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Kapitel IV

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Professor Doktor Schwarz, Leiter der Rechtsmedizin an der Uni Freiburg, sah mit hoffnungsvollen Augen auf die junge Ärztin, die aus dem Behandlungszimmer kam, sich kurz umsah und dann auf ihn zuschritt.

„Physisch gesehen geht es der Patientin bis auf die leichten Erfrierungen und eine mittelschwere Unterkühlung gut“, be­gann sie ohne Umschweife. „Sie weist bis auf die eindeutigen Fesselspuren an Hand- und Fußgelenken keinerlei äußere Verletzungen auf, hat guten Pupillenreflex, Greifreflex, re­agiert auf Ansprache mit Drehung des Kopfes. Sie ist gefügig bezüglich meiner Anweisungen, ich meine, sie tut, was ich ihr zeige. Aber sie spricht nicht! Es ist ein mittelschwerer Zu­stand von Lethargie. Sie reagiert nicht auf Fragen, die eine Antwort oder Geste wie Nicken oder Kopfschütteln erfor­dern. Wenn ich sie bitte, den Arm zu heben, tut sie nichts, bis ich ihr den Arm führe. Das lässt sie aber bereitwillig zu.“

Schwarz runzelte die Stirn. Diese Art, auf ein Trauma zu re­agieren, kam, neben einer in unterschiedlichen Ausprä­gun­gen auftretenden Lethargie, gelegentlich vor.

„Nicht ungewöhnlich“, sagte er. „Wir wissen zwar nicht, was ihr widerfahren ist, aber die Kollegen vor Ort vermuten, dass es etwas Schreckliches gewesen sein muss. Sie haben die Kleidung ja ebenfalls gesehen. Nichtsdestotrotz müssen wir so schnell wie möglich mit der Beweissicherung anfangen. Ich habe leider derzeit keine medizinische Mitarbeiterin. Wür­den Sie mich unterstützen?“

„Natürlich! Aber gestatten Sie mir eine Frage. Sie erinnern sich nicht an mich?“

Der Rechtsmediziner musterte die Ärztin einen Moment eindringlich.

„Ja, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor“, gab er von sich. „Sie saßen sicher während des Studiums in einem mei­ner Kurse zum Thema Rechtsmedizin?“

Die Frau lachte.

„Ja, das auch. Außerdem haben Sie mich mündlich geprüft. Vier Jahre ist das her, damals wog ich satte 20 Kilo mehr, hatte noch kurzes Haar und war blond.“

Jetzt klickte es bei Schwarz.

„Saskia Fichter!“, brach es aus ihm heraus. „ich erinnere mich! Ich gab Ihnen damals eine Eins.“

Die Ärztin wiegte den Kopf ein wenig hin und her.

„Eine Eins minus“, korrigierte sie und lächelte. „Und dass ich nicht mehr Fichter heiße, sondern Wiese, hat es Ihnen ne­ben den Haaren sicher nicht leichter gemacht.“

Der Rechtsmediziner nickte zustimmend.

„Ja, das stimmt. Brünett steht Ihnen aber gut! Nun, dann sind Sie ja geradezu prädestiniert, die Beweise abzunehmen. Eine Frage vorweg: Haben Sie das Mädchen schon gynä­ko­logisch untersucht?“

Dr. Wiese nickte.

„Ja, und zwar ohne Befund. Ich meine, keinerlei Anzeichen eines sexuellen Missbrauchs. Das Hymen ist intakt, sie ist de­finitiv noch Jungfrau.“

„Gott sei Dank!“, entfuhr es Schwarz. „Wenigstens ist ihr das erspart geblieben. Einen Moment bitte.“

Er griff nach seinem Handy, das stummgeschaltet in seiner Kitteltasche vibrierte.

„Ja, Mustafa?“, meldete er sich und lauschte dem Gegen­über.

„Haben Sie Bierman schon Bescheid gegeben?“, hakte er nach.

Das Gespräch war kurz. Als Schwarz aufgelegt hatte, sah er mit ernster Miene zu Dr. Wiese hinüber.

„Das war ein Mitarbeiter des kriminaltechnischen Labors, dem schon eine Blutprobe gebracht wurde. Er ist schnell und gut, und er hat herausgefunden, dass es sich bei dem Blut auf der Kleidung des Mädchens und auf dem Messer, das es bei sich trug, eindeutig um menschliches Blut handelt! Ich wage mir gar nicht auszumalen, was die Kleine hat ansehen müs­sen!“

„Schrecklich!“, pflichtete Dr. Wiese bei. „Wollen wir los­le­gen?“

Sie schritt voran und führte den Rechtswissenschaftler zu dem Behandlungsraum, aus dem sie kurz zuvor gekommen war. In dem einzigen Bett lag mit aufgerichtetem Oberkörper das etwa vierzehn Jahre alte Mädchen unter einer Schicht war­mer Decken, und ein Bedienmodul, das am Bett hing, zeig­­­te an, dass auch eine Heizdecke in Betrieb war. Außer ei­ner Fingermanschette, welche die Sauerstoffsättigung und den Puls auf einen Monitor übertrug, war die Patientin an keine weiteren Geräte angeschlossen. Die Schwester, die ne­ben der Jugendlichen auf der Bettkannte saß und ihr die freie Hand hielt, sah auf, als die beiden Ärzte eintraten. Auch das Mädchen hob den Kopf und wandte sich der Tür zu, ihr Blick aber war leer und ausdruckslos und sie zeigte keinerlei Mi­mik.

„Da bin ich wieder“, flötete Dr. Wiese in fröhlichem Tonfall, um die Situation gar nicht erst bedrückend oder beängs­ti­gend werden zu lassen.

„Und wie ich dir gesagt habe, habe ich dir einen netten Herrn mitgebracht, der sich deine Arme, Hände und Füße anschauen möchte. Hab keine Angst, du brauchst dich nicht aus­zuziehen!“

Ob das Mädchen die an sie gerichtete Erklärung verstand, war in keiner Weise festzustellen. Kaum waren die Worte der Ärz­tin verklungen, sah sie wieder mittig auf die Bettdecke vor sich, ohne dass eine Regung auf dem Gesicht zu erken­nen gewesen wäre. Sie zuckte nicht einmal zurück, als die Ärztin vorsichtig ihren rechten Arm von der Bettkante auf­nahm und ihrem Kollegen das Handgelenk zeigte, an dem sich blauunterlaufene Einschnürungen abzeichneten. Sogar das Muster eines sehr groben, dicken Stricks oder Seils war zu erkennen. Schwarz winkte seine Kollegin in eine Ecke des Raumes und besprach sich mit ihr in gedämpfter Lautstärke.

„Hatten die Sanis die Hände in Plastiktüten gepackt?“, frag­te Schwarz hoffnungsvoll.

Mit einem belustigten und gespielter Empörung durch­setz­ten Blick sah Wiese den Rechtsmediziner an.

„Ihnen merkt man aber auch an, dass Sie sonst nur an Lei­chen arbeiten“, gab sie zurück. „Selbstverständlich nicht, schließ­lich muss­te die junge Frau erst mal stabilisiert wer­den.“

Schwarz zuckte die Schultern.

„Machen Sie bitte trotzdem einen Abstrich rund um das Gelenk und sehen Sie sich die Schürfmale unter der Lupe an. Vielleicht lässt sich ja doch noch ein Faserstück finden. Die Fingernägel?“

Die beiden Mediziner traten wieder ans Bett und Dr. Wiese nahm die Hand des Mädchens behutsam, ja fast zärtlich, und hob die Fingerspitzen ins Licht. Es waren im­mer noch Reste von dem Blut zu erkennen, das wohl nur not­dürftig wegge­wischt worden war.

„Nichts zu sehen, ich nehme natürlich trotzdem Proben“, sagte die Ärztin und begann, das Gelenk mit einer Lupe ab­zusuchen. Schwarz sah ihr interessiert zu, wie sie im An­schluss ge­schickt ein steriles Tuch nahm, um das Hand­ge­lenk fuhr und es in eine Beweismitteltüte gleiten ließ.

„Meinen Sie nicht, bei den Mengen an Sanguis ist eine Tat­ort­zuordnung auch ohne weitere forensische Spuren eindeu­tig?“, fragte sie, während sie mit dem Fuß des Mädchens auf die gleiche Weise verfuhr. Um das Mädchen nicht zu ver­schrecken nutzte sie bewusst den medizinischen Fach­aus­druck für Blut.

„Sicher“, bestätigte Schwarz. „Aber meist gilt es, ver­schie­dene andere Dinge ebenfalls forensisch in Verbindung zu brin­­gen. DNA von Drittpersonen, die Eigentümerschaft be­ziehungsweise den Lagerort des Seils, vielleicht sogar die Einzigartigkeit eines Knotens. Deswegen machen Sie auch bitte Makroaufnahmen jeder einzelnen Druckstelle. Eine ent­sprechende Kamera habe ich dabei. Stopp!“

Wiese hielt inne.

„Hatten die Sanis einen Zugang am Fuß der Patientin ge­legt? Oder Sie hier in der Klinik?“

Die Angesprochene schüttelte den Kopf.

„Ich sehe, was Sie meinen“, kam sie Schwarz zuvor und deu­tete auf einen Punkt am Spann des Fußes, um den sich ein blau­er Fleck gebildet hatte.

„Als sie eingeliefert wurde, waren ihre Gliedmaßen noch kälteinduziert zyanotisch, da ist mir das nicht aufgefallen.“

Sie beäugte die kleine Wunde mit der Lupe.

„Ja, das wird ein Zugang gewesen sein. Mit einer sehr dün­nen Kanüle.“

„Machen Sie ein Foto!“, ordnete Schwarz an. „Wird bei dem Tox-Screening auch auf BTM getestet?“

Wiese hob den Kopf.

„Sie glauben, dass sie über diesen Zugang anästhesiert wur­de? Wäre denkbar. Und ja, auch diese Werte habe ich ange­fordert.“

„Sehr gut!“, kommentierte der Rechtmediziner und reichte seiner Kollegin die digitale Spiegelreflexkamera. Bevor diese den Apparat entgegennahm, warf sie einen prüfenden Blick auf die kleine Patientin. Das Mädchen schien von nichts, was um es herum vorging, Kenntnis zu nehmen. Selbst dass die Krankenschwester auf dem linken Bettrand fürsorglich durch seine Haare strich und ihm beruhigend zuflüsterte, lag offen­bar außerhalb seiner Wahrnehmung. Erst als der Ringblitz, der sich vorne auf dem Objektiv befand, das erste Mal das Behandlungszimmer erleuchtete, zeigte die junge Patientin eine sehr massive Reaktion: Sie schlug so plötzlich beide Arme über dem Ge­sicht zusammen und zog die Knie ruckartig bis ans Kinn, dass sie heftig mit der über sie ge­beugten Dr. Wiese zusam­menstieß. Die Kamera, hinter deren Sucher sich das Gesicht der Ärztin befand, schlug ihr hart ins Gesicht und die Ge­troffene taumelte zwei Schritte zurück, in der einen Hand die Canon, die andere Hand auf die rechte Augenbraue gepresst. Alle im Raum waren schwer er­schrocken und der erste Blick von Schwarz und der Kran­kenschwester galt der jungen Pa­tientin, die jetzt bewegungs- und tonlos im Bett saß und die Arme weiter vor dem Gesicht verschränkt hielt. Da sie keine Anzeichen einer weiteren Dekompensation hatte, legte die Schwester wieder ihre Hand auf die Stirn des Mädchens und Dr. Schwarz wandte sich seiner Kollegin zu. Dr. Wiese hatte die Kamera inzwi­schen abgelegt und fing mit der frei ge­wordenen Hand ei­nige Blutstropfen auf, die sich ihren Weg zwischen den Fingern hindurch gebahnt hatten.

„Oh, da haben Sie wohl eine Platzwunde über dem Auge“, stellte Schwarz in aller Ruhe fest. „Haben Sie was zum Nä­hen da?“

„Da drüben, zweite Schublade links.“

Auch Dr. Wiese schien die Folge des Zwischenfalls recht prag­­matisch zu sehen und machte keinerlei Anstalten, zu flu­­­chen oder zu jammern.

„Können Sie denn mit so feinem Garn noch umgehen?“, frag­­te sie lächelnd, auf das grobe Paketgarn anspielend, mit dem der Rechtsmediziner nach Abschluss einer Obduktion die Leichname wieder zuzunähen pflegte.

„Sie werden staunen!“, kokettierte er, desinfizierte sich die Hände und nahm das Nähbesteck. „Setzen Sie sich mal da auf den Hocker und legen Sie den Kopf in den Nacken. Ja ge­nau so.“

Er zog etwas sterilen Verbandsmull aus dem Spender an der Wand.

„Betäubungsmittel?“, fragte er und reichte der Verletzten den Mull, um das Blut etwas abzutupfen.

„Wie viele Stiche werden es denn?“, entgegnete sie.

Schwarz blickte auf die Wunde, die seine Kollegin geschickt mit Daumen und Zeigefinger zusammendrückte.

„So zwei bis drei, denke ich.“

„Dann legen Sie los.“

Schwarz sah noch einmal zu dem Mädchen, das sich zurück in eine liegende Position begeben hatte und abermals in Apa­thie gefallen war. Nachdem die Kranken­schwester ihm durch ein aufmunterndes Nicken versichert hatte, dass sie die Situation kontrollierte, setzte er die Nadel an.

„Ich denke“, begann er, um Dr. Wiese abzulenken, „dass un­sere Patientin, während sie traumatisiert wurde, unter an­de­rem Blitzlicht ausgesetzt wurde. Sei es ein Gewitter, ein Stro­boskop oder das Blitzlicht eines Fotoapparates gewesen. Nicht auszudenken, was abgelichtet wurde!“

Dr. Wiese war so sehr bei der Sache, dass sie den ersten Stich nicht wahrnahm.

„Ja, schrecklich! Ich werde für die nächsten Aufnahmen den Blitz abschalten und die ISO nach oben drehen. Die Fotos werden trotzdem sehr gut.“

„Das sehe ich auch so“, pflichtete Schwarz bei. „Wer weiß, was wir bei dem armen Kind mit dem Flashlight auslösen, beziehungsweise ob sie uns nicht komplett durchdreht.“

Er zog den Faden ein weiteres Mal durch. Diesmal zuckte seine Patientin leicht zusammen.

„Keine Sorge, mit drei komme ich aus“, beruhigte er sie und beeilte sich, die Arbeit zum Abschluss zu bringen.

„So, das war`s. Brauchen Sie ein Päuschen?“

„Nein, sagte Dr. Wiese bestimmt. „Lassen Sie uns weiter­machen, damit die Kleine ihre Ruhe bekommt.“

Sprach es, stand auf und nahm sich den Fotoapparat vom Sideboard.

Reinschleichen oder stürmen?“, flüsterte Sarah, als sie mit Thomas an der Tür angekommen war und sie rechts und links davon Position bezogen hatten. Sie hielt die Pistole mit beiden Händen knapp über der rechten Schulter nach oben gerichtet und wartete, was ihr Partner entscheiden wür­­de. Thomas sprach leise in das Mikrofon am Ohrhörer­kabel.

„Wie sieht die Rückseite aus? Gibt es da noch einen Ein­gang?“

Unter leichtem Rauschen kam die Antwort des Kollegen.

„Hier ist eine weitere Tür, die auf eine Art Veranda führt. In diesem Raum brennt ein sehr schwaches Licht, wie wir es schon von der anderen Seite aus gesehen haben. Ansonsten ist nichts zu erkennen. Keinerlei Regung.“

„Okay, dann sichern Sie die Rückseite, wir gehen rein. Be­hut­sam und leise, um deine Frage zu beantworten.“ Er blick­te auf die Türklinke und sah Sarah an, die daraufhin mit der linken Hand vorsichtig zu dem verrosteten Stück Eisen griff, es hinunterdrückte und die Tür langsam nach außen öffnete. Thomas ging in die Knie und wagte einen schnellen Blick in das Zimmer dahinter. Dann einen weiteren, etwas längeren, und schließlich schob er seinen Oberkörper nach vorne, um sich den schwach erleuchteten Raum genauer anzu­sehen.

„Leer!“, informierte er mit gedämpfter Stimme. „Rechter Hand sehe ich einen Ofen, in dem noch schwach ein Feuer brennt. Mittig steht ein Küchentisch mit fünf Stühlen darum. An den Wänden befinden einfache Holzschränke. Linker Hand ist eine geschlossene Tür, die zum nächsten Raum führt.“

Er richtete sich auf, behielt die erwähnte Tür über das Visier seiner Waffe im Auge und betrat den Raum. Sarah folgte ihm und hielt ihre Pistole ebenfalls in Richtung des weiteren Zu­gangs zu dem Zimmer, während sie die Eingangstür mit der Linken vorsichtig hinter sich schloss. Wie aus der Beschrei­bung ihres Kollegen herauszuhören gewesen war, handelte es sich bei dem Raum um eine Art Wohnküche, das mit alten, nicht zueinander passenden Möbeln ausgestattet war, die gespenstische, flackernde Schatten an die Wände warfen. Sie sah zu dem Ofen, in dessen nur knapp über dem Boden liegenden Heizklappe ein einzelner Scheit die Reste seines brennfähigen Materials den spärlichen Flammen opferte. Sa­rah wurde bewusst, dass wegen der tiefen Position des Feu­ers die Schatten der Stühle und des Tisches so groß und be­droh­lich über die Wände zitterten und die unheimliche Stim­mung im wahrsten Sinne des Wortes befeuerten. Tho­mas vor ihr hatte inzwischen seine Taschenlampe ein­geschaltet und leuchtete, den Lichtstrahl stark abgeschirmt, auf den Boden. Er deutete mit seiner Heckler&Koch nach unten. Dort waren zwei, drei Blutstropfen zu sehen, ein Stückchen weiter konn­te Sarah den roten Teilabdruck eines kleinen menschlichen Fußes erkennen. Das Mädchen war bei seiner Flucht durch diesen Raum gekommen und zu­vor in Blut getreten! Es gab also keinen Zweifel mehr, dass sie hier richtig waren! Ein Schauer überkam Sarah, würden sie doch möglicher­weise in wenigen Augenblicken entdecken, was dem Kind wider­fahren war oder welche Umstände dazu geführt hatten, dass es halbnackt und blutverschmiert auf der Straße aufgetaucht war.

Thomas hatte sich inzwischen der rückwärtigen Tür ge­nä­hert. Er bedeutete Sarah, auch herzukommen und erneut gin­­­­gen sie rechts und links davon in Stellung. Thomas zog sein Smartphone aus der Tasche, schaltete auf Ka­me­ra und hielt es an den Türrahmen. Sarah war klar, dass er diese Vorsichtsmaßnahme ergriff, weil sich diesmal seine Silhou­ette vor dem mäßig beleuchteten Raum deutlich ab­zeich­nen und somit ein leichteres Ziel sein würde. Dem auf­mun­ternden Nicken folgend legte sie die Hand an die Klin­ke und zog das Blatt nur einen spaltbreit auf, so dass Thomas das Handy durch die entstandene Öffnung schieben konnte. Der LED-Blitz fiel unter der Tür durch, als er den Auslöser betätigte, und sofort zog er das Telefon wieder aus dem Schlitz. Er betrachtete die Aufnahme und hielt sie nach ei­nigen Sekunden Sarah hin. Zu sehen war eine Art Wohn­zim­mer, doch Couches und Sessel waren an eine Wand ge­scho­ben, einen kniehohen Tisch hatte man ebenfalls an den Rand des Zimmers gestellt. Stattdessen befand sich in der Mitte des Raums ein schwerer, wuchtiger Tisch, der Sarah unwei­gerlich an einen Altar erinnerte. Viel mehr konnte man auf dem dunklen Bild nicht erkennen, doch es schien sicher ge­nug zu sein, den Raum zu betreten. Dieser Meinung war wohl auch Thomas, der sich aufrichtete, die Tür öffnete und innen neben dem Rahmen nach einem Licht­­schalter tastete. Der Art, wie er nach wenigen Sekunden den Arm verdrehte, und das mit dem Aufflackern des Lichts ertönende Klacken zeigten Sarah, dass er fündig geworden war und es sich bei dem elektrischen Bauteil um ein solches handeln musste, wie sie es aus dem Keller ihres Elternhauses kannte: einen Dreh­schalter, der mit erheblichem mechani­schen Wider­stand zu betätigen war und laut in der nächsten Position einrastete. Das Licht indes, das jetzt durch die ge­öff­nete Tür fiel, ver­diente diesen Namen kaum. Funzelig er­hell­te es die Szenerie, und als Sarah hinter Thomas in den Raum trat, war es immer noch nicht leicht, die Details des Horror­kabinetts zu erken­nen, in dem sie sich befanden. Zu­erst blie­ben die Blicke an dem altarähnlichen Tisch haften, in dessen vier Ecken me­tallene Ösen schweren Ketten als Anker dien­ten. An deren Enden befanden sich gürtelähnliche Schnal­len aus Leder, deren Zweck eindeutig die Fixierung von Hand- und Fuß­gelenken sein musste. Die Schlaufen sa­hen neu aus und der Gedanke, dass sie noch nicht allzu oft in Gebrauch ge­wesen sein konnten, dämpften die schreck­lichen Vorstel­lun­gen, die Sarah mit dem Anblick verband. Doch die zen­trale Opfer­stelle, denn danach sah die massive Platte aus, war bei Weitem nicht das einzige schreckener­regende Acces­soire. An den Wänden hingen Jagdtrophäen, bei denen der Prä­parator sich augenscheinlich viel Mühe gegeben hatte, einen aggressiven, bösen Gesichtsausdruck zu konser­vieren. So säumten Dachse mit gefletschten Zähnen, Füchse mit hoch­gezogenen Lefzen, Marder mit kampfbereiten Kie­fern und Wildschweine mit entblößten Hauern die Wän­de. Selbst die schwarze Krähe, die auf einem Rundholz saß, stellte einen eigentümlich mensch­lichen, hasserfüllten Ge­sichts­aus­druck zur Schau. Lediglich ein Chamäleon, das als Exot defi­nitiv nicht in die Sammlung der sonst heimischen Fauna pass­te, sah recht friedlich aus. Auf einem Highboard neben der Tür dienten mehrere Totenschädel als Kerzen­halter, ein weißes Huhn war dazwischen an die Wand gena­gelt und der Bauch­raum geöffnet worden, so dass die In­nereien in eine aus Silber anmutende Schale hingen. Der Ge­ruch des Ensem­bles bestätigte dessen Echtheit, während den Totenschädeln an­zu­sehen war, dass sie eher in China herge­stellt denn einem Grab entnommen worden waren. Als sich Sarah der Wand zuwandte, durch deren offenstehende Tür sie den Raum be­treten hatten, sah sie ein gigantisches Pen­tagramm, in dem keltische Runen in verschiedenen Far­ben wohl Schreckliches offenbarten. In dem Bild eines ge­hörn­ten Ziegenkopfes er­kannte Sarah die Darstellung von Baphomet, dem Götzen­bild, dem den Templerprozessen zu­folge die Ritter des Or­dens angeblich huldigten. Auf einem Eckregal ragte eine Hüh­nerpfote aus einem Messingtiegel und die Spritzer von geronnenem Blut, die auf einer kruden Zeich­nung eines Ge­sichtes zu sehen waren, ließen keinen Zweifel an dem Inhalt des Gefäßes.

„Meine Güte!“, entfuhr es Sarah und ihre Blicke trafen sich mit denen Thomas`, der die widerlichen Artefakte ebenfalls eindringlich musterte.

„Haben wir es möglicherweise mit einer Sekte zu tun? Oder mit schwar­zer Magie?“, fragte sie ihren Partner, der mit den Schultern zuckte, aber nicht auf ihre Frage einging. Also sah sie sich weiter um. Erst jetzt wurde ihr gewahr, dass der schwere Hochlehner, der sich dem riesigen Highboard ge­gen­über an der Wand befand, auf einem Sockel stand, und ihn wie einen Thron erscheinen ließ. Hätte man alles, was sich in diesem Raum befand, in einer großen Halle mit Ge­schick ange­ord­net, hätte das Ergebnis, so gruselig es auch sein mochte, et­was Erhabenes ausgestrahlt. So wie der Saal des Eisernen Throns aus der Fantasy Serie, die sie so gerne an­­sah. Hier aber, auf engem Raum zusammengepfercht, er­weck­­­­ten die Gegen­stände den Eindruck eines Provi­so­ri­ums, bei dem ein Not­behelf die Erfordernisse eines Be­ses­senen befriedigen muss­te. Als sie sich umdrehte, ent­deckte sie auf dem High­board neben einem Blatt Taro-Karten eine nicht hierher passen zu wollende Fernbedienung für ein TV-Gerät oder ei­nen DVD-Player. Obschon sie das dazu­ge­hörige Gerät hinter den Türen des Highboards vermutete und auch die Sicht­­achse zwischen dem Thron und dem Mö­bel erkannte, wider­stand sie der Versuchung, sie zu öffnen und wandte ihre Auf­merk­samkeit wieder ihrem Partner zu. Thomas wies mit seinem Kopf auf die rückwär­tige Seite des Raumes.

Sarah nickte und bewegte sich umsichtig in Richtung der Tür, die zum hinteren Teil der Hütte führen musste. Doch be­vor sie diese erreichte, stockte ihr der Atem! Hinter dem massiven Highboard ragten zwei Beine reglos in den Raum. Der Größe der Schuhe und der Dicke der Unterschenkel nach gehörten sie zu einem Mann, der hinter dem Möbelstück an dessen Seitenwand lehnen musste!

„Thomas!“, flüsterte sie scharf und näherte sich dem Bein­paar mit vorgehaltener Waffe. Ihr Partner kam hinzu, sah so­fort, was Sarahs Aufmerksamkeit erregt hatte, und nahm sei­ne Dienstpistole ebenfalls in Anschlag.

„Vorsicht!“, raunte er halblaut und umrundete Sarah, um ihr Deckung geben zu können. Die Polizistin schob sich lang­sam weiter vor, bis sie den Rest des Mannes sehen konnte, der tatsächlich mit aufgerichtetem Oberkörper halb an der Wand, halb an dem Highboard lehnte. Er saß in einer Lache aus dunklem Blut, seine rechte Hand lag offen im Schoß, sei­ne linke neben dem Oberschenkel auf dem Boden. Beide Hän­de waren blutig und Sarah schlussfolgerte, dass der Un­bekannte sie auf die große Bauchwunde gepresst hatte, die sich unter dem komplett durchtränkten Hemd befinden mus­s­te. Jetzt erkannte Sarah auch Schnitte in den Unter­ar­men. Hals und Gesicht wiesen ebenfalls grässliche, klaf­fende Wunden auf. Der Täter musste mit großer Wut auf sein Op­fer eingestochen haben oder aber, sofort kam Sarah das Mäd­chen wieder in den Sinn, mit panischer Angst ver­sucht ha­ben, sich zu retten. Ohne in die Blutlache zu treten wagte sie sich anzunähern, ging in die Knie und versuchte, an den ge­schlos­senen Augenlidern des Mannes eine Bewegung zu er­kennen, doch es war nicht einmal das geringste Zit­tern zu sehen. Etwas mutiger rutschte sie näher und streckte die linke Hand aus, um möglicherweise einen Puls zu ertasten. Sie be­mühte sich, nicht in das Blut zu fassen, das auch am Hals hin­unterlief, legte die Finger auf die Carotis und hoffte, noch ein Lebens­zeichen feststellen zu können.

Mit einem Mal richtete sich der Körper unter lautem Schrei­en auf! Die blutverschmierte Hand griff nach Sarahs Schulter und das groteske Gesicht näherte sich ihr mit weit aufge­rissenen Augen. Sarah versuchte panisch zu­rückzu­wei­chen, doch der Mann hielt sie mit eisernem Griff! Der laute Schrei ging in ein Gurgeln über. Sekun­denbruchteile darauf schoss ein Schwall Blut aus dem Mund und ergoss sich über Sarahs Jacke und Jeans. Dann würgte und hustete der tödlich Ver­wun­dete und Sarah konnte die Spritzer des warmen Blutes in ihrem Gesicht spüren! Endlich gelang es ihr, sich von dem Mann wegzustoßen. Sie landete unsanft auf dem Boden und war erst jetzt in der Lage, zitternd die Pistole zu heben. Doch trotz des Schreckens und des Ekels realisierte sie, dass keine Gefahr mehr von dem Verletzten ausging. Spasmisch schüt­telte sich sein Körper, ein letztes Röcheln kam über seine Lippen, blutiger Schaum quoll aus dem Mund. Lang­sam kippte er zur Seite. Sarah war sofort klar, dass er in eben diesem Moment den letzten Rest Lebens aus­gehaucht hatte, und sie ließ die Waffe sinken. Sie sah zu Tho­mas, der seine H&K aus dem Anschlag nahm und be­griff, dass er zwar hätte schießen können, aber rechtzeitig er­kannt hatte, dass es sich bei dem vermeintlichen Angriff le­dig­lich um die Reflexe eines unbewaffneten Totgeweihten ge­handelt haben musste. Mit zitternden Händen legte sie die Pistole neben sich, öff­nete die Seitentasche ihrer Winterjacke und brachte eine Packung Papiertaschentücher zum Vor­schein. Diese aufzu­reißen vermochte sie nicht zu bewerk­stelligen, doch Thomas, der seine Pistole weggesteckt hatte, ging neben ihr in die Knie, öffnete die Cellophanhülle, ent­nahm eines der Tücher und wischte Sarah vorsichtig durch das Gesicht. Erst um den Mund, dann um die Augen und schließlich über Nase, Wangen und Stirn. Perplex über das unerwartete Verhalten und dankbar für die Hilfe ihres Part­ners, ließ sie die fast zärtlich anmutende Prozedur über sich ergehen.

„Bist du okay?“, fragte er und fixierte sie eindringlich.

„Ja“, antwortete sie knapp und hauchte noch ein Danke hin­terher.

„Gut! Wir sind nämlich noch nicht fertig!“

Er wandte sich dem unbekannten Mann zu, tastete jetzt sei­ner­seits nach der Halsschlagader und verharrte mit ge­schlos­senen Augen. Kurz darauf sah er zu Sarah und bestätigte mit einem Kopfschütteln, dass das Opfer nunmehr wirklich tot war.

„Reanimieren?“, flüsterte Sarah, doch Thomas` Kopfschüt­teln wurde eindringlicher.

„Sieh dir den Blutverlust an. Und die Anzahl der Stichwun­den. Die Lunge ist sicher etliche Male perforiert. Da ist nichts mehr zu machen. Ein Wunder eigentlich, dass er es bis so lange geschafft hat.“

Er stand auf, reichte ihr die Hand und zog sie mühelos in die Senkrechte. Dann griff er erneut zu seiner Waffe, wartete, bis Sarah die ihre aufgehoben hatte, und wandte sich der Tür zu. Doch bevor sie in den hinteren Teil vordringen konnten, meldete sich der Hundeführer in den Ohrhörern.

„Was war da los? Was war das für ein Schrei?“

„Alles in Ordnung“, beruhigte Sarah in gedämpftem Tonfall den draußen wartenden Kollegen. „Wir hatten einen Vor­fall der minder schweren Art.“

Sie sah ein Schmunzeln über Thomas` Gesicht huschen und konzentrierte sich wieder auf die Tür vor sich. Unter dem Türblatt drang ein schwacher Lichtschein durch und Sarah erinnerte sich, dass sie von außen gesehen hatten, dass der Raum ein wenig beleuchtet war.

„Eigentlich können wir reingehen, oder? Nach dem Lärm wä­re selbst Beethoven in seinen späten Jahren auf uns auf­mer­ksam geworden, meinst du nicht?“, meinte Sarah tro­cken, doch trotzdem betraten sie den nächsten Raum unter größter Vorsicht.

Die Kammer, in der eine kleine, abgedunkelte Nacht­tisch­lampe für etwas spärliches Licht sorgte, hatte ganz offen­sichtlich als Zelle gedient. An einem metallenen Bett­gestell, das in der hin­teren linken Ecke an der Wand stand, hingen dicke, fa­seri­ge Seile, mit denen, so ließ der Anblick vermu­ten, das rot­haarige Mädchen festgebunden worden war. Da sich au­ßer dem Bett lediglich eine Kommode in dem Raum befand, und sich somit keinerlei Versteckmöglichkeit für einen Hin­terhalt bot, tastete Thomas nach einem Licht­schalter und schaltete, nachdem eine nackte Neonröhre fla­ckernd an­sprang, seine Taschenlampe. Auch Sarahs Mag­lite er­losch, bevor sie sie in die Seitentasche ihres Parkas gleiten ließ. Wortlos sahen sich die beiden um. Sarah nä­herte sich der wuchtigen, schwarzen Kommode, in deren Schat­ten sie einen Plastikabfalleimer entdeckte. Bis auf einige Papier­fetzen und einer Ansamm­lung kleiner Fläschchen war dieser leer, doch ein Blick auf die Kommode bestätigte ihr, dass es sich bei dem Inhalt der braunen Ampullen um eine medi­zinische Flüssigkeit ge­handelt ha­ben musste: Sie erkannte eine In­jektionsspritze und ein we­nig Verbands­mull sowie eine Rolle Leukoplast.

„Er muss dem Mädchen etwas gespritzt haben“, infor­mierte Sarah ihren Partner. „Das sind die Utensilien dazu.“

„Und zwar immer wieder“, ergänzte Thomas, der an das Bett herangetreten war. „Dort liegt ein Venenzugang mit ei­nem Stück Schlauch. Ich vermute, sie wurde auf diese Weise ruhiggestellt.“

Noch bevor Sarah den Fund auf der zerwühlten Bettdecke in Augenschein nehmen konnte, ertönte abermals die Stim­me des ungeduldigen Hundeführers aus den Funk­geräten.

„Ist da drin alles okay? Brauchen Sie meine Hilfe?“

„Alles in Ordnung, wir brauchen Sie nicht“, ant­wortete dies­mal Thomas dem Kollegen.

„Wir kommen gleich raus und überlassen das Feld der Spurensicherung. Finden Sie bitte heraus, wie die mit ei­nem Fahrzeug hierherkommen. Ich habe ein wenig die Ori­en­tierung verloren, aber vielleicht ist ja irgendein Kaff in der Nähe. Der Weg, den wir genommen haben, ist mit dem gan­zen Equipment zu weit und zu beschwerlich.“

„In diesem Fall würde ich trotzdem gerne zu Ihnen rein­kom­­men“, tönte es zögerlich von draußen. „Da drinnen ist es be­stimmt etwas wärmer, oder?“

Sarah und Thomas tauschten kurze Blicke, wobei es Sarahs Miene war, aus der etwas Bittendes zu lesen war, während Tho­mas ein skeptisches Stirnrunzeln offenbarte. Trotzdem lenkte er ein.

„In Ordnung, kommen Sie durch den Vordereingang rein und bleiben Sie in dem ersten Zimmer. Legen Sie den Hund in der Nähe des Herdes ins Platz und sehen Sie zu, dass we­der er noch Sie etwas kontaminieren.“

Ein erleichtertes Danke drang zu den beiden in den Raum und die knirschenden Schritte des Kollegen entfernten sich. Sarah und Thomas sahen sich weiter um.

Just in dem Moment als Dr. Wiese der digitalen Spie­gelreflex die Spei­cher­karte entnahm und die Kamera zur Seite legte, klopfte es an der Tür des Behandlungsraums und herein trat eine leicht untersetzte Mitdreißigerin. Ein dun­kelblonder Locken­schopf umrahmte ein freundliches, of­fenes Gesicht, aus dem neu­gierig warme, braune Augen her­ausstrahlten. Dem sym­pathischen Erscheinungsbild ent­sprach auch die ange­neh­me, fast beruhigende Stimme, mit der sich die Dame vor­stellte.

„Ich bin Melanie Escher, Psychologin vom Jugend- und So­zial­amt Freiburg. Hier wartet eine kleine Patientin auf mich?“

Sie streckte ihre Hand aus, die sowohl von Dr. Wiese als auch von Professor Schwarz unter Nennung ihres jeweiligen Namens ergriffen wurde. Beiden fiel das am Hals hervor­lu­gende Etikett auf, das verriet, dass sich die Psychologin zu die­ser nachtschaffenden Stunde in aller Eile angezogen hatte und daher den Merinopullover falschherum trug. Die Dame vom Jugendamt bemerkte die Blicke der Ärzte, so scheu und kurz sie auch gewesen sein mochten. Sie lächelte breit.

„Meine Socken passen sicher genauso nicht zueinander und von dem Rest wollen wir gar nicht erst sprechen“, sagte sie mit einem schelmischen Grinsen. „Wo ist denn nun die Kleine?“

„Gleich hier drüben.“

Wiese geleitete Escher in das Nebenzimmer, wo immer noch die Krankenschwester neben dem unbekannten Mädchen saß und ihre Hand auf deren Unterarm liegen hatte.

„Sie kommen gerade rechtzeitig“, informierte Wiese. „Wir sind mit unserer Arbeit fertig und werden die Patientin auf Station verlegen, da ist es sicher gut, wenn Sie auf dem Weg dorthin schon dabei sind.“

Die Psychologin nickte, war mit ihrer Aufmerksamkeit je­doch schon voll bei dem Mädchen, das apathisch mit ge­stütz­­tem Oberkörper in dem Bett lag. Escher blieb zunächst am un­teren Ende des Bettes stehen.

„Hallo“, sagte sie mit fast seidiger Stimme und legte ihre Hand sacht auf den Knöchel des Mädchens. „Ich bin Mela­nie. Ich werde zunächst einmal bei dir bleiben und wenn du schläfst auf dich aufpassen. Ist dir kalt? Soll ich dich ein we­nig zudecken?“

Sie trat an das Bett heran, und erst jetzt drehte sich das Gesicht etwas und das Paar grüne Augen blickten zu Mela­nie Escher. Es sollte bei dem seelenlosen Blick bleiben, das Kind zeigte keine weitere Reaktion. Die Psychologin legte die Hand vor­sichtig auf dessen Schulter und sowohl Dr. Wiese als auch Schwarz wussten, dass sie über die Körper­lichkeit eine Ver­bin­dung zu dem Mädchen aufzubauen ver­suchte, ohne ihm zu nahe zu treten oder, schlimmer, etwas zu triggern, das mit dem Erlebten zusammenhing. Da keine erkennbare zu­rück­schreckende oder abweisende Reaktion erfolgte, beließ Escher die Hand auf der Schulter, als sie mit der anderen in ihrer volu­minösen Tasche kramte und nach einigem Suchen ein Kin­der­buch zum Vorschein brachte. Der kleine Klabautermann war auf dem Cover zu lesen.

„Magst du Geschichten mit Piraten und Schatzkarten?“, er­kundigte sie sich, doch abermals verweigerte das Mädchen eine Reaktion.

„Können wir auf die Station? Dort ist es kindgerechter und nicht so steril wie hier“, beendete sie den Versuch, jetzt schon zu der Patientin vorzudringen.

Wiese nickte.

„Kinderstation, Zimmer 314“, antwortete sie. „Medizinisch ist es nicht notwendig. Soll ich der Patientin trotzdem etwas ge­ben, damit sie schläft?“

Escher schüttelte den Kopf.

„Nein. Später, wenn wir feststellen, dass sie traumabedingt nicht schlafen kann, dann vielleicht. Aber nicht im Moment. Vielleicht kann ich ja schon etwas in Erfahrung bringen.“

„Wenn dies der Fall sein sollte, dokumentieren Sie bit­te alles haarklein“, schaltete sich Schwarz ein. „Ich kenne die Kolle­gen, die diesen Fall bearbeiten sehr gut und sie legen viel Wert darauf, jede scheinbar noch so unbe­deutende Infor­ma­tion zu erhalten.“

„Das werde ich“, versprach die Psychologin.

„Morgen im Laufe des Vormittags werden sie sicher per­sön­lich herkommen, um die Patientin, soweit es die Umstän­de zulassen, zu befragen.“

„Aber nur, wenn ich dabei bin, und in dem Maße, wie ich das erlaube!“

Zum ersten Mal lag etwas Schärfe in der Stimme Eschers, doch Schwarz beruhigte die Psychologin.

„Sie denken zu sehr in Klischees“, sagte er. „Die Kollegen wer­den sogar auf Ihre Anwesenheit bestehen und selbstver­ständlich einfühl­sam agieren.“

Escher quittierte das Statement mit einem Nicken.

„Also zumindest Frau Hansen“, fügte Schwarz noch mit einem Au­genzwinkern hinzu.

Höllenteufel

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