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Kapitel 15

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Bern, Altenberg, 23. November 2019, 07:35

Luca hatte wieder eine böse Nacht hinter sich. Seine Albträume hatten ihn über Stunden gemartert. Als er gegen Morgen endlich in einen unruhigen Schlaf verfiel, wurde er durch das leise Schluchzen von Elin geweckt. Sie kämpfte mit dem Schmerz, welcher der Tod von Siri in die Familie Manaresi gebracht hatte. Luca spürte, wie auch ihm Tränen in die müden Augen stiegen. Damit war das Thema Schlaf für eine weitere Nacht erledigt.

Als kurze Zeit später der Wecker mit schadenfrohem Gebrüll den Tag einläutete, hatte Luca das Gefühl, dass seine Arme und Beine über eine Streckbank gezogen worden waren. Besonders die Schmerzen in seiner rechten Hand waren derart stark, wie er sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Als Jugendlicher hatte Luca in seiner Heimat einen schlimmen Unfall mit der Pizzateigmaschine seines Onkels gehabt. Bei einer Mutprobe mit Freunden hatte ihm der Knethacken die Mittelhand- und Handwurzelknochen seiner rechten Hand zertrümmert. Die Chirurgen am Ospedale Maggiore in Bologna konnten zwar die Hand retten, aber als Folge erinnerten ihn regelmäßig wiederkehrende Schmerzen an seine damalige Dummheit. Seit diesem Unfall hasste Luca Pizza. Bereits der Anblick von Pizzateig konnte bei ihm einen Brechreiz auslösen.

Obwohl sich Luca elend fühlte, fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er vor ein paar Tagen in der Zeitung eine Spur, womöglich sogar die Ursache für seine qualvollen Albträume entdeckt hatte. Er musste dringend mit den Ärzten darüber sprechen. Seine italienische Lebensart hatte ihm aber bis anhin stets andere Prioritäten auf seine Tagespläne gesetzt. Heute würde er gleich nach dem Morgenessen Doktor Capol in der neurologischen Klinik am Inselspital anrufen. Er wollte wissen, ob der Experte seine Hypothese teilte.

Luca war auf der Suche nach der Telefonnummer von Doktor Capol, als ein Schrei die friedliche Stille am Altenbergrain durchschnitt.

»Luca, das Bett von Alva ist leer! Sie wollte gestern mit Sophia ans Bierfest im Stufenbau und ist noch nicht zurück«, meldete sich Elin in höchster Aufregung.

»Wahrscheinlich ist sie zu Sophia und hat bei ihr übernachtet.«

»Das hätte sie mir gesagt. Wenn Alva bei einer Kollegin übernachtet, macht sie mir immer eine Mitteilung. Zumindest hätte sie mir eine SMS geschickt.« Elin wirkte immer besorgter.

»Hast du ihr schon geschrieben?«, erkundigte sich Luca.

»Ja klar. Wenn sie tatsächlich bei Sophia ist, werden die beiden noch schlafen. Es ist erst kurz vor 8 Uhr. Auf jeden Fall hat sie sich die Nachricht noch nicht angeschaut.«

»Warten wir bis 9.30 Uhr. Wenn sich Alva bis dahin nicht gemeldet hat, kannst du sie anrufen – auch wenn du sie aus dem Schlaf holst«, schlug Luca vor.

Elin hätte Alva am liebsten gleich angerufen. Sie machte sich schreckliche Sorgen. Die Geschehnisse um Siri trugen das Ihre dazu bei. Quälend langsam krochen die Minuten vorbei. Immer langsamer. Wie Schnecken, welche von der warmen Sonne nach einem Gewitterregen überrascht wurden. Um 9.28 Uhr hielt es Elin nicht mehr aus. Sie wählte die Nummer von Alva und hoffte verzweifelt, in den nächsten Sekunden die Stimme ihrer jüngsten Tochter zu hören. Es meldete sich niemand außer dem Anrufbeantworter des Mobiltelefons. Von aufsteigender Panik getrieben, stammelte Elin eine kurze Nachricht und legte deprimiert ihr Handy zur Seite. Sie ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte. Konnte es sein, dass innerhalb weniger Tage zwei ihrer Töchter ein Unglück erlitten?

Luca hatte in der Zwischenzeit mit dem Neurologen gesprochen. Basierend auf dem kürzlich entdeckten Zeitungsbild hatte er ihm seine Vermutung, was der Auslöser seiner Albträume sein könnte, geschildert. Doktor Capol hatte ihn gefragt, weshalb Luca bis anhin nie über dieses Ereignis gesprochen hätte. Darauf hatte Luca keine klare Antwort. Er mutmaßte, dass er das Erlebte wahrscheinlich verdrängt habe. Erst das Zeitungsbild brachte die Erinnerung daran wieder zurück. Der Arzt hatte geschwiegen und im Anschluss gemeint, dass es gut wäre, baldmöglichst einen Termin für eine Besprechung in der Klink zu vereinbaren. Man einigte sich auf den 27. November, 10 Uhr.

Es war fast Mittag, als die Türklingel Elin und Luca aus ihren dunklen Gedanken riss. Sie hörten, wie kurz darauf die Wohnungstüre geöffnet wurde. In ihren Ohren klang die Hausglocke heute wie Himmelsgeläute und die anschließenden Schritte tönten wie von einem Engel.

»Hallå, Mamma, salve, Coccolone«, begrüßte Lisa ihre Eltern.

Es beschämte Elin und Luca, dass der Besuch von Lisa bei ihnen beiden im ersten Moment keine Freude, sondern Enttäuschung auslöste.

»Was ist denn euch über die Leber gelaufen? Ihr seht aus, als ob ihr Besuch vom Betreibungsbeamten erhalten habt.« Lisa wurde auf einen Schlag wieder bewusst, wie tief der Tod von Siri ihre Eltern offensichtlich getroffen hatte.

»Es tut uns leid«, entgegnete Elin. »Wir machen uns große Sorgen um Alva. Sie wollte gestern Abend ans Bierfest im Stufenbau und ist nicht wieder aufgetaucht. Nicht einmal eine Nachricht haben wir von ihr erhalten.«

Lisa wollte bereits entgegnen, dass sie sich keine Sorgen machen sollten. Die kleine Schwester würde mit Sicherheit bald wieder hier sein. Die Tatsache, dass Alva nichts von sich hatte hören lassen, beunruhigte aber auch Lisa. Ihre jüngste Schwester war zwar eine Träumerin, besaß aber ein gesundes Verantwortungsbewusstsein.

Eigentlich hatte Lisa aus einem anderen Grund ihre Eltern aufgesucht. Der morgendliche Termin beim Zahnarzt hatte Lisa völlig überraschend einen wichtigen Mosaikstein im Zusammenhang mit dem Tod von Siri geliefert. Nach der Zahnkontrolle hatte Lisa direkt einen Folgetermin für das kommende Jahr vereinbart. Als die medizinische Praxisassistentin den Termin in der Praxisagenda vermerkte, hätte Lisa beinahe laut aufgeschrien. Die ältere Dame verwendete einen Füllfederhalter. Einen Tintenschreiber.

Ein Knoten löste sich in Lisas Hirn. Der Abschiedsbrief von Siri war ebenfalls mit Tinte geschrieben. Nie zuvor hatte Lisa erlebt, dass Siri eine Füllfeder verwendet hatte. Offensichtlich wollte Siri damit ausdrücken, dass mit dem Brief etwas nicht in Ordnung war.

Alles passte immer besser zusammen. Wurde Siri gezwungen, einen Abschiedsbrief zu schreiben, um einen Suizid zu suggerieren? Für Lisa gab es nur eine Antwort: ja. Auf der einen Seite war Lisa zufrieden, dass sie ein weiteres starkes Indiz für die Mordthese gefunden hatte, auf der anderen Seite gab es nach wie vor keine Spur, welche zum Mörder führen könnte. Diese niederschmetternde Erkenntnis war keine ideale Basis, um den deprimierten Eltern eine Stütze zu sein.

Elin und Luca hofften nämlich, dass Lisa einen Vorschlag hatte, was am besten zu tun sei. Schließlich arbeitete sie bei der Kriminalpolizei. Sie wurden enttäuscht. Ausser Warten wollte Lisa nichts Gescheites einfallen. Sie versuchte, ihre Eltern in ein Gespräch über andere Themen zu verwickeln, um sie aus ihren trüben Gedanken herauszuholen. Der Erfolg war mäßig. Lisa merkte, wie sich die Diskussionen im Kreis drehten und sich die Stimmung wie eine Bohrmaschine immer weiter nach unten grub. Auch wenn es sie schmerzte, sie musste zurück auf die Wache und ihre Eltern wohl oder übel den eigenen traurigen Gedanken überlassen.

Eine gute halbe Stunde später berichtete sie Zigerli über ihre Erleuchtung in Bezug auf den Abschiedsbrief von Siri und vom Besuch bei ihren Eltern. Sie hoffte, dass Thomas eine Idee hatte, was an Stelle der quälenden Warterei gemacht werden könnte.

Ihre Hoffnung war nicht besonders groß. Die Idee von Zigerli genial.

Handyortung hieß das Zauberwort. Lisa hatte keine Ahnung, wie so etwas im Detail funktionierte. Zigerli erklärte es ihr. Es war verblüffend einfach. Es braucht dazu lediglich eine spezifische App, die auf vielen iOS Geräten vorinstalliert war. Mit der App können zum Beispiel iPhones von Freunden geortet werden. Allerdings musste die betreffende Person die Standortfreigabe aktiviert haben.

Alva hatte die Freigabe leider nicht aktiviert. Sackgasse. Beschissene Sackgasse.

Während Lisa eine Salve schwedischer Fluchworte losfeuerte, schien Zigerli der Misserfolg nicht sonderlich zu stören.

»Es gibt noch andere Möglichkeiten zur Handyortung«, meinte er. »Die sind allerdings der Polizei vorbehalten. Es braucht spezielle Bewilligungen, um solche Ortungen zur Datenbeschaffung durchführen zu dürfen.«

»Wie läuft eine solche Ortung ab?«, erkundigte sich Lisa.

»Moderne Smartphones können mit Hilfe von Satel­litennavigationssystemen wie GPS ihre eigene Position sehr präzise feststellen. Die Polizei hat aber in der Regel keinen Zugriff auf diese Daten, sondern ortet die Handys im Funknetz. Solange sich ein Mobiltelefon im Stand-by-Modus befindet, weiß ein Provider nur ungefähr, in welcher Gegend sich ein Gerät befindet. Dieser Bereich kann mehrere Quadratkilometer und viele Funkstationen umfassen. Um den Standort genauer bestimmen zu können, sendet die Polizei eine stille SMS an das Handy. Der Empfang der SMS bewirkt eine Rückmeldung des Mobiltelefons bei der Funkzelle. Der Provider sieht dadurch, in welcher Funkzelle das Telefon eingebucht ist und kann diese Information an die Polizei weitergeben.« Zigerli war sichtlich stolz, Lisa beeindrucken zu können. Es kam selten genug vor.

»Und wer kann uns eine entsprechende Bewilligung beschaffen?«, fragte Lisa.

»Trachsel …«

»Vergiss es. Trachsel weiß noch gar nichts von Alvas Verschwinden. Zum aktuellen Zeitpunkt würde er nie seine Zustimmung geben. Von Trachsel dürfen wir ohnehin keine Gefälligkeiten erwarten.«

»Obermaier könnte die Bewilligung auch erteilen. Er hat mir vor ungefähr zwei Wochen mit geschwellter Brust erzählt, wie er das Handy eines Bergsteigers, welcher im Jungfraumassiv vermisst wurde, geortet hat. Er, Obermaier, hätte ihm das Leben gerettet.«

Lisa schöpfte neue Hoffnung.

Das Schweigen der Aare

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