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Kapitel V

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In dem Holzhaus im tief verschneiten Wald herrschte emsiger Umtrieb. Nachdem der Hundeführer ihre Po­sition mitgeteilt und man einen einigermaßen gut zugäng­lichen Punkt in der Nähe der Hütte ausfindig gemacht hatte, muss­ten die drei Polizisten geschlagene anderthalb Stunden war­ten, bis die Spurensicherung bei ihnen eingetroffen war. Da auch Sarah und Thomas dem Tatort keine weiteren eige­nen Spuren hinzufügen wollten, hatten sie sich zu dem Kol­legen und dessen Hund in den wärmsten Raum gesellt und sich über dies und jenes unterhalten. Über das Einkochen von Himbeermarmelade über Einsteins allge­meine Relativi­täts­theorie bis hin zu der Tatsache, wie einfach es für Ter­roristen sei, Senfgas aus ver­schiedenen All­zweck­rei­ni­gern selbst her­zu­stellen.

Doch jetzt erhellten die Blitze zweier Kameras die Räume, mit denen die Techniker jedes Objekt, jedes Möbelstück und jede Spur dokumentierten, bevor sie Beweismaterial beweg­ten, eintüteten oder gar Einrichtungsgegenstände verrück­ten, um gegebenenfalls Corpora Delicti freizulegen. Auch Lu­minol und Schwarzlicht kamen zum Einsatz, ganz zu schweigen von Unmengen von unterschiedlichen Fin­gerab­druckpulvern, mit dem die Techniker Klinken, Flächen und Artefakte bepinselten. Aufmerksam verfolgten Sarah und Tho­­mas die Arbeiten, während der Kollege der Hunde­staffel begann, sich zu verabschieden.

„Sicher“, murmelte Thomas fahrig, doch Sarah bedank­te sich und wünschte ihm und Connor einen guten Heimweg und eine erholsame Rest-Nacht.

„Friedhelm, seid ihr mit dem Schrank dort fertig? Auch in­nen?“, fragte ihr Partner einen regelrechten Hünen in wei­ßem Over­all und deutete auf das Highboard.

„Mhmmm“, nickte der Gefragte und wandte sich wieder dem Altar zu, an dem er mit Wattestäbchen versuchte, mög­liche DNA-Spuren zu sichern.

„Dann schauen wir mal“, ermunterte Thomas Sarah und öff­nete die Tür, die dem seltsamen Thron gegenüber­lag. Er­wartungs­gemäß befand sich dahinter ein Fernseher, ein äl­teres Flachbildgerät, auf dessen Bedientasten sich fluor­es­zie­rendes Fingerabdruckpulver befand. Darunter konnten er und seine Partnerin sowohl einen DVD-Player als auch einen VHS-Re­corder erkennen. Thomas schaltete Fernseher und Player ein. Sogleich switchte das TV-Gerät auf den Player als Bild­quelle.

Auf dem Bildschirm waren zunächst nur Dunkelheit und das leicht flackernde Licht einer Kerze zu erkennen. Nach ei­nigen Sekunden trat aus dem schwarzen Hintergrund eine Ge­stalt in den Kerzenschein. Sie trug eine Art Kutte und die Maske, die Sarah und ihr Partner zuvor schon auf dem Side­board hatten liegen sehen. Vor sich hielt die Person mit bei­den Händen den selt­samen Dolch, den das rothaarige Mäd­chen bei sich ge­habt hatte. Je näher die Gestalt dem Aufnah­megerät kam, desto deutlicher konnte man gemurmelte Wor­­te vernehmen, die Sarah als ein Sammelsurium aus La­tein, Altgriechisch und einer ihr unbekannten Sprache iden­tifizierte. Fast musste Sa­rah lachen, denn das Intro zu dem Video erinnerte sie stark an Horrorfilme aus den sechziger Jahren.

„Fehlt nur noch Orgelmusik und die Ankündigung von Vin­cent Price“, flüsterte sie mit einem Seitenblick auf ihren Part­ner, der sofort lächelte. Er nahm die Fernbe­die­nung und schal­tete das Video ab.

„Ich möchte mir nicht vorstellen, was da noch so alles zu sehen ist. Vor allem aber will ich es nicht hier an diesem gro­tesken Ort ansehen. Das machen wir morgen im Präsidium.“ Er blickte an einen Teil der Wand, wo in einer Höhe von etwa einem Meter achtzig massive Ringe in der Wand verankert waren. An diesen waren verschließbare Metallschnallen an­ge­bracht. Er trat einen Schritt zurück, machte Sarah darauf aufmerk­sam und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das erinnert mich an ein Verlies, wo Menschen einer Kreu­zigung gleich an einer Wand fixiert werden“, brachte Sarah hervor und schüttelte sich. „Wie grausam ist das denn?“

„Wenn er das Mädchen da hineingehängt hätte, wäre sie mit der Zeit erstickt. Die Fesseln waren also, wenn überhaupt, nur kurz­zeitig in Gebrauch.“

„Die Vorstellung ist trotzdem quälend! Egal wie lange oder wie kurz jemand so etwas ausgesetzt wird.“

Thomas nickte bestätigend und sprach einen Mitar­beiter der Spurensicherung an, der eine digitale Spiegelre­flexkamera mit einem aufgesetzten System­blitz in eine Be­weistüte pa­cken wollte.

„Warten Sie bitte kurz! Darf ich die mal haben?“

Der Kollege übergab ihm die Kamera. Thomas orientierte sich kurz, schaltete sie nach wenigen Momenten an und drück­te den Knopf für die Bildwiedergabe. Schon das erste Bild war erschreckend. Erschreck­end grausam. Erschre­ckend ästhetisch. Tatsächlich war das rothaarige Mädchen zu sehen, wie es in dem weißen Gewand vor der weißen Wand in den Fesseln hing. Aller­dings war auf dem Boden ein Holzschemel zu erkennen, auf dem sie sich gerade eben noch mit den Zehenspitzen abstützen konnte. Die High Key Aufnahme, auf der sich lediglich die blasse Haut, einige Fal­ten in dem Gewand und das fast feuerrote Haar sowie die grünen Augen des Mäd­chens von dem gleißenden Weiß ab­hoben, strahlte eine Magie aus, der man sich als Betrachter schier nicht entziehen konnte! Der Mann hinter der Kamera hatte gewusst, was er tat! Thomas klickte sich durch eine gan­ze Serie ähnlicher Bilder, dann schaltete er die Kamera aus und übergab sie zurück an den Kollegen der Spu­ren­sicherung.

„Komm“, sagte er an Sarah gewandt. „Wir schauen zu, dass wir noch ein paar Stunden Schlaf bekommen. Das wird morgen ein langer Sonntag.“

Guten Morgen allerseits“, begrüßte Thomas Bierman die An­wesenden Karen Polozek, Nico Berner und Hans Pfef­ferle, als er mit Sarah im Schlepptau den kleinen Kon­ferenz­raum betrat.

„Da wären wir fünf mal wieder beisammen. Gröber scheint unsere Arbeit zu gefallen“, setzte er hinzu, legte einen recht dünnen Aktenordner auf den Tisch und ließ sich am Kopf­ende nieder. Sarah ließ ebenfalls ein Guten Morgen verlauten und suchte sich den Platz neben ihrer Kollegin, die freudig lä­chelnd bereits den Stuhl vom Tisch weggerückt hatte.

„Er kommt später vielleicht dazu. Hätten wir Sommer, wäre er wohl auf dem Golfplatz. Aber ich habe keine Idee, was er bei diesen Wetterbedingungen am Sonntagmorgen so macht. Skifahren wird er ja wohl kaum“, kündigte Thomas den even­tuellen Besuch des nicht übermäßig beliebten Ressort­leiters an. „Zum derzei­ti­gen Stand wird er schlimm­stenfalls einen Schwall heiße Luft verbreiten, also können wir sicher einige Zeit konzentriert und ungestört arbeiten.“

Auf allen Gesichtern zeichnete sich ein süffisantes Lächeln ab, wussten alle um das zwanghafte Geltungsbedürfnis und die bisweilen unkontrollierten Anfälle ihres cholerischen Chefs.

„Also gut“, eröffnete Thomas das Meeting. „Es ist fünf nach elf, den vorläufigen Bericht haben schon alle gelesen, nehme ich an. Irgendwelche Fragen?“

Sein Blick machte die Runde.

„Wie geht es dem Mädchen?“, fragte Karen und in ihrer Stim­­­me schwang Besorgnis mit.

Sarah, die Thomas genau beobachtete, konnte sehen, dass die Frage ihrer empathischen Kollegin nicht zu den Themen gehörte, die er hier und jetzt besprechen wollte, doch er riss sich zusammen und antwortete sachlich.

„Sie hat die Nacht augenscheinlich gut überstanden und ohne ein Sedativum verabreicht bekommen zu ha­ben, sehr lange geschlafen. Sarah hat eben mit der behan­delnden Ärztin telefoniert.“

Ein erleichtertes Nicken, das auch von Hans Pfefferle auf­gegriffen wurde, quittierte diese Information.

„Hat sie bereits irgendetwas gesagt? Spricht sie überhaupt unsere Sprache?“, hakte Karen nach.

„Hat sie nicht“, sprang Sarah ein, „und das mit der Sprache ist ein guter Ansatz. Dr. Wiese, die Ärztin, geht zwar davon aus, dass ihre Apathie und das damit verbundene Schwei­gen auf die erlittenen Traumata zurückzuführen sind. Dr. Schwarz jedoch hat bei der Auswertung der gestern ange­fertigten Bilder in Bezug auf ihre Zähne eine Vermutung auf­gestellt. Die meisten Problemstellen sind wohl nie richtig behandelt worden, aber immerhin hat ihr Ge­biss eine Plom­be aufzuweisen, von der Schwarz sicher ist, dass sie nicht in Mitteleuropa angefertigt und platziert wur­de. Da ja auch in Polen, Tschechien und der Slowakei seit etlichen Jahren erst­klassige zahnmedizinische Arbeit geleistet wird, tippt er entweder auf Russ­land oder Weißrussland beziehungs­wie­se auf den Balkan.“

„Wie gehen wir in Bezug auf das Mädchen weiter vor?“, woll­­te Nico Berner wissen.

Da Thomas dabei war, die losen Seiten aus dem Akten­ord­ner zu sortieren, antwortete abermals Sarah:

„Vorausgesetzt, wir sind nicht in der Lage, zeitnah ihre El­tern zu ermitteln, wird sie noch mindestens zwei Tage in der Kli­nik unter der Obhut von Frau Dr. Wiese und dem Ju­gend­amt bleiben. Die zwei werden auch entscheiden, wann und in welcher Intensität wir mit der Kleinen arbeiten dürfen. Wir hoffen, dass wir heute Nachmittag ein erstes Gespräch wagen können. Bis dahin werden die Damen auf jeg­lichen Hinweis, der zu Klärung ihrer Identität und Her­kunft bei­tragen kann, achten. Derweil“, sie nahm Thomas das Blatt, welches er ihr hinhielt, aus der Hand, „ha­ben wir ih­re Be­schreibung und Portraitbilder.“

Sie legte den Steckbrief auf den Tisch und wartete darauf, dass ihr Partner etwas dazu sagen würde. Da dieser jedoch keine Anstalten machte, die sich aus dem Blatt Papier erge­bende Aufgabe zu delegieren, nahm Sarah es zum Anlass, selbst aktiv zu werden.

„Wer kümmert sich um die Recherche?“, fragte sie, da sie als jüngstes Mitglied des Teams nicht befugt und auch nicht ge­willt war, eine Anweisung zu erteilen. Selbst wenn sie, so ihre Überzeugung, von Thomas dafür Rücken­deckung be­kommen hätte.

„Ich mach das“, meldete sich sofort Karen Polocek eifrig zu Wort. „Ich gehe die Vermisstendatenbanken durch und neh­me Kontakt zu den anderen Behörden und den Kollegen im Ausland auf.“

Sarah schob ihr das Papier über den Tisch, blickte fragend zu Thomas, der ein kaum wahrnehmbares Nicken des Ein­ver­­ständnisses zeigte.

„Du wirst mit den Kollegen heute nicht viel Glück haben. Ge­nauso wenig verspreche ich mir Erfolg bei der Iden­ti­fi­zierung des Toten. Fingerabdrücke können wir zwar durch­­laufen lassen, aber was die Besitzverhältnisse bezüglich der Waldhütte an­geht et cetera, müssen wir ebenfalls bis morgen warten, genau wie bei den genauen Ergebnissen der Spusi. Zurück­verfolgung der elektronischen Geräte anhand der Serien­nummern macht auch erst Sinn, wenn morgen die Ge­schäfte wieder ge­öffnet haben. Für die Überprüfung der Funkzellen im Be­reich der Hütte brauchen wir einen Be­schluss. Hans, das machst du morgen. Ich denke, was im Mo­ment am pro­duk­tivsten ist, wäre die Durchsicht der DVDs vom Tatort. Viel­leicht können wir da etwas ermitteln, was uns weiter­bringt.“

Er suchte den Augenkontakt mit jedem Einzelnen, und nach­­dem niemand eine Frage hatte, legte er seine Doku­men­te zurück in den Schnellhefter.

„Okay, wir können es uns leisten, jeweils zu zweit das Ma­terial zu sichten. Ich habe die Discs im Büro. Nico, holst du die Scheiben für Hans und dich dort ab? Sarah und ich über­nehmen den Rest.“

Drei Minuten später saßen die beiden an Sarahs Schreib­tisch. Thomas hatte seinen Bürostuhl um den Tisch herum­gerollt und sich so positioniert, dass sie einen guten Blick auf den Compu­ter­mo­nitor hatten. Er öffnete das DVD-Lauf­werk des Desktops und legte die CD ein, die sich in der Hütte im Player befunden hatte. Noch bevor Sarah die Aufnahme startete, kam Nico Berner ins Büro. Ohne ein Wort zu sagen zeigte Thomas auf einen Stapel DVDs, die er auf seinem Schreibtisch für ihn bereitgestellt hatte.

„Schon was gesehen? Ist es übel?“, fragte er.

Sarah schüttelte den Kopf, während Thomas letzte Anwei­sungen zu den Beweisstücken gab.

„Schwerpunkt ist klar, denke ich. Screenshots von allem, was uns in irgendeiner noch so erdenklichen Form weiter­bringt. Schatten oder Spiegelungen, die auf Anwesenheit ei­ner zweiten Person hindeuten. Schrift oder Ton, die uns et­was über den Mann verraten. Ach, ihr wisst schon…“

Berner nickte.

„Natürlich!“, sagte er in neutralem Tonfall und verließ mit den DVDs das Büro.

Sarah startete den ersten Videoclip, der trotz der Dunkelheit in der Hütte eine erstaunlich gute Qualität aufwies. Sie sprang vorwärts, bis ungefähr zu der Stelle, an der sie des Nachts abgebrochen hatten. Auf dem Monitor konnten sie jetzt verfolgen, wie der Mann seine Maske abnahm, den Dolch mittig in den Gürtel des Gewands steckte und eine Schale nahm, die außerhalb des Bildausschnitts gestanden hatte. Erneut sprach er Verse auf Latein und Altgriechisch, hob die Schale mit aus­ge­streck­ten Armen nach oben, senkte sie bis auf Kniehöhe, be­wegte sie nach rechts und nach links, bevor er sie wieder über den Kopf hob.

„Müssen wir das Kauderwelsch übersetzen, das er da von sich gibt?“, fragte Sarah.

„Was würdest du sagen?“, entgegnete Thomas.

„Von mir ein klares Nein“, antwortete sie. „Zumindest so lange nicht, bis sich eindeutig ermittlungsrelevante Gründe dafür ergeben.“

Thomas nickte nur.

„Gleiches gilt auch für die Choreografie. Wenn sich abzei­ch­net, dass wir es mit einer Gruppierung zu tun haben, könn­te man das einem Anthropologen vorlegen, aber im Moment halte ich das für überflüssig“, fügte Sarah ihrem Statement noch hinzu.

„Sehr gut, so machen wir das.“ Thomas schien sehr zufrie­den mit der Antwort.

Auch wenn sie und ihr Partner erst ein halbes Jahr zu­sam­menarbeiteten sah Sarah die Fragen, die ihr Thomas hin und wieder stellte, nicht als Tests an, sondern eher als Auf­for­de­rung, ihre eigenen Ideen und Ansätze ein­zu­bringen. An Tho­mas‘ Reaktionen hatte sie bisher immer ablesen können, dass er ihr Feedback sehr schätzte und eine unterschiedliche Mei­nung in seine eigenen Überlegungen mit einbezog.

Auf dem Monitor hatte der Unbekannte mittlerweile sein Gebet beendet. Er tauchte Zeige- und Mittelfinger in die Scha­­­le und malte sich mit der roten Flüssigkeit, bei der es sich um Blut zu handeln schien, ein Kreuz auf die Stirn. Dann öffnete er die Kutte über der Brust und versah sein Ster­num ebenfalls mit einem roten Kreuz. Als Letztes malte er das christ­liche Symbol auf seinen Mund, stellte die Schale außer Sichtweite, zog den Dolch aus dem Gürtel und hob ihn mit beiden Händen hoch, so als wollte er sich diesen gleich in den Unterleib rammen. Doch stattdessen senkte er die Arme, den Dolch in der Rechten, bis sie seitlich in der Waag­rechten angekommen waren und er quasi die Position eines Gekreu­zigten eingenommen hatte. Nach einem lauten, lan­gen Schrei trat er rückwärts, bis er wieder in der Dunkelheit ver­schwand, danach brach der Clip ab.

„So“, sagte Thomas. „Was sollen wir von dieser kranken Scheiße denn halten?“

Er klickte auf die Eigenschaften der Dateien auf dem Da­ten­träger.

„Diese Clips hat er alle gestern gemacht, als ihn später der plötzliche Tod durch seine Gefangene ereilte“, stellte Sarah fest. „Oder zumindest hat er sie an dem Tag auf DVD ge­brannt. Aber das war am Nachmittag. Immerhin verrät uns das Video etwas. Erstens ist es nachbearbeitet. Denn wir se­hen weder, wie er die Kamera startet, noch wie er sie wie­der stoppt. Er hat also, voraus­gesetzt er war allein, den An­fang und das Ende der Auf­nahme nicht auf die DVD über­spielt. Ich vermute, er empfand das als unpassend oder wi­der sei­nes Sinns für Ästhetik.“

Sarah knetete nach ihrer Feststellung nachdenklich die Un­terlippe.

„Und das Erscheinen und Verschwinden in der Dunkelheit muss er hinterher mittels eines Effekts eingefügt haben. Die Qua­lität der Kamera ist so gut, sie hätte selbst bei Ker­zenlicht das andere Ende des Raumes aufge­zei­chnet. Wobei wir an einem Punkt sind, der uns ja gestern schon klar war: Die wirklich wichtigen und aktuellen Aufnahmen sind auf der Kamera. Ich frage mal nach, ob die von der Technik uns die Aufnah­men schon auf einen Stick gezogen haben. Ansonsten sollen sie uns die originale SD-Karte ge­ben.“

Er griff zum Telefon und wählte die Nummer der Kri­mi­nal­technik.

„Hallo Friedbert. Gestern Nacht wurde unter anderem eine Kamera si­chergestellt. Habt ihr das Material, das dort drauf war, schon kopiert? ….ja, dir auch einen schönen Sonntag. Okay. Ja, ich warte.“

„Eins muss man wirklich zugeben“, stellte Sarah fest. „Die Arbeitsmoral hier ist wirklich bemerkenswert.“

„Vor dem Hintergrund, dass ihn seine Frau vor ein paar Wo­chen verlassen hat, kann man allerdings nachvollziehen, dass er sonntags im Büro oder Labor anzutreffen ist“, er­klär­te Thomas. „Und vergiss nicht, wir sind ja schließlich eben­falls da.“

„Auch wieder richtig“, gab Sarah zu und verstummte, da Tho­mas auf den Hörer zeigte, um zu sagen, dass sich der Techniker wieder gemeldet hatte. Sie beugte sich vor und ak­tivierte kurzerhand den Lautsprecher.

„Hallo Herr Kollege, hier ist Sarah Hansen, Sie sind auf laut“, informierte sie den Kriminaltechniker.

„Hallo Frau Hansen. Ich habe mir gerade die SD-Karte ge­holt und schau mir den Inhalt auf meinem Laptop an. Mo­ment. Ah, ja. Sind nur drei Files drauf. Ich lege sie euch mal auf den Server, dann könnt ihr sie abgreifen. Habt ihr ein Verzeichnis, wo sie hinsollen?“

Thomas nannte dem Kollegen einen Pfad.

„Okay. Das geht ne Minute oder zwei. Kann ich sonst noch was tun?“

Thomas sah Sarah an, die den Kopf schüttelte.

„Nein, das wars“, sagte er. „Danke dir und schönen Sonn­tag.“

Er legte den Hörer auf die Gabel.

„Ich bin gespannt, was darauf zu sehen ist“, sagte Sarah, wäh­­rend Thomas immer wieder die Ansicht aktualisierte, bis drei neue Dateien in dem von ihm benannten Ordner aufge­taucht waren.

„Die letzte Datei zuerst?“, fragte er.

Sarah nickte

„Na dann mal los!“

Wie zu erwarten war das Erste, das auf dem Bildschirm zu erkennen war, das unscharfe Gesicht des Unbekannten in Na­haufnahme, der ganz offensichtlich damit beschäftigt war, die Einstellungen der soeben eingeschalteten Kamera zu überprüfen. Nach einigen Sekunden verschwand er aus dem Bild, und noch während der Bildausschnitt von dem of­fenbar jetzt hinter der Kamera befindlichen Mann ange­passt wurde, hatte man schon den Blick auf den furcht­ein­flö­ßen­den Altar. Darauf befand sich das rothaarige Mäd­chen. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt, so dass man ihr Gesicht er­kennen konnte. Die Augen waren zwar nicht ge­schlossen, aber ihr Blick ging mit geweiteten Pupillen ins Lee­re. Offen­bar stand sie unter dem Einfluss eines Betäu­bungsmittels oder einer anderen Droge und befand sich in einer Art Wach­trance. Die Lederriemen, auf denen ihre Hand- und Fuß­gelenke lagen, waren nicht zugezogen. Sie trug dasselbe wei­ße Gewand, in dem sie in der Nacht auf­gegriffen wurde, nur war es zu diesem Zeitpunkt noch strah­lend sauber. Im Hin­tergrund auf dem Highboard brann­­ten etliche Kerzen unter­schiedlicher Größe. Da das Gesicht und der Körper des Mäd­chens ebenfalls gut aus­geleuchtet er­schie­nen, mussten sich auch diesseits des Al­tars neben der Kamera eine ganze Bat­terie von Kerzen befunden haben. Das leichte Flackern der Schatten auf der gegen­überliegenden Wand verriet, dass der Unbekannte auf eine Videoleuchte verzichtet hatte. Jetzt trat er ins Bild. Er trug dieselbe Kutte wie in dem Video auf der DVD und der Dolch steckte ebenfalls vorne im Gürtel. Er nahm eine Po­sition hinter dem Altar ein und stand dort zu­nächst regungs­los mit gesenktem Haupt und gefalteten Hän­den.

„Hier wollte er später schneiden“, sagte Sarah.

Thomas nickte kaum merklich. Er blickte voll konzentriert auf den Monitor.

„Siehst du, dass sie nicht gefesselt ist? Die Gelenke liegen nur auf den Lederriemen“, sagte er. „Das erklärt, wie sie es überhaupt schaffen konnte, ihn während oder nach der Ze­remonie anzugreifen.“

Er wandte die Aufmerksamkeit wieder dem Mann in der Kutte zu. Mit einem Mal kam Bewegung in die Szene. Der Un­bekannte breitete die Arme aus und stimmte eine Art gre­go­rianischen Gesang an, das Haupt hielt er immer noch ge­senkt. Als er den Choral mit einem langen Diminuendo be­endet hatte, trat er an das Ende des Opfertischs, nahm den Kopf des Mädchens in beide Hände, so dass seine Finger ent­lang der Wangen und die Handflächen über dem Kiefer­gelenk lagen. Obwohl die Szene wahrhaft gruselig war, und Sarah darum betete, dass die junge Frau nichts von alldem mitbekam, schien die Berührung sehr zärtlich, fast liebevoll zu sein. Behutsam dreht der Mann den Kopf der Rot­haa­­rigen, bis ihr Gesicht der Decke zugewandt war. Dann mur­melte er erneut einige Verse, diesmal in Altgriechisch. Nach­dem er verstummt war, legte er seine Stirn auf die des Mäd­chens und verharrte mindestens eine Minute. Schließ­lich gab er ihr einen sanften Kuss und nahm danach seine Position hinter dem Altar wieder ein. Abermals ertönte ein Gesang und Sarah fiel jetzt erst auf, dass der Mann über eine sehr schöne Stimme verfügte und die Töne treffsicher hervor­brachte. Als der Choral be­endet war, zog der Unbekannte den Dolch und hielt ihn mit der stumpfen Seite der Klinge an den Hals seines Opfers. Er strich damit nach unten, über die linke Brust, den nackten Arm, zurück und über den Bauch in Richtung Schoß. Sarah hielt die Luft an, so sehr verinner­lichte sie, was sie vor sich sah. Es war faszinierend und un­säg­lich abstoßend zu­gleich, und als die Klinge in den Geni­tal­bereich des Mäd­chens wanderte, hielt sie diese entsetz­li­che Spannung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, schier nicht mehr aus! In ihr tob­te der Kampf zwischen dem Wunsch, die Augen zu schlie­ßen oder das Video anzuhalten und dem Sog, der sie mitriss und dazu brachte, jedes noch so kleine Detail auf­zunehmen, mit den Augen, mit den Fingern, die zu Fäusten verkrampft waren, mit der Luft, die sie atmete! Unfähig sich zu bewegen, unfähig wegzusehen ver­folgte sie, wie der Priester, als den sie den Mann nun wahr­nahm, mit dem Klingenrücken das Bein des Mädchens her­unterfuhr, über den Rücken des nackten Fußes, zurück nach oben, nur um für einen Sekundenbruchteil im Schritt zu verweilen und im Anschluss das andere Bein hinunter­zufahren. Das leise Mur­meln des Mannes und die uner­träglichen, mächtigen Bil­der lösten fast einen Schwindel bei Sarah aus! Wie hypno­tisiert verfolgte sie, wie das Messer das Bein wieder hinauf, über den Bauch, den Arm, die Brust und den Hals wanderte und er es schließlich mit der Spitze zum Kehlkopf weisend auf ihrem Brustbein ablegte. Er schwang die Kutte zurück, kletter­te auf den Altar und setzte sich, fast wie zu einem Ge­schlechtsakt knapp unterhalb der Hüften auf das Mäd­chen. Als er die Kutte zurechtgezogen hatte, beugte er sich vor, nahm den Dolch und hob ihn weit nach oben, ging ins Hohl­kreuz, schnellte nach vorne und ließ die Waffe auf das Mäd­chen niedersausen! Sarah zuckte nicht einmal mit den Wim­pern, als das Messer mit einem dumpfen Geräusch in das Holz des Altars schlug – knapp neben dem Hals der Rot­haarigen! Der Priester schrie laut, legte seinen Kopf auf der Brust des Mädchens ab und verharrte mehrere Minuten. Schließlich richtete er sich auf, schlug die Kapuze nach hin­ten und kletterte von dem Altar. Ohne jeglichen Pathos steu­er­te er die Kamera an und streckte den Arm aus. Un­mit­telbar danach wurde das Bild schwarz und das Video war zu Ende.

Sarah schnappte nach Luft! Hatte sie die ganze Zeit den Atem angehalten? Erst mit dem einströmenden Sauerstoff nahm sie den Rahmen des Bildschirms wieder wahr, weitete sich ihr Sichtfeld und sie sah den Schreibtisch, das Fenster, ihre Hände mit den Abdrücken ihrer Fingernägel, Thomas, der unbeweglich neben ihr saß. Wie konnte es sein, dass die­se schrecklichen Bilder sie derart in den Bann gezogen hat­ten? Sie blickte zu ihrem Partner. Auch er atmete sehr tief und schien dem eben gesehenen nachzuhängen. Immer wie­der schloss er die Augen und schüttelte ganz leicht den Kopf. Nach einer Weile sah er sie mit festem Blick an. Er war in der Realität an­gekommen.

„Ich kann es nicht glauben“, sagte er, doch Sarah wusste nicht, was er meinte: die grausamen, grotesken Bilder, oder aber seine Reaktion darauf. Hatte er die Szene genau so er­lebt wie sie? Voller Emotionen, Neugier, Faszination? Ver­spürte er in diesem Moment dieselbe Scham, weil er, wie sie, dem Schauspiel fast lüstern gefolgt war? Sie vermochte es nicht zu beurteilen.

„Ich brauche eine Pause und etwas Ablenkung“, brach er nach einer gefühlten Ewig­keit das Schweigen.

„Ich bin zu einhundert Prozent bei dir“, befürwortete sie dankbar den Vorschlag.

Thomas erhob sich und nahm seinen Anorak von der Stuhl­lehne.

„Einmal um den Block?“, fragte er.

Sarah nickte, nahm ihrerseits ihre Jacke von dem Garde­ro­benständer und folgte ihrem Partner auf den Flur. Den Weg zum Aufzug und die Fahrt ins Erdgeschoss brachten sie schwei­gend hinter sich, auch als sie nebeneinander bis zum Haupteingang gingen, sagte keiner ein Wort. Erst als sie durch die Glastür in die strenge Kälte getreten waren, be­gann Sarah ein Gespräch.

„Ich weiß nicht, wie es dir ergangen ist, aber das, was dieser Mann in der Kutte in dem Video veranstaltet hat, ist wi­derlich pervers.“

Sie zog die fellbesetzte Kapuze enger.

Thomas sah sie von der Seite an und meinte dann:

„Ja, das war abscheulich. Aber du hast doch bei deinem letzten Fall in Husum auch Schreckliches gesehen? Und das sogar in Realität und nicht auf Video?“

Sarah hatte sich schon gedacht, dass er, bevor sie vor einem halben Jahr nach Freiburg wechselte, genau studiert hatte, was sie zuvor im Norden gemacht hatte. Folglich waren ihm die Details ihres letzten Falls bestens bekannt.

„Ja, allerdings habe ich da ja lediglich die Bilder der Leichen gesehen, und nicht live mitverfolgen können, wie der Täter seinen Opfern diese schrecklichen Dinge angetan hat.“

„Nun, zu dem Mord ist es diesmal Gott sei Dank nicht ge­kommen“, sagte Thomas. „Aber du hast Recht, ich habe mir die ganze Zeit über verschiedene Fragen gestellt: Was geht in diesem Kopf vor? Was hat das Mädchen mitbekom­men? Was nimmt er noch für Handlungen vor, vor allem auch se­xu­eller Natur? Schließlich kann bei solchen Opfer­un­gen die Sexualität eine entscheidende Rolle einnehmen. Im­mer­hin wissen wir, dass das Mädchen nicht oder zumindest nicht im Sinne der ursprünglichen Definition missbraucht wurde. Trotz­­dem hat mich die Art, wie er den Dolch geführt hat, an pervers-sexuelle Handlungen erinnert.“

Sarah hob den Blick und sah in Thomas‘ sorgenvolles, nach­denkliches Gesicht.

„Du hast dir auch ausgemalt, was passiert wäre, wenn es sich nicht um eine Art Übung gehandelt hätte, sondern die tat­­sächliche Opferungszeremonie?“

„Allerdings“, antwortete er. „Stell dir vor, er hätte all die Bewegungen mit der scharfen Seite des Messers vollführt. Nicht nur, dass er Arme, Beine, Hände und Füße geritzt hät­te. Möglicherweise hätte er auch gezielt Verstümme­lun­gen vorgenommen.­ Nach diesem Video mag ich mir nicht im An­satz vorstellen, vor welch schrecklichen Taten das arme Mäd­­chen sich selbst gerettet hat. Ich habe nämlich eine Be­fürchtung.“

„Und die wäre?“, fragte Sarah, da Thomas nicht von sich aus fortfuhr.

„Das Mädchen war nicht festgeschnallt, sondern betäubt. Wir wissen, dass er die Opferung sozusagen im Leerlauf durch­gespielt hat. Ich befürchte, dass er bei dem finalen Akt auf eine Betäubung verzichtet und sie stattdessen mit den Lederriemen fixiert hätte. Immerhin, so die Fachliteratur, zieht ein sadistisch veranlagter Täter einen sehr großen Teil seines Thrills und seiner Befriedigung aus der Reaktion des Opfers. Die Todesangst in den Augen, das Schreien…“

Sarah schüttelte sich, ihr war ein Schauer übergelaufen.

„Und Gott sei Dank ist ihr die Flucht so rechtzeitig gelun­gen, dass er sie noch nicht hatte verletzen können.“

Thomas nickte.

„Und wir können einigermaßen sicher sein, dass wir das Schlimmste schon gesehen haben. Egal, was auf den zwei an­deren Videos zu sehen ist, er wird ihr nichts angetan haben. Also rein physisch, meine ich. Wobei ich mich wirklich frage, wieso ihr Angriff auf ihn und die an­schließ­ende Flucht nicht zu sehen war. Es war das letzte Video auf der Kamera.“

„Vielleicht hat er nochmal geübt und dabei vergessen, die Kamera einzuschalten?“, mutmaßte Sarah.

„Das scheint mir im Moment die einzig logische Erklärung zu sein“, pflichtete Thomas ihr bei. „Komm, lass uns an der Tankstelle einen Snack holen und dann die Videos weiter durchsehen. Ich bin froh, wenn wir das hinter uns haben.“

Herein, herein“, empfing Dr. Schwarz Sarah und Tho­mas an seiner Bürotür, hielt diese offen und wies mit der anderen Hand auf die Ledersessel vor seinem Schreibtisch. „Ich dach­te mir schon irgendwie, dass Sie heute bei mir vor­bei­schauen würden. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaf­fee, Tee? Ein biss­chen was Stärkeres, bevor wir in den Ob­duk­tionsraum gehen?“

„Kaffee“, brummte Thomas, während Sarah im Anschluss höf­lich um einen Tee bat. Die Polizisten setzten sich, Schwarz hob den Hörer vom Apparat, bestellte bei seiner Sekretärin zwei Kaffee und – nachdem er sich bei Sarah erkundigt hatte – einen Roibush-Vanille-Tee. Dann umrun­dete er den Schreib­tisch und nahm ebenfalls Platz.

„Sie hatten ja sicher eine ähnlich kurze Nacht wie ich, des­we­gen verstehen Sie bestimmt“, sein Blick blieb auf Tho­mas haf­ten, „dass ich den übel zugerichteten Herrn, den Sie ges­tern aufgetan haben, noch nicht unters Messer ge­nom­men habe. Doch wie ich Sie kenne, wollen Sie ohnehin erst ein­mal über das Mädchen sprechen, habe ich Recht?“

„Da liegt unser Fokus, genau“, antwortete Sarahs Partner. „Dass das Mädchen sich in der Gewalt des Toten befunden haben muss, ist durch die Indizien hinreichend, durch die Blutanalysen und DNA-Vergleiche eindeutig belegt. Wir ha­ben eine einigermaßen genaue Vorstellung, was gestern Abend passiert ist und gehen auch davon aus, dass sie es war, die ihren Peiniger in Notwehr getötet hat. Hier können Sie uns vielleicht später Gewissheit verschaffen. Wir haben die Waf­fe, die das Mädchen bei sich führte, mitgebracht.“

„Fall gelöst!“, witzelte Schwarz, stand auf, ging zu dem Buffet, das rechts von seinem Schreibtisch stand und kam mit einer Flasche Dalwhinnie und drei Nosing-Gläsern zu­rück.

„Auch ein Schlückchen?“, bot er an und reichte, während Thomas angewidert das Gesicht verzog, Sarah den Whisky, die das Etikett neugierig begutachtete. Schwarz freute sich wie ein kleines Kind, als sie nickte und mit zwei Fingern an­deutete, dass der Dram aber klein ausfallen sollte.

Schwarz goss ein, verstöpselte den Single Malt und stellte die Flasche zurück. Natürlich war dem Rechtsmediziner klar, dass die Ermittlungen jetzt erst so richtig anliefen und zunächst vordringlich die Identität des unbe­kannten Mäd­chens geklärt und das gesamte Umfeld der Er­eig­nisse aufge­deckt werden musste.

„Ich habe gehört, dass Sie Satanisten hinter der Entführung und Beinahe-Opferung vermuten“, warf er deswegen ein. „Haben Sie da schon konkrete Anhaltspunkte?“

Er hob sein Glas an die Nase, um die Düfte, die dem Trink­ge­­fäß entströmten, einzufangen und beobachtete, wie Sarah ihrerseits etwas schüchterner an dem Whisky schnüffelte und dann vorsichtig probierte.

„Ihr erstes Mal? Dafür ist dieser Highland Malt genau das Richtige, er…“

„Ich möchte Sie nur ungern unterbrechen“, grätschte Tho­mas hinein, der offensichtlich einem ausschweifenden Vor­trag über das schottische Nationalgetränk Einhalt gebieten wollte. „Aber Sie fragten gerade nach Anhaltspunkten. Hier sind welche.“

Er reichte dem Rechtsmediziner ein Tablet über den Tisch.

„Nach links wischen.“

Schwarz nahm das Gerät entgegen, setzte sein Glas ab und begann, die Tatortfotos zu studieren. Während er damit be­schäftigt war, öffnete sich die Tür und die Sekretärin trat ein, stellte ein Tablett mit Kaffee und Tee sowie einigen Plätzchen auf den Tisch und huschte, ohne ein Wort zu sagen, wieder aus dem Büro.

„Und? Interessant, oder?“, fragte Sarah nach einer Weile der Stille.

„Dasselbe wollte ich Sie in Bezug auf den Dalwhinnie auch gerade fragen“, entgegnete Schwarz. „Aber das hat Zeit. Las­sen Sie mich eins vorwegschicken: Wenn Sie eine Abtei­lung für Okkultismus, Esoterik oder was Ähnliches ha­ben, brau­chen Sie diese nicht zu bemühen.“

„Nein?“, fragte Sarah erstaunt.

„Nein. Sie wissen das nicht, aber ich verfüge nicht nur über das Medizinstudium und den Facharzt für Rechtsmedizin, sondern habe mich im Rahmen meines Ethnologiestudiums auch mit Religionen, Okkultismus, Riten und Ritualen be­schäftigt. Und das, was Sie mir gerade zeigen ist, Sie ver­zei­hen den Ausdruck, ziemlicher Bullshit.“

„Sie sehen darin keine Sekte oder einen Teufelskreis oder so etwas?“, hakte Thomas ein.

„Nein!“, sagte Schwarz bestimmt. „Ich sehe eine Mi­schung aus sehr verschiedenen okkulten Strömungen. Da ha­­ben wir Zeremoniengegenstände aus dem Voodoo, Bilder, die dem Sa­tanismus entspringen, sowie Anleihen aus der ägyp­ti­schen Mythologie um Thot. Und die Zeichen des kel­tischen Ok­kultismus haben in dem Pentagramm weiß Gott nichts zu suchen!“

„Und daraus schließen Sie was genau?“, fragte Sarah.

„Das ist keine Sekte oder ernst zu nehmende okkulte Gesell­schaft, die die Hütte so eingerichtet hat. Das ist jemand oder sind meh­rere, die meinen, sie seien Teil eines mystischen Or­dens, Erben einer Bestimmung oder so etwas. Oder jemand, der den parapsychologischen oder esoterischen Geschichten ein­fach nur ver­fallen ist und seinen Fantasien materiellen Aus­­druck verleihen will. Dabei hat er so ziem­lich aus jeder Zi­vilisation alles zusammengetragen, das in irgendeiner Weise eine Verbindung zum Übernatürlichen mit sich bringt. Aber einem Geheimbund sind Sie definitiv nicht auf die Spur ge­kommen. Auch keiner Gruppierung, die es mit ihrer, nennen wir es Neigung zum Okkulten, wirklich ernst meint. Das hier sind eher ein paar durchgeknallte Spinner, die absolut keine Ah­nung von dem haben, was sie tun.“

„Irgendwie erleichtert mich das“, entfuhr es Sarah, als sie sich in dem Sessel zurücklehnte. „Denn wenn wir es mit ei­ner professionellen Gruppierung zu tun hätten, wäre es für uns deutlich schwieriger, zu ermitteln. Ganz zu schweigen von der Gefahr, die davon ausgehen könnte. Vielleicht war es nur ein Einzeltäter, den unsere mutige kleine Dame ins Jenseits hat schicken können.“

„Das wird sich ja dann herausstellen.“

Der Unterton in Thomas‘ Reaktion war eher skeptisch.

„Aber da wir beim Thema sind, Dr. Schwarz, was können Sie uns über das Mädchen berichten?“

Sachlich und detailliert informierte der Rechtsmediziner die beiden Polizisten über die Stunden mit Dr. Wiese und die Ergebnisse, zu denen ihre Untersuchungen geführt hatten.

„Das ist der Stand dieser Nacht, heute habe ich noch nichts Neues gehört“, schloss er den Vortrag.

„In Ordnung, um das Mädchen kümmern wir uns im An­schluss. Wir haben schon Nachricht von Frau Dr. Wiese, die Nacht ist wohl friedlich verlaufen. Was für ein tapferes, klei­nes Ding. Unglaublich, dass sie es trotz Betäubung ge­schafft hat, sich gegen ihren Entführer zu wehren. Wir haben schon vermutet, dass er sie vielleicht bei Bewusstsein, nennen wir es beim Wort, opfern wollte und sie deswegen dazu in der Lage war.“

Seit Sarah gehört hatte, dass keinerlei sexuelle Handlungen an dem Kind vorgenommen worden waren, und sie auch keine sons­tigen Verletzungen aufwies, war sie deutlich rede­freudiger geworden.

„Nun, was den Angriff auf ihren Entführer anging, habe ich eine eigene Theorie. Nein, Erklärung. Ich bin mir sicher, dass es sich so verhält.“

„Und das wäre?“, wollte Thomas wissen.

„Ich gehe einfach einmal davon aus, dass der Tote im Keller kein Anästhesist gewesen ist, sondern als Laie ver­sucht hat, sein Opfer mit einem entsprechenden Medikament zu se­dieren oder ganz zu betäuben. Da er unerfahren ist, und er seine Gefangene zumindest für eine gewisse Zeit am Le­ben halten will, ist er mit der Dosierung, die er angewendet hat, sehr vorsichtig gewesen.“

„Und Sie glauben, dass er übervorsichtig war, und des­we­gen das Mittel nicht in ausreichender Menge verabreicht hat?“, unter­brach Sarah Schwarz.

„Nicht ganz“, lächelte dieser. „Unter normalen Umständen hätte die Dosierung vielleicht gepasst. Aber was er sicher nicht wusste, ist der Umstand, dass man bei rothaarigen Men­schen bis zu zwanzig Prozent mehr Anästhetikum ver­abrei­chen muss, um sie in Morpheus` Schoß zu schicken. Das wür­de mei­­ner Meinung nach erklären, warum sie fit genug war, ihn mit dem Messer zu attackieren. Und der darauf­fol­gende Adrenalinschock hat dafür gesorgt, dass sie den Weg durch den Wald überlebt hat.“

„Wollen Sie uns veräppeln?“, schoss es ungefiltert aus Sarah heraus. „Rothaarige brauchen mehr Narkosemittel?“

Das Grinsen in Thomas` Gesicht und das verschmitzte Kräu­seln der Lippen seitens Schwarz machten Sarah ihren Faux­pas bewusst.

„Entschuldigung“, stammelte sie. „Ich wollte nicht…also kei­­neswegs war es meine Absicht…“

Schwarz schob anstatt einer Antwort die Whiskyflasche über den Tisch.

„Nehmen Sie sich noch einen“, forderte er Sarah auf, und es fiel ihm sicht­lich schwer, einen Lachanfall zu unterdrücken. Zwar hat­te Sarah sofort begriffen, dass sie dem Rechts­mediziner keines­falls auf den Schlips getreten war. Be­züg­lich des Wahr­heits­gehalts seiner Aussage war sie aber immer noch nicht über­zeugt, ob er ihr einen Bären aufbinden wollte. Schwarz schien ihre Gedanken zu lesen.

„Ja, meine liebe Frau Hansen, das ist wirklich so. Dabei führt eine Mutation auf Chromosom 16 zur Veränderung des Me­lanocortinrezeptors. Der Rezeptor wird blockiert und das hat zwei Auswirkungen: Erstens, das Pigment Phäomelanin, das zur roten Färbung der Haare führt, wird vermehrt herge­stellt. Zweitens, durch die Blockade kann Melanocortin nicht mehr an dem spezifischen Rezeptor andocken und deswe­gen seine schmerzreduzierende Wirkung nur zum Teil ent­falten. Witzig, oder?“

„Ja, tatsächlich witzig“, antwortete Sarah und schob den Dal­whinnie erleichtert zurück.

Höllenteufel

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