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Kapitel 14

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Bern, Stufenbau, 22. November 2019, 23:30

Leider übertraf das Bierfest Alvas schlimmsten Befürchtungen. Bereits kurz vor Mitternacht hatte sie das Gefühl, von einer einzigen Horde stinkender und rülpsender Biersäufer umgeben zu sein. Alles kam ihr total primitiv vor. Niveaulos.

Auf drei Ebenen verteilt, gab es verschiedene Bars. Ungefähr in der Mitte des stufenförmigen und verwinkelten Baus befand sich eine Bühne, auf welcher abwechselnd lokale Bands ihr mehr oder weniger großartiges Schaffen zum Besten gaben. Überall konnte Bier der Marke Felsen­au bestellt werden. Wenn man wollte, auch in rauen Mengen. Im stolzen Eintrittspreis von 60 Schweizer Franken war nämlich unlimitierter Bierkonsum inbegriffen. Der Renner unter den Bieren war das Bärner Müntschi3, ein helles naturtrübes, süffiges Bier. Alva hatte knappe zwei Stunden mit der kleinen Flasche, ihrer ersten, gekämpft. Ein 20-jähriger Jungberner hatte Alva schließlich erlöst, indem er die noch halbvolle Bierflasche unabsichtlich umkippte. Zumindest glaubte dies Alva. Keine drei Minuten später tauchte der junge Herr bereits wieder auf – mit einem neuen, prall gefüllten Bärner Müntschi.

»Tut mir leid, dass ich dein Bier verschüttet habe,« lallte der offensichtlich nicht mehr nüchterne Jüngling. Man sah ihm an, dass er Alva am liebsten ein echtes Bärner Müntschi auf ihren Mund gedrückt hätte. Sein bisheriger Bierkonsum reichte allerdings noch nicht, um genügend Mut dafür aufzubringen. Deshalb stand Alva kurz darauf wieder alleine am Geländer über der Bühne. In der rechten Hand hielt sie ein frisches, kühles Bärner Müntschi und überlegte angestrengt, wie sie sich dessen am elegantesten entledigen konnte.

Sophia hingegen amüsierte sich prächtig. Sie genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Aus diesem Grund hatte sie für den Abend ein Outfit gewählt, welches ihre rundlichen Formen und ihren großen Busen perfekt zur Geltung brachte. Für sie gab es nichts Schöneres, als den ganzen Abend mit Komplimenten eingedeckt zu werden und sich Bier um Bier zu gönnen. Da konnte man auch über die eine oder andere vulgäre Bemerkung unter der Gürtellinie hinwegsehen.

Alva war inzwischen ihr Bier los geworden. Sie hatte es einfach auf einen leerstehenden Tisch gestellt. So einfach war das. Trübselig starrte sie auf die gut vier Meter unter ihr spielende Band. Spielen war im Grunde das falsche Wort. Lärmen beschrieb das Tun der vier langhaarigen Bandmitglieder weit besser. Der Schlagzeuger mit dem auffälligen tätowierten roten Totenkopf auf dem rechten Unterarm versuchte seit gut 20 Minuten, sein Schlagzeug mit seinen Trommelstöcken zu zertrümmern. Bis jetzt noch ohne Erfolg. Die Schweißperlen des Trommlers glitzerten wie kleine Edelsteine im nervösen Licht der Partybeleuchtung.

Weshalb zermartere ich mir die ganze Zeit den Kopf, wie ich am besten von hier abhauen könnte?, fragte sich Alva. Einfach raus hier!

Sie könnte Sophia später von zu Hause eine kurze SMS senden und ihr mitteilen, dass sie urplötzlich höllische Kopfschmerzen bekommen hätte.

Ein paar Minuten später war Alva die zahlreichen Stufen des Eventlokals hinuntergeeilt und unten an der Pulverstraße angekommen. Sie überlegte sich, ob sie zu Fuß nach Hause gehen oder an der angrenzenden Worblentalstraße auf einen Bus warten sollte. Der Antisportler in ihr setzte sich durch. Alva machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Kurz vor dem Ende der Pulverstraße hielt unvermittelt ein Auto neben ihr. Genauer gesagt ein grauer Ford Kuga-Allroad.

Durch das offene Autofenster hörte Alva eine Männerstimme:

»Falls Sie auch Richtung Innenstadt unterwegs sind, können Sie gerne ein Stück mit mir mitfahren.« Alva war vom unerwarteten Angebot völlig überrumpelt. Es kam von einem unsympathischen Typen. Alva schätzte den Mann auf 55 bis 60 Jahre. Natürlich werde ich nicht zu diesem ungepflegten Unbekannten ins Auto steigen, erst recht nicht mitten in der Nacht, waren ihre spontanen Gedanken. Ihre depressive Stimmung und die bleierne Müdigkeit einerseits und die ruhige, unaufdringliche Art des Fremden andererseits ließen Alva dennoch zögern. Wenn sie mitfahren würde, wäre sie in wenigen Minuten zu Hause im warmen Bett. Verlockend.

»Gerne! Wenn ich bis zum Viktoriaplatz mitfahren könnte, wäre dies super nett«, hörte sie sich antworten.

»Ich fahre dort vorbei. Steigen Sie ein.« Mit diesen Worten öffnete der Unbekannte die Tür zum Beifahrersitz. Beim Einsteigen verspürte Alva ein mulmiges Gefühl. Die Aussicht, in ein paar wenigen Minuten zu Hause zu sein, beruhigte sie jedoch wieder. Der Fremde entpuppte sich zum Glück als schweigsamer Zeitgenosse. Keine Anmache, nicht einmal ein Ansatz von Small Talk. Genau das Richtige für Alva.

Sie befanden sich auf der Tiefenaustraße und fuhren in Richtung Innenstadt, als sich Alva ihren Fahrer ein bisschen näher anschaute. Der Mann war keine Schönheit. Er hatte schütteres schlecht gepflegtes, strähniges Haar. Die harten Gesichtszüge gaben dem Fremden einen verbitterten Ausdruck. Alva fragte sich, was der Grund dafür sein könnte. Waren es Schicksalsschläge, übertriebener Ehrgeiz oder vielleicht tiefgründige Frustration? Während sie über die Psyche ihres Fahrers nachdachte, merkte sie nicht, dass sie nicht mehr Richtung Innenstadt unterwegs waren, sondern auf der Autobahn A6 in Richtung Thun. Erst die kleinen Lichter der Landebahn des Flughafens Bern-Belp sagten Alva, dass etwas nicht stimmte.

»Wo fahren Sie hin? Hätten wir nicht bei der Ausfahrt Wankdorf die Autobahn verlassen müssen, um zum Viktoriaplatz zu gelangen?«, erkundigte sich Alva.

Sie erhielt keine Antwort. Ein kurzes stummes Lächeln war alles, was sie dem Fremden als Reaktion auf ihre Frage entlocken konnte. Alva war mit einem Mal klar, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Sie spürte, wie sich Panik wie eine dunkle Gewitterwolke in ihr ausbreitete. Ihr Bauch verkrampfte sich, und in ihrem Hals wuchs ein Kloß, der immer größer wurde.

»Bitte halten Sie an und lassen Sie mich aussteigen«, bettelte Alva. Zu ihrer Überraschung verließ der Mann kurz darauf bei der Ausfahrt Kiesen die Autobahn.

Alva schöpfte Hoffnung, dass alles gut werden würde. Vielleicht hatte sie den Teufel doch zu früh an die Wand gemalt. Wenig später rumpelte das Auto über einen kleinen unbefestigten Parkplatz und hielt hinter einer Abfallmulde. Dann ging alles sehr schnell.

Alva wollte mit einem kurzen »Danke« einfach aus dem Auto stürmen. Der Fremde hatte einen anderen Plan. Das Auto war noch nicht völlig zum Stillstand gekommen, als er sich zu Alva umdrehte und sie mit seinem rechten Arm in den Sitz drückte. In der linken Hand schwenkte er ein kleines Seil. Bevor Alva reagieren konnte, war er über ihr und presste sie mit seinem Gewicht fest in den Beifahrersitz. Er hatte nun beide Hände frei. Alva konnte sich keinen Millimeter bewegen, geschweige denn zur Wehr setzen. Es war für ihn ein leichtes Spiel, Alva zu fesseln und ihr die Augen mit einem Tuch zu verbinden. Schließlich stopfte er ihr einen Stofflappen in den Mund, damit sie weiter still blieb. Alva hatte nicht einmal versucht zu schreien. Sie war wie gelähmt. Geschockt.

Kurz darauf packte sie der Fremde und warf sie sich wie einen Mehlsack über die Schulter. Ein paar Sekunden später landete sie unsanft im Kofferraum des Autos. Als er diesen verschloss, wurde das Schwarz vor ihren Augen noch schwärzer.

Kurz darauf setzte sich das Fahrzeug wieder in Bewegung. Nach ein paar Minuten wurde das Motorengeräusch regelmäßiger. Alva nahm an, dass sie sich wieder auf der Autobahn befanden.

Wohin würde er mit ihr fahren? Und was würde sie dort erwarten?, begann sich Alva zu ängstigen. Etwas in ihrem Inneren riet ihr, nicht in Mutlosigkeit zu verfallen. Sie musste jetzt kämpfen. Dabei dachte sie fast augenblicklich an ihre ältere Schwester Lisa. Lisa würde wahrscheinlich nie in eine solche Situation geraten. Und wenn doch, dann würde sie sich wehren – bis aufs Blut.

Nach ein paar Minuten hatte sich Alva soweit beruhigt, dass sie wieder halbwegs klar denken konnte. Es war wichtig, alle Informationen über ihren Peiniger zusammenzutragen.

Was wusste sie über ihn? Nichts. Fast nichts.

Sie kannte sein Gesicht und sein ungefähres Alter. Daneben besaß der Fremde zwei weitere Auffälligkeiten. Erstens: Das rechte Ohr glich einem Blumenkohl. Alva erinnerte es auch an ein bösartiges Geschwür. Zweitens: Der Fremde stank nach Alkohol. Als er sie fesselte, roch sie seinen süßlichen Atem. Sogar im Kofferraum konnte sie seine unangenehme Ausdünstung riechen. Sie betete, dass sie sich nicht in den Knebel übergeben musste.

3 »Bärner Müntschi»: Berner Kuss

Das Schweigen der Aare

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