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Kapitel 12

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Murten, Hauptgasse, 22. November 2019, 09:10

Alva Manaresi saß in einem behaglichen Café in der Innenstadt von Murten und hoffte, in gemütlicher Kaffeehausatmosphäre leichter Zugang zu Franz Kafkas Die Verwandlung zu finden. Bisher Fehlanzeige. Sie hasste Kafka. Seine grotesken und absurden Erzählungen waren nicht ihr Ding. Überhaupt nicht.

Die jüngste Tochter von Elin und Luca Manaresi unterschied sich grundlegend von ihren älteren Schwestern Lisa und Siri. Alva hatte weder die Schönheit und Ausstrahlung ihrer Mutter Elin noch viel von der Italianità ihres Vaters Luca geerbt. Alva war ein 19-jähriges Mädchen, welches gerne seinen Tagträumen nachhing. Sie war eine Einzelgängerin, im Grunde sehr liebenswürdig, konnte Leute aber gehörig vor den Kopf stoßen, da sie oft einfach drauflos plapperte und erst dann überlegte. Sie hasste Sport, egal in welcher Ausprägung. Dennoch machte Alva einen durchaus sportlichen Eindruck, was ihre Einstellung, keinen Sport zu treiben, weiter bestärkte.

Zurzeit befand sich Alva im Abschlussjahr am Gymnasium Kirchenfeld. Und damit auch bei Kafka und seiner idiotischen Erzählung Die Verwandlung. Es ging dort um den Geschäftsreisenden Gregor Samsa. Dieser war von seiner Arbeit ausgelaugt. Eines Morgens erwachte Samsa aus seinen unruhigen Träumen und machte eine schockierende Feststellung: Geprägt von Leid und Schmerz hatte er die Gestalt eines Käfers angenommen. Die Erzählung drehte sich langfädig und surreal um das Leben dieses doofen Käfers. Zäh.

Das waren zumindest die Einschätzungen aus der Perspektive von Alva Manaresi.

Ein leises Surren ihres Smartphones holte Alva in die viel spannendere Gegenwart zurück.

»Hallo, Sophia. Du bist meine Rettung. Ich werde gerade von einem Käfer zermürbt.«

Sophia, eine Klassenkameradin von Alva, war es gewohnt, dass Alva manchmal komisches Zeug daherredete. Die Geschichte mit dem Käfer hatte sie deshalb nicht groß aufgeschreckt.

»Alva, hast du Lust, heute Abend mit mir zum Stufenbau zur Felsenau-Biernacht zu kommen?«

Der Stufenbau war ein Eventlokal am Stadtrand von Bern und Felsenau der Name einer alteingesessenen Bierbrauerei, unweit des Stufenbaus direkt an der Aare.

»Ich … ich weiß nicht«, stotterte die überrumpelte Alva. Bierfeste standen in Alvas Gunst gleich neben Kafka. Nicht ihr Ding. Sie konnte nicht verstehen, dass sich viele ihrer Freundinnen und Freunde Woche für Woche mit diesem bitteren, urinfarbenen Gesöff volllaufen ließen.

»Sei kein Frosch. Die Caribic-Night im Stufenbau vor zwei Wochen hast du geliebt.«

Da hatte Sophia recht; aber eine vergangene coole Party war noch lange kein Grund, einen freien Abend für ein ekliges Bierfest zu vergeuden. Auf der anderen Seite wollte Alva dem Enthusiasmus ihrer Freundin keinen Dämpfer versetzen. Deshalb hörte sie sich sagen:

»Okay, wann geht es los?«

»Um 20.30 Uhr, treffen wir uns direkt am Eingang beim Stufenbau.«

»Abgemacht«, beendete Alva das Gespräch. Kaum hatte sie aufgelegt, bereute sie bereits die gemachte Zusage. Die Aussicht, die kommenden Stunden in erster Linie mit Kafka und Bier zu verbringen, verursachten ihr eine leichte Übelkeit. Alva überlegte sich, ob sie die Zusage zum Bierfest wieder rückgängig machen sollte. Sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Es blieben die trüben Aussichten und die dunklen Gedanken. Novemberblues.

Alva merkte deshalb nicht, wie der Gast am Tisch neben ihr aufstand, sich kurz am rechten Ohrläppchen kratzte und zügig das Lokal verließ.

Das Schweigen der Aare

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