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Kapitel 2

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Bern, Länggassquartier, 15. November 2019, 07:20

Das Schrillen des Weckers traf Lisa in tiefstem Schlaf. Üblicherweise war der Wecker bloß Dekoration. Lisa Manaresi erwachte regelmäßig kurz vor 7.15 Uhr und stellte den verhassten Wecker aus, bevor ihr dieser mit seinem zornigen Läuten den Tag vermiesen konnte. Es war ohnehin eine unruhige Nacht gewesen. Lisa war gegen Morgen zweimal kurz hintereinander aus dem Schlaf aufgeschreckt, unmittelbar danach aber wieder eingeschlafen. Sie konnte sich weder an einen Traum und schon gar nicht an einen Albtraum erinnern. Am Vorabend hatte sie weder zu viel getrunken noch etwas Schweres gegessen. Seltsam. Lisa war für ihren Murmeltierschlaf bekannt.

Es war gegen 8.30 Uhr als sich Lisa nach einem starken Espresso auf ihr Fahrrad schwang und Richtung Innenstadt auf den Weg zur Arbeit machte. Die nächtliche Episode war bereits wieder vergessen.

Lisa war die älteste Tochter der Familie Manaresi. Sie war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Deshalb konnte sie richtig hartnäckig, manchmal auch stur sein. Daneben besaß sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und einen trockenen Humor. Lisa hatte viel vom Aussehen ihrer Mutter geerbt. Einzig die Haare waren nicht blond, sondern dunkelbraun, fast schwarz. Diese Erbschaft kam zweifellos aus Italien. Ihre große Schwäche – vermutlich auch ein Erbe ihres Vaters – war italienisches Essen. Etwa seit ihrem 20. Geburtstag machten sich die Genüsse aus Bella Italia bemerkbar. Lisa brachte ein paar Pfunde zu viel auf die Waage. Für viele ihrer Freunde machte sie dies nur umso sympathischer und attraktiver.

An der Universität Freiburg hatte Lisa Kommunikationswissenschaften und Geschichte studiert und vor einem halben Jahr mit dem Master abgeschlossen. Sie arbeitete seit etwas mehr als vier Monaten als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminalpolizei Bern. Lisa untersuchte zusammen mit einem kleinen Team von Spezialisten den Zusammenhang zwischen Betäubungsmittelmissbrauch und dem Begehen von Straftaten.

Als Lisa gegen 8.45 Uhr auf der Wache am Waisenhausplatz eintraf, spürte sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr Verdacht wurde bestätigt, als sie in ihr Büro trat. Thomas Zigerli, ihr Teamkollege, mit welchem sie auch ihr Büro teilte, wartete bereits ungeduldig auf sie.

»Lisa, Lisa, du sollst dich sofort bei Trachsel melden. Er war vor ein paar Minuten hier und zeigte sich total aufgeregt.«

»Ich muss zuerst rasch eine E-Mail schreiben. Ich werde im Anschluss zu ihm gehen.«

»Er hat aber so ausgesehen, als ob es echt dringend wäre.«

»So dringend, dass es nicht zehn Minuten warten könnte, wird es kaum sein.«

»Das musst du wissen, ich habe dich jedenfalls infor…« Weiter kam Zigerli nicht.

»Frau Manaresi, hat man Ihnen nicht ausgerichtet, sich unverzüglich bei mir zu melden?«, platzte Trachsel urplötzlich in die Unterhaltung der beiden. »Kommen Sie mit, ich habe eine ultradringende Information für Sie.«

»Okay, okay, ich komme,« maulte Lisa. Widerwillig folgte sie Trachsel in sein Chefbüro.

»Wollen Sie sich setzen? Leider habe ich eine schlimme Nachricht für Sie.«

»Nein danke, ich stehe lieber.«

»Wie Sie wollen. Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass wir heute Morgen Ihre Schwester Siri tot aufgefunden haben.« Trachsel berichtete in knappen Sätzen von der ursprünglichen Meldung des Spaziergängers, vom Leichenfund an der Aare und vom Besuch bei ihrer Mutter Elin.

»Es deutet alles auf einen Suizid hin«, meinte Trachsel. »War Ihnen bekannt, dass Ihre Schwester psychische Probleme hatte? Gab es andere Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte?«

»Was soll der Unsinn? Siri sprühte vor Lebensfreude. Sie war überall beliebt, gesund und stand mit beiden Füßen fest im Leben. Nie würde sich meine Schwester umbringen.«

»Das glaube ich Ihnen gerne, trotzdem scheint aktuell ein Suizid aufgrund des Sturzes von der Kirchenfeldbrücke die wahrscheinlichste Todesursache. Selbstverständlich werden wir auch alle anderen Möglichkeiten prüfen«, fügte Trachsel hinzu. Seine Haltung verriet Lisa, dass er den Fall schon mehr oder weniger abgeschlossen hatte. Tatsächlich gingen Trachsel genau diese Gedanken durch den Kopf.

»Es ist immer dasselbe bei diesen Suiziden. Ich bekomme stets dieselben Antworten zu hören«, entgegnete Trachsel. »Unsere Tochter, nein, nie würde sie sich das Leben nehmen. Sie ist glücklich und eine starke Persönlichkeit. Immer das Gleiche.« Zum wiederholten Mal erklärte Trachsel, was sich beim Erhalt einer schlechten Nachricht beim Empfänger abspielte. Der überhebliche, vor Selbstvertrauen strotzende Trachsel hatte keine Ahnung, dass sich dieser vermeintliche Suizid schon bald zu einem wahren Albtraum entwickeln würde.

Das Schweigen der Aare

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