der Zeit, Schluss zu machen. Er befiehlt dem General Lequis, dem Kommandanten der Berliner Garnison, die Aufrührer zur Vernunft zu bringen, besonders die Volksmarinedivision. Das Unternehmen schlägt völlig fehl. Am 24. Dezember fällt die Masse über die Soldaten her und hätte sie totgeschlagen, wenn sich nicht Ebert ins Zeug gelegt hätte. Aber die Extremisten verlieren sich in endlosen Debatten, anstatt ihren Erfolg auszunützen und den Massen die erwarteten Parolen zu geben. Ebert schwimmt dem Strom entgegen. Er botet die drei unabhängigen Volksbeauftragten Haase, Barth und Dittmann aus; sie finden sich mit ihrer Ausschließung ab, wohl in der Meinung, es sei vorteilhafter für sie, nicht in der Regierung zu sitzen. An ihrer Stelle werden zwei Mehrheitler, Noske und Wissell, ernannt. Der Rat der Volksbeauftragten steht fortan den Unabhängigen und Spartakisten in offener Feindschaft gegenüber und erscheint immer unverhüllter als ein Werkzeug des Generalstabs.
Noske ist in der Tat der Mann der Generale und der alten Armee; er beherrscht fortan den Rat, in den er soeben eingetreten ist. Dieser ehemalige Holzarbeiter ist ein großer kräftiger Kerl mit gewaltigen Fäusten; ein starker Schnurrbart hängt unter seiner Nase, auf der eine goldene Brille sitzt. Auch er ist durch die Gewerkschaften in die Politik gekommen, ein militaristischer Sozialdemokrat, ein Feind der Revolution und der Unordnung. Er war Unteroffizier in den Schützengräben von 1914. Dort hat er eine dauerhafte Achtung vor der militärischen Autorität erworben. Außerdem ist er ein Mann der eisernen Faust, mit einer jeder Erprobung gewachsenen Energie und einem unbändigen Mut. Es fehlt ihm nicht an Brutalität. Das hat er in Kiel bewiesen, wo es ihm gelang, sich durchzusetzen und die Ordnung wiederherzustellen. Was er in Kiel getan hat, erreicht er mithilfe der Freikorps und des Generalstabs in Berlin und in ganz Deutschland, wo die Revolution zahlreiche Brandherde entfacht hat.
In der zweiten Januarwoche 1919 rechnet Noske in Berlin, wo General von Lüttwitz die Nachfolge des General Lequis angetreten hat, mit den Spartakisten ab, die zur kommunistischen Partei geworden sind. Er bedient sich der Hilfe der Jäger des Generals Maercker, der Freikorps des Oberst Reinhard, des Majors von Stephanie, des Generals von Roeder, und der Gardekavallerieschützendivision des Generals von Hoffmann. In acht Tagen sind die Spartakisten niedergeworfen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht werden verhaftet und am 15. Januar in das Eden-Hotel, das Stabsquartier der Gardekavallerieschützendivision, gebracht. Im nahen Tiergarten werden sie halbtot geschlagen und mit Pistolenschüssen erledigt. Auf dieselbe Weise werden vom 2. bis 5. Februar in Bremen, dann an der Ruhr, wo General von Watter operiert, dann in Halle, wo General Maercker den Angriff leitet, die Extremisten unterworfen.
Aber die Rohheit dieses Verfahrens und die Erinnerung an die im Januar erlittene Niederlage erwecken die revolutionäre Wut der Berliner Bevölkerung. Am 3. März rufen die Arbeiterräte den Generalstreik aus. Am 4. März setzen die Unterdrückungsmaßnahmen ein. Sie dauern bis zum 13. März. Diese Episode ist unter dem Namen der Berliner Blutwoche bekannt. Sie ist der Höhepunkt und der Zusammenbruch der zweiten deutschen Revolution.
Zwischen den roten Milizen und den Matrosen einerseits und den Freikorps andererseits werden unbarmherzige Kämpfe geführt. Die Vergeltung ist furchtbar. Man zählt im Volke 1200 Tote und über 10 000 Verwundete. Noske ist auf der ganzen Linie siegreich. Magdeburg und Braunschweig, Hochburgen der Spartakisten und Unabhängigen, wo autonome Regierungen gebildet worden sind, welche die Beziehungen zu Berlin abgebrochen haben, werden vom 6. bis zum 13. April mehr oder weniger leicht zur Unterwerfung gezwungen.
Vom 28. April bis zum 3. Mai 1919 wird auch Bayern gleichgeschaltet.
Bayern hatte sich schon am 7. November mit dem Rufe »Los von Berlin!« empört und in München eine Regierung von Mehrheitssozialisten und Unabhängigen gebildet unter dem Vorsitz eines braven, treuherzigen und schwärmerischen, kindischen und begeisterten Mannes, eines langhaarigen, bärtigen, Brille tragenden und etwas unreinlichen Intellektuellen namens Kurt Eisner. Er schrak nicht davor zurück, die Verantwortlichkeit Deutschlands für den Kriegsausbruch von 1914 auszusprechen und deutlich föderalistische Thesen zu predigen. Danach brach auch er die Beziehungen zu Berlin ab, da Ebert ihn nicht angehört hatte. Er verfiel schnell der Missachtung und wurde am 21. Februar 1919 von einem jungen Offizier, dem Grafen Arco-Valley, ermordet. Aber sein Tod wirkte wie ein Peitschenhieb auf den revolutionären Schwung. Eine Räterepublik wurde proklamiert, die sofort Beziehungen zum Ungarn des Bela Khun und zu Sowjetrussland anknüpfte. An keiner Stelle stand in Deutschland der Kommunismus so dicht vor dem Erfolg. Es kam so weit, dass drei russische Agenten, Max Levien, Eugen Léviné und Tobias Akselrod, die Führung übernahmen. Eine sozialistische Gegenregierung hatte sich unter der Führung Hoffmanns gebildet und war nach Bamberg geflohen. Bayern zerfiel in zwei sich bekämpfende Lager. Man muss sich an diese Atmosphäre und diese Umstände erinnern, weil sie zweifelsohne einen Einfluss auf die Ideenrichtung Adolf Hitlers ausgeübt haben, als er nach Kriegsende in die Münchener Kaserne zurückkehrte und dort entlassen werden sollte. Auf den Hilferuf Hoffmanns unternimmt Noske einen förmlichen Feldzug, um die Münchener Kommunisten zu liquidieren. Der Operationsplan wurde von einem Offizier des Generalstabs, dem Major von Hammerstein, entworfen, der später Chef der Reichswehr werden sollte. In zwei Tagen, vom 28. bis zum 30. April 1919, wurde er ausgeführt, nicht ohne grausame Zusammenstöße und beiderseitige Geiselmorde.
Schließlich erleidet Sachsen, wo die Revolutionsregierung, die den König Friedrich August III. verjagt hatte, auf Veranlassung eines Arbeiter- und Soldatenrats eine autonome Politik separatistischen Charakters betrieb, dasselbe Schicksal wie die Nachbarstaaten. Es ist Gegenstand einer wiederum von General Maercker geführten Strafexpedition.
Im Frühling 1919 ist mithin die revolutionäre Bewegung, die im Herbst 1918 ausgebrochen war, unterdrückt. Das Schicksal der deutschen Revolution ist besiegelt. Sie hatte die Wahl zwischen dem Kommunismus, dem unabhängigen Sozialismus und der Mehrheitssozialdemokratie. Dieser gab sie den Vorzug. Aber da die Mehrheitssozialdemokratie keine Revolutionspartei ist, vielmehr eine Evolution im Sinne eines demokratischen Liberalismus erstrebt, bedeutet dies, dass die deutsche Revolution durch eigene Hand gefallen ist.
Ihre inneren Zwistigkeiten haben sie vom ersten Tage an gelähmt. Aber auch ohne diese wäre sie gescheitert. Denn hinter ihr stand, um sie aus Überzeugung zu verteidigen, nur eine kleine Minderheit. Die ungeheure Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit lehnte sie ab. Und die damalige europäische Öffentlichkeit, erschreckt durch das Bild des Bolschewiken mit dem Messer zwischen den Zähnen, hätte sich durch einen etwaigen Erfolg beunruhigt gefühlt, hätte ihn vielleicht nicht einmal geduldet. Doch bedurfte die Sozialdemokratie zur Niederschlagung ihrer feindlichen Brüder der Unterstützung des Generalstabs, der Freikorps und der herrschenden Klassen des alten Regimes. Sie verständigte sich mit ihnen. Die Militärs, Nationalisten und Reaktionäre retteten Ebert, aber in gewiss noch höherem Maße retteten Ebert und Noske die Militärs, die Nationalisten und Reaktionäre, die herrschenden Kreise des alten Regimes. Sie halfen ihnen, sich der Volksrache zu entziehen, die sie wegen des Unglücks, in das sie das Reich gestürzt, heraufbeschworen hatten. Sie dienten ihnen als Schutzschild, ernteten aber wenig Dank dafür. Die militärischen Kreise sehen in ihnen auch weiterhin nur »Rote«, Helfershelfer der Revolution. Sie werden in die Dolchstoßlegende miteinbezogen, die ja so bequem ist, um sich selbst zu entlasten und die anderen mit Schande zu bedecken. Sie bedienen sich der Sozialdemokratie so lange, als es für sie vorteilhaft ist, mit dem Hintergedanken, sich ihrer bei passender Gelegenheit zu entledigen. Über die Niederlage und die ihr folgenden Unruhen breiten sie einen Schleier der Lüge. Deutschland besitzt nicht genügend kritischen Sinn, um diesen Schleier zu zerreißen, und findet sich umso williger mit ihm ab, als er die Wirklichkeit in schönen, der Eigenliebe zusagenden Farben glänzen lässt. Damit bereiten sie den Boden für den Nazismus vor.
Für den Augenblick ist das Ziel, das Ebert sich gesetzt hatte, erreicht. Die den Berliner Spartakisten ab Januar 1919 zuteil gewordene blutige Züchtigung hat den Himmel entwölkt und den Extremisten jede Chance genommen. Am 19. Januar, einem Datum, das Hindenburg festgesetzt hatte, finden im ganzen Reich die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung satt.
Am 6. Februar, während noch dumpf das Gewitter der Unterdrückung örtlicher Aufstände grollt, tritt die Nationalversammlung in Weimar zusammen. Es gibt wieder eine gesetzliche Ordnung. Ebert beginnt aufzuatmen.
1Conferenzia, 5. März 1947.