Читать книгу Höllenteufel - Andre Rober - Страница 8

Kapitel VI

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Stefan Wellner stand am Fenster und folgte mit seinen Blicken den Flocken, die im Wind umherstieben, um nach et­lichen Kapriolen zu ihresgleichen auf den Boden zu fallen und die dichte, weiße Pracht um ein weiteres winziges Stück­chen anwachsen zu lassen. Während er an seiner Богатыри sog und den Rauch mit viel Luft inhalierte, schweif­­te sein Blick über die friedliche, fast märchenhaft an­mutende Park­anlage des Anwesens. Der mittlerweile sicher einen Drei­viertel­meter hoch liegende Schnee verwischte die Konturen der Beete, Sträucher, Bänke und Wege, so dass nicht zu er­kennen war, wie verwahrlost sich der riesige Gar­ten tat­säch­lich darstellte. Die Besitzer des Schlösschens, Well­­­ners Ar­beits- und Auftraggeber, hatten kein Interesse daran, ih­ren Besitz in das preziöse Kleinod zu ver­wan­deln, das es mit ein wenig Aufwand wieder hätte wer­den können. Eigentlich eine Schande, dachte Wellner, denn er hatte etwas übrig für malerische Plätze. Und man musste weiß Gott kein Fach­mann sein, um das Potential dieses ab­gelegenen Orts zu er­ken­nen. Die Frage, warum eine solche Anlage zehn Kilo­me­ter von der nächsten Behausung inmit­ten der fast mys­tischen Tannenhaine des Schwarzwalds er­richtet worden war, hatte ihn beschäftigt, aber nicht so sehr, als dass er sich die Mühe gemacht hätte, einmal etwas über die Geschichte des Hauses zu googeln. Darüber, warum es perfekt geeignet für die Machenschaften seiner Bosse war, brauchte er nicht lange zu sinnieren. Sein Blick blieb an dem Mercedes G hän­gen, den er am Vorabend mühsam vom Schnee befreit hatte. Noch war er gut zu erkennen, sollte es aber so weiter­schneien, würde es abermals sehr viel Mühe kosten, ihn wieder frei­zuräumen, ganz zu schweigen von der Auffahrt, die er dank der extremen Offroad Eigenschaften des Gefähr­tes hatte benut­zen können, ohne zuvor die motor­getriebene Schnee­fräse einsetzen zu müssen. Am bes­ten war es, er über­wand seine Unlust, das Haus zu verlas­sen und machte sich die Mühe, den Mercedes in eine der zahl­reichen Garagen zu stellen. Lieber jetzt noch einmal raus in die Kälte und am nächsten Tag ein schneefreies Fahrzeug vorfin­den, als in Herr­­gottsfrühe das Auto auszugraben. Immerhin wur­de die Verbindungsstraße regel­mäßig geräumt, aber die gut andert­halb Kilometer bis dahin vom Schnee zu befreien, stellte einen nicht zu unterschät­zenden Aufwand dar. Die Vor­stellung, bei diesem Wetter mehrere Stunden hinter der Frä­se herzu­gehen, nur um das möglicherweise drei Tage spä­ter erneut tun zu müssen, miss­fiel Wellner sehr. Er hatte sogar überlegt, zu einem Baumarkt zu fahren, um den G mit einer Art Sperrholzpflug auszustatten und zweimal am Tag den Weg bis zur Land­straße abzufahren. Aber dies wieder­um hät­te ein deutlich ausgeprägteres Geschick erfordert als je­nes, über das er selbst verfügte, und so hatte er den Gedan­ken schnell ad acta gelegt.

Ein Holzscheit, der hinter ihm im Kachelofen lautstark knack­­te, lenkte seine Aufmerksamkeit weg von der winter­lichen Land­schaft drau­ßen zurück in den Raum, in dem er sich befand. Er trat neben seinen massigen Hochlehner und drückte den Stum­mel sei­ner russischen Zigarette in einem Messingascher aus. Dann nahm er sich den Stapel an Rei­se­pässen, der auf dem riesigen Eichenschreibtisch lag, setzte sich in den thronarti­gen, reich verzierten Stuhl und begut­achtete das oberste der Doku­mente.

Maria Palijewa, siebzehn Jahre alt. Geboren in Boriwske, Ukra­ine. Haare mittelblond, Augen blau, Größe 1,69 m.

Das Bild in dem Pass zeigte ein etwa fünfzehnjähriges, auf­fallend hübsches Mädchen, das unbekümmert in die Linse der Kamera lächelte. Vor seinem inneren Auge sah Wellner die junge Frau, die gemeinsam mit den anderen zwei Ukra­inerinnen zwei Stockwerke über ihm in der „Wohnung“ ein­gesperrt war. Die ungefähr zwei Jahre, die seit Aufnahme des Fo­tos im Ausweis vergangen waren, hatten Maria reifen lassen, ohne sie ihrer natürlichen Schönheit zu berauben - im Gegen­teil!

Wellner atmete tief durch, legte den Pass beiseite und blät­terte in dem nächsten.

Daria Kowalewa, dreiundzwanzig. Haarfarbe braun, Augen braun, Größe 1,73. Ebenfalls aus einem Ort in der Ukraine, von dem er nie gehört hatte: Tschuhujiw, etwa vierzig Kilo­meter südöstlich von Charkiw. Und auch sie ein echter Hin­gucker, aber das waren sie schließlich alle. Zumindest die­je­ni­gen, die seine Bosse als „im fickbaren Alter“ bezeich­neten. Dies galt nach Wellners Maßstäben allerdings für das nächs­te Mädchen nicht:

Tiana Vasileva, dreizehn Jahre alt, Haarfarbe rot, Augenfarbe grün, 1,53. Geboren in Targowischte, Bulgarien. Zu sehr Kind, als dass man von sexueller Attraktivität sprechen könnte. Aber nicht unansehnlich. Und Wellner wusste, dass sie ihrer Haarfarbe wegen eine „Bestellung“ war und der Kunde auch nicht vorhatte, sie wegen sexueller Dienstleistung zu ordern. Oder zumindest nicht ausschließlich. Sein Vorhaben war wohl weitaus perverser, denn er hatte den Full Service ge­bucht. Dies bedeutete, dass er sie zu gegebener Zeit zu­rück­geben würde, ohne dass ihr Zustand dabei eine Rolle spielte. Wellner war lange genug im Geschäft, um nahezu voll­kommen abge­härtet zu sein, doch in ihrem Fall hatte er einen leichten Kloß im Hals, denn er wusste, dass er das Mädchen ver­mutlich endgültig entsorgen musste…wie schon so manche junge Frau zuvor.

Nermina Suthampong, die kleine Thai aus Pattaya blickte ihm aus dem nächsten Dokument entgegen, einundzwanzig Jah­re jung, 1,56 groß, Haare schwarz, Augen dunkelbraun. Sie war wohl das Mädchen, in das sich Wellner verliebt hätte, wä­re sie nicht Ware seiner Auftraggeber gewesen. Die sie­ben­undzwanzig Jahre Altersunterschied hätten ihm nun wirk­lich nichts ausgemacht! Er warf die restlichen fünf Rei­se­pässe auf den Tisch vor sich, griff zu der Flasche Mineral­wasser, schenkte sich ein Glas ein und leerte es in einem Zug.

Wellner wandte seine Aufmerksamkeit einem Stapel ande­­­rer Dokumente zu. Dass er Importware entgegen­nahm, ver­­sorg­­te und bei Laune hielt, um sie bei Abruf weiterzu­schleu­sen, war seinerzeit der Bestandteil der geschäftlichen Abma­chung gewesen. Eine Abmachung, die ihm aufge­zwun­­gen wurde, nachdem er bei den falschen Leuten Schul­den ge­macht hatte. Das Modell habe bereits Schule gemacht, er könne durch seine Arbeit den erheblichen Geldbetrag, mit dem er bei den Männern aus Russland in der Kreide stand, recht schnell abarbeiten, sozusagen als eine Art Fran­chise­nehmer. Widerwillig, aber ohne erkennbare Alternative hat­te er angefangen, zumeist einzelne junge Frauen bei sich auf­zu­nehmen. In der Regel blieben sie nur einige Tage, bis sie von ebenso unangenehmen Männern wieder abgeholt wur­den, wie die, die sie zuvor bei ihm abgeliefert hatten. Nicht nur die Schuldenlast konnte er so bedienen, er bekam auch Spe­sen, die ihm erlaubten, sein bescheidenes Leben zu finan­zieren. Mit der Zeit schien das Geschäft zu expandieren: Die Lie­ferungen kamen regelmäßiger und öfter. Die Männer wa­ren nach und nach besser gekleidet, und die Fahrzeuge, mit denen die Mädchen gebracht wurden, sahen teurer aus. Als zum ersten Mal zwei junge Damen gleichzeitig bei ihm ab­geliefert wurden, hatte er sich getraut, nachzufragen, wann denn sei­ne Schuldigkeit getan sei. Mehr aus Neugier, denn er hatte bereits zuvor darüber nachgedacht, was er wohl tun möge, wenn das auch für ihn immer einträglichere Geschäft eines Tages ein Ende haben würde. Seine Gläubiger hatten dies wohl in den falschen Hals bekommen, denn tags darauf tau­chten wieder zwei von den unangenehmeren Typen bei ihm auf und machten ihm klar, dass es voll­kommen uner­heblich war, ob er noch etwas schuldig sei oder nicht. Er sei mittler­weile Teil der Familie, семья́, wie ihn der Schläger wis­sen ließ, und als ob ihre physische Präsenz nicht genug Nach­druck verlieh, zog er auch noch zwei Fotos aus der Ta­sche. Auf dem einen war Wellner mit einer seiner jun­gen Gäs­te zu sehen, wie sie zusammen einen Einkaufswagen scho­ben. Sofia, er erinnerte sich gut an sie. Auf dem zweiten Bild war sie nur schwer zu erkennen und Wellner hatte Mü­he gehabt, sie überhaupt zu identifizieren, so übel zu­ge­richtet war sie.

„Sie war erst fünfzehn und wird aussagen, du seist das ge­wesen, und zwar als du sie zum Sex gezwungen hast“, hatte der Mann ihm mitgeteilt, und auf seinem Sackgesicht, so wie Wellner es beschreiben würde, hatte sich ein breites Grinsen breitgemacht.

„Und außerdem, was willst du, Towarischtsch? Du verdienst doch gut Geld damit, oder?“

Der Gedanke an den darauffolgenden Schlag auf seine Schul­­­­ter ließ ihn heute noch zusammenzucken. Nicht auszu­denken, wenn ihn das Sackgesicht mit seinen kochtopf­gro­ßen Fäusten aufgemischt hätte. Natürlich hatte Wellner sei­ne weitere Mitarbeit versichert und das nicht nur wegen der un­verhohlenen Drohungen. Er hatte schließlich längst begrif­fen, dass er sich des Menschen­handels strafbar gemacht hatte und außerdem war seine Tätigkeit tatsächlich mittlerweile sehr einträglich. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass er seinerzeit ziemlich cleveren Geschäftsleuten auf den Leim gegangen war, die genau wussten, was sie taten und welche Knöpfe sie drücken mussten.

Als sie schließlich nach etwa acht Jahren die Tätigkeiten in das Schlösschen verlegten, hatte er praktisch immer mindes­tens drei Mädchen zu betreuen, die mitunter auch mehrere Wochen in dem Anwesen verbrachten. Zu diesem Zeitpunkt begannen auch die Partys, bei denen in unregelmäßigen Abständen offensichtlich sehr gut betuchte Gäste auf das Schloss kamen und ein Wochenende lang ihre sexuellen Fan­tasien ausleben konnten. Nur wenige Monate nachdem Well­ners Arbeit in das Schloss verlegt worden war, wurde ihm zum ersten Mal die Aufgabe zu­teil, eine junge Frau, die kurz zuvor aus seiner Obhut abge­holt worden war, ver­schwinden zu lassen. Ein Betriebsunfall, hatte man ihm ge­sagt, doch da es nicht bei dieser einen bleiben sollte, wurde ihm schnell klar, dass seine семья́ ihr Angebot erweitert hatte und nun die abscheulichsten, perversesten Bedürfnisse ihrer Klientel bediente. Die Be­zeichnung full service hatte sich bei der Be­spre­chung in sein Hirn gefressen, bei der er zwei Mitglieder aus der Führ­ungsriege kennenlernte. Einen smar­ten Busi­ness­man, der rein äußerlich eher ein Oligarch zu sein schien als ein Mit­glied der russischen Mafia. Und ei­ne eben­so wir­kende Rus­sin, atemberaubend schön, viel­leicht Mitte drei­ßig, die so eis­kalt über Ware, Termine und Service sprach, dass es selbst den mittlerweile abgebrühten Wellner anekelte und er sich fragte, wie eine Frau derartig grauen­volle Taten an anderen Frauen nicht nur zulassen, sondern sogar orga­ni­sieren konnte. Zu die­sem Zeitpunkt war er so tief verstrickt in die Ma­chen­schaften und verdiente so viel Geld, dass an ein Aufhören nicht mehr zu denken war – selbst wenn sich dann und wann der zarte, schwer zu hörende Ruf eines noch rudimentär vor­handenen Gewissens bei ihm regte.

Der Ordner, den er jetzt aufgeschlagen vor sich gelegt hatte, stand für eine zweite Änderung in dem geschäftlichen Ge­baren. Waren in den ersten Jahren nur Frauen aus dem Osten hergebracht worden, gelegentlich auch aus asiatischen Län­dern, wurden seit geraumer Zeit zusätzlich Mädchen und Jungen in dem Anwesen untergebracht, die aus mittel- und west­eu­ropäischen Staaten stammten und nach der hiesigen Zwi­schenstation ihren Weg in andere Länder nahmen, vor­wie­gend in den Nahen Osten, aber auch nach Russland und Nord­amerika. Die Anzahl der Bestellungen gezielter Phä­no­typen war im Laufe der Zeit deutlich ge­stiegen. Und um ge­nau solch eine Bestellung handelte es sich bei dem Ordner, des­sen Inhalt er jetzt vor sich ausbreitete. Genauer gesagt war diese Akte schon weit in der Bear­bei­tung vor­ange­kommen, denn einer der Beschaffer hatte bereits ein Opfer aus­gespäht, das den Kriterien entsprach. Die Beschaffer wa­ren Männer und Frauen, deren echte Namen nur Wellner kann­te. Die Kommunikation lief über Pre­paid­handys, die nach jedem Einsatz vernichtet wurden, und zu Gesicht be­kam er sie nur bei der Übergabe von Unter­lagen oder der Ware. Diese Übergaben fanden an unter­schied­lichen Treff­punkten statt und Wellner wusste, dass die Be­schaffer keine Ahnung von der Existenz dieses Anwesens hatten. Genau­sowenig wie die Schleuser, die die Mädchen oder – wie in diesem Fall – Jungs, an anderer Stelle entge­gennahmen, um sie ihrem Ziel näher zu bringen. Näher­ bringen deshalb, weil auf dieser Reise mindestens zweimal eine Übergabe statt­fand. Wellner hatte sich seinerzeit über­legt, warum die­ses Ri­siko eingegangen wurde, doch irgend­wann hatten es ihm sei­ne Chefs erklärt: Zum einen wurde dadurch deutlich er­schwert, dass nach einer Verhaftung am unteren Ende des Netzwerks die Verbindungen zu den Köpfen und Auf­traggebern verfolgt wer­den konnte. Zum anderen solle er­reicht werden, dass jeder Mitarbeiter auf genau seinem Ge­biet spezialisiert ist – was die genaue Ortskenntnis mit einbe­zog. So kannte jeder Einzel­ne Risiken und Vorteile bestimm­ter Streckenab­schnitte und konnte gegebenenfalls schnell über Alter­na­tivrouten ent­schei­den. Diese Erklärungen leuch­­teten Well­ner immer noch ein. Aber auch horizontal war das Netz vor Aufdeckung bestens abgesichert, so musste er selbst dafür sorgen, dass die Beschaffer, die sich unter­ein­ander nicht kann­ten, niemals treffen durften. Die Prepaid Handys, die er stets zuge­schickt bekam, durften auf keinen Fall in dem Schlösschen und im Umkreis von dreißig Kilo­metern eingeschaltet wer­den. Sollte einmal ein Handy in die Hände der Ermittlungs­behörden fal­len, war so sichergestellt, dass eine nachträg­liche Aus­wertung der Verbindungen und der Funkzellen nicht in die Nähe des Hauses führen würde. Überhaupt war er verpflich­tet, für die mobile Kommu­ni­kation jedes Mal unterschied-liche Stellen aufzusuchen, was einen erheblichen Fahrauf-wand bedeutete. Aber so konnte man die Polizei im Fall der Fälle zuverlässig vom Vertei­lerzentrum, wie er seinen Wir­kungsbe­reich nannte, fern­zu­hal­ten. Das Anwesen und seine Person stellten natürlich grund­­sätzlich einen sehr sensiblen Knoten dar, deswegen waren die Versicherungen seine Loyalität betreffend auch ent­­sprech­end scharf gewählt.

Die Bilder des Jungen, die er vor sich ausgebreitet hatte, zeig­­­ten ein etwa zwölfjähriges Kind mit strohblonden Haa­ren und riesigen, auffallend blauen Augen. Die Fotos, offen­sicht­lich mit einem starken Teleobjektiv aufgenom­men, lie­ßen er­kennen, dass der Junge von zarter Statur war, was sich auch in den feinen Gesichtszügen widerspiegelte. Es musste wohl die andro­gyne Ausstrahlung sein, die den Auftrag­ge­ber ans­prach, vermutete Wellner, der wusste, dass dieser Jun­ge für einen Kunden aus Saudi Arabien ausgesucht wor­den war. Wellner langte in die Brusttasche seines Hem­des, fischte die Packung Богатыри heraus und zündete sich eine der Ziga­ret­ten an. Packung und Benzinfeuerzeug warf er auf den Tisch. Innerhalb der nächsten zwei, drei Tage sollte Juri des Jungen habhaft werden, dann würden sie sich auf einer abseits gelegenen Straße weitab einer Behausung treffen und die Übergabe ver­anstalten. Das Prepaid Handy hatte er be­reitge­legt. Um sech­zehn Uhr war eines der Zeitfenster, um mit Juri Kon­takt aufzunehmen. Sollte er dies nützen, würde er das Mobil­telefon irgendwo auf einem Parkplatz im Süd­schwarz­wald einschalten und fragen, ob Juri schon bereit sei, die Ware zu übergeben. Bewusst hatte man einfachste Se­nioren­handys gewählt, die weder über GPS verfügten noch in der Lage waren, über Schnickschnack wie Skype, Massen­ger oder WhatsApp zu kommuni­zieren. Wellner trat wieder ans Fen­ster. Vor seinem inneren Auge sah er sich mit Schnee­schaufel und Sandblechen bewaffnet Wege ebnen, um mit dem Wa­gen eine Stelle im Nirgendwo auf­zusuchen, nur da­mit er das Telefonat führen konnte. Miss­mutig blickte er auf das Handy. Hier würde er es gemäß den Anwei­sun­gen kei­nes­falls einschal­ten! Aber sein Entschluss stand fest. Er würde heute keines­falls mehr das Haus verlas­sen. Der nächs­­te Ter­min für ein Telefonat wäre übermorgen. Früh ge­nug, um nach­zufragen, wann er mit der Übergabe rechnen konnte! Also legte er das Handy zurück auf den Schreibtisch.

Stattdessen nahm er sich aus dem Stapel der Reispässe den thai­ländischen, klappte ihn auf und betrachtete Nerminas Bild. Mit dem Finger strich er über die Wange und den Mund und begann unwillkürlich, tiefer zu atmen. Und als sich un­ter­halb seines Gürtels etwas zu regen begann, legte er den Pass auf den Tisch und verließ den Raum in Richtung des Ba­dezimmers.

Dann wollen wir uns John Doe mal ansehen“, sagte Dr. Schwarz nüchtern und trat an die Kühlfächer. „Schieben Sie bitte mal den Wagen dort herüber?“, bat er Thomas Bier­man und öffnete die ihm nächstgelegene Edelstahltür. Der Poli­zist ging zu dem einige Meter entfernt stehenden Roll­wagen, nahm kurz Maß und gab dem Gestell einen wohl­dosierten Tritt, der es in Richtung des wartenden Rechtsme­diziners be­wegte. Dieser machte einen Schritt zur Seite und beob­achtete gespannt, wo das Gefährt wohl zum Stillstand kom­men wür­de. Er schnalzte anerkennend mit der Zunge, als es exakt vor dem offenen Kühlfach fast genau senkrecht dazu aufhörte, sich zu bewegen. Sarah, die die Szene ungläubig beobach­tete, schüttelte nur den Kopf und ver­drehte die Augen. Das ge­zisch­te Männer war gerade noch laut genug, dass Thomas und der Arzt es hören mussten. Ohne sich da­von beirren zu lassen, rückte Schwarz den Rollwagen die letzten Zentimeter zurecht und zog eine mit einem weißen Tuch abgedeckte Bahre auf das Transport­mittel. Er schob den Leichnam neben den Obduktionstisch, nahm drei Gum­mi­schürzen von einem Kleiderhaken und griff nach einer Packung ellenbo­gen­langer Handschuhe. Er streckte die Schutz­­kleidung Sarah und Tho­mas entgegen.

„Wenn Sie mir bitte kurz zur Hand gehen würden?“, bat er, legte sich die verbleibende Schürze um und stülpte sich die Handschuhe über.

„Keine Sorge, der Leichnam ist bereits gewaschen. Es wird also keine allzu große Sauerei, wenn wir ihn rüberheben.“

Thomas nahm eine der Schürzen entgegen, legte sie an und warf Sarah, nachdem sie ebenfalls die Plastikbändel auf dem Rücken zu einer Schleife gebunden hatte, zwei der Hand­schuhe zu. Sie fing sie geschickt auf und blies, dem Beispiel ihrer Kollegen folgend, erst einmal hinein, bevor sie die Hän­de und Unterarme hineinsteckte.

„Fertig?“

Sie nahmen Aufstellung an dem Leichnam, Schwarz an den Füßen, Sarah am Kopf und Thomas auf Höhe der Hüfte.

„Auf drei! Eins, zwei, drei!“

Gemeinsam wuchteten sie den Toten auf den Obduktions­tisch. Sarah wartete mit dem Ablegen des Kopfes, bis Schwarz eine Art Nackenstütze untergeschoben hatte, dann trat sie neben ihren Partner.

„Genau genommen hätten Sie gar nicht herkommen müs­sen. Spektakuläres werde ich nicht zu berichten haben. Au­ßer­dem sind die Umstände hinreichend geklärt, oder? Nicht, dass ich Ihre Anwesenheit nicht schätze.“

Sarah schmunzelte.

„Sehen Sie keine Krimis? Da tauchen die Ermittler doch auch regelmäßig in der Rechtsmedizin auf, nur um ein Detail zu erfahren, das man auch am Telefon hätte mitteilen kön­nen. Wir halten uns einfach an die Klischees.“

Dr. Schwarz lächelte.

„Irgendwann, lieber Bierman“, sagte er, „wird sie Sie an Schlagfertigkeit überbieten. Und ich freue mich schon da­rauf, das zu erleben.“

Thomas zuckte nur die Schultern und half dem Mediziner, das Laken in Richtung der Füße zu falten und legte es auf einen Beistelltisch.

„Eigentlich ist der einzige Grund für unsere Anwesenheit sicherzustellen, dass Sie als erstes die Fingerabdrücke und ei­ne DNA-Probe neh­men, so dass wir mit der Identifizierung weiterkom­men“, frotzelte er, doch Schwarz ging nicht da­rauf ein. Stattdessen griff er hinter sich, legte ein Diktiergerät neben den Toten und schaltete es ein.

„Obduktion eines unbekannten Toten im Beisein zweier Ner­­­­vensägen von der Kripo Freiburg. Größe etwa ein Meter fünfundsiebzig, Gewicht zirka achtzig Kilo. Alter zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig.“ Er stoppte die Auf­nahme und zeigte auf den Kopf der Leiche.

„Kaukasischer Typ. Sehen Sie die Physiognomie. Ich tippe auf einen Einheimischen. Wenn das kein Schwarzwälder ist! Schauen Sie es sich gut an, das kommt dabei raus, wenn über Generationen…naja, also wenn irgendwann jeder sein ei­ge­ner Onkel ist. Das liegt daran, dass die ganzen Täler in der Um­gebung früher im Winter über Monate vom Rest der Welt abgeschot­tet waren. Und dafür“, er wies auf den deutlich aus­ge­prägten Kropf des Toten, „ist der Jodmangel verant­wortlich, unter dem die Menschen in dieser Region zum Teil selbst heute noch leiden. Zu­min­dest, wenn sie kein jodiertes Speisesalz im Supermarkt kau­fen.“

Sarah, die ihre anfängliche Zurückhaltung abgelegt hatte, beugte sich vor, betrachtete den Leichnam eingehend, mus­terte dann ihren Kollegen und antwortete:

„Ja, ich verstehe, was Sie meinen.“

Sie lächelte die beiden Männer keck an. Unterdessen schal­tete Schwarz das Diktiergerät erneut ein und fuhr fort.

„Multiple Stichverlet­zungen an der Vorderseite des Torsos. Ich zähle mal die Mes­serstiche, die zweifelsohne zum Able­ben des Mannes ge­führt haben. Zwo, vier, sechs, acht, naja Nummer Neun und Zehn sind etwas abgerutscht. Aber die zählen noch!“

„Strike“, kommentierte Thomas schamlos und Sarah schüt­tel­te den Kopf.

Schwarz zwinkerte ihr zu.

„Außer den Messerstichen keine Auffälligkeiten an der Vor­derseite.“

Er besah sich die Hände und Füße des Toten, prüfte die Be­weglichkeit sämtlicher Gelenke und griff wieder zum Mikro.

„Bei äußerer Beschau keine Frakturen oder andere Ver­let­zungen feststellbar.“

Er öffnete den Mund des Toten und leuchtete mit einer Ta­schen­lampe in den Rachen.

„Atemwege sind, soweit von außen einzusehen, frei. Spuren von Blut in den Atemwegen und in der Speiseröhre lassen Verletzung von Lunge sowie Magen durch die Messerstiche vermuten. Und ich sehe Herrn Bierman an, dass er ganz drin­gend auf die Fingerabdrücke wartet.“

Schwarz bemerkte Sarahs hochgezogene Augenbrauen und meinte:

„Ich bin doch eh der Einzige, der sich das nochmals anhört. Außer meiner Sekretärin natürlich, die das abtippt. Aber sie ist erfahren genug, um den Blödsinn bei der Niederschrift weg­zulassen. Das Besteck für die Fingerabdrücke ist da drü­ben in der ober­s­ten Schublade.“

Während der Rechtsmediziner Augen, Nase und Oh­ren des Verstorbenen untersuchte, holte Sarah das Tin­ten­kissen, den Farbroller sowie ein Klemmbrett, auf dem sich ein Blanko­formular für die Abdrücke aller zehn Finger be­fand. Ohne Schwarz zu behelligen oder Thomas um Hilfe zu bit­ten, be­gann Sarah, die Fingerabdrücke des Toten zu ne­hmen. Schwarz sah ihr einige Momente interessiert zu, blickte schließlich zu Thomas und sagte:

„Gute Frau, die Sie da an Ihrer Seite haben! Daumen hoch!“

Thomas nickte und lächelte seiner Partnerin anerkennend und aufmunternd zu, während Schwarz die Beweg­lich­keit des Genicks überprüfte. Dann legte er den Kopf wie­der ab und diktierte weiter.

„Beweglichkeit des Atlanto-okzipital-Gelenks und der At­lan­to-axial-Gelenke liegt innerhalb der Norm und lässt auf keine Verletzung in diesem Bereich schließen. Öffnungen des Caput sind frei und ohne Befund.“

Schwarz trat zu dem Seitenschrank und entnahm diesem einen dünnen Edelstahlstab mit Maßeinheiten sowie einen ebenfalls metallenen Winkelmesser. Den Stab führte er vor­sichtig in die unterste der Stichwunden ein. Als sich das Mess­instrument nicht weiterbewegen ließ, wandte er sich an Sarah.

„Halten Sie mal bitte?“

Sie tat wie geheißen. Schwarz legte jetzt den Winkelmesser an und las die Skalen ab. Dann schaltete er abermals das Mi­kro ein.

„Wunde eins im rechten Oberbauch, Tiefe etwa achtzehn Zen­­timeter, Breite etwa drei Zentimeter, dreiundzwanzig Grad aufwärts geneigt. Ver­mut­lich Perforation der Lun­ge.“

Er nahm einen Permanent Marker aus der Kitteltasche, um­kreiste die Wunde und schrieb eine Eins daneben. Er zog den Messstab heraus und machte sich daran, die zweite Wunde auf dieselbe Art und Weise auszumessen. Nach und nach ver­­maß und nummerierte er mit Sarahs Assistenz die übri­gen Verletzungen, während Thomas seiner Partnerin zu­s­ah und es sehr zu schätzen schien, wie unerschrocken und selbst­verständlich sie dem Rechtsmediziner zur Hand ging. Als dieser den letzten Kommentar zu den Wunden ins Mikro gesprochen hatte, nahm Thomas die Beweismitteltüte, die den extravaganten Dolch enthielt, aus seiner Aktentasche und reichte sie dem Doktor.

„Nur des Protokolls wegen: Können die Wunden von die­sem Dolch hervorgerufen worden sein?“

Schwarz besah sich die Waffe.

„Interessantes Teil!“, sagte er. „Ja, das passt gut. Sehen Sie am Heft ist die Klinge ungefähr die drei Zentimeter breit, wie es die tiefsten Wunden ebenfalls sind. Die weniger tiefen sind auch schmaler, was der konischen Form der Klinge zuzu­­­schrei­ben ist. Und hier finden sich noch die beiden ku­gel­för­migen Ornamente, die am Ende rechts und links aus dem Heft nach vorne stehen. Die haben bei den tiefen Wun­den Spuren hin­terlassen. Passt also perfekt.“

„Okay, hatten wir ja vermutet“, bemerkte Sarah. „Wie kann eine etwa ein Meter fünfzig große Person diesem Mann die Verletzungen beigebracht haben?“

Schwarz dachte nach, doch bevor er eine Vermutung aus­sprechen konnte, ergriff Thomas das Wort.

„Wenn sie auf dem Rücken lag und er auf ihr saß, etwa auf Höhe der Oberschenkel. Würde ein Stich etwa zu diesen Ver­letzungen führen? Zumindest zu einer oder zwei?“

Schwarz lächelte.

„Reicht es, sich das vorzustellen? Ansonsten…“, er sah Sa­rah an und wies auf einen freien Obduktionstisch. „Wenn Sie so freundlich wären.“

Auch diesmal zögerte Sarah keine Sekunde, trat an den Edel­­­­stahltisch, zog sich hoch und legte sich der Länge nach darauf.

„Worauf wartest du?“, fragte sie Thomas, der kaum merk­lich mit den Schultern zuckte und sich dann rittlings auf Sa­rahs Beine setzte.

„Und jetzt tun Sie so, als ob Sie ein Messer in der Hand hät­ten und stechen Sie zu“, ermunterte Schwarz die amüsiert drein­schauende Sarah. Thomas, dem die verfängliche Posi­tion nicht ganz so egal zu sein schien, nickte seiner Partnerin zu. Sarahs Faust landete deutlich über dem letzten Rippen­bogen.

„Rutschen Sie noch etwas höher und beugen Sie sich etwas nach vorne“, wies Schwarz Thomas an, der der Auffor­de­rung prompt nachkam. Dieses Mal kam Sarahs Hand der Po­sition der ersten Wunde deutlich näher.

„Und wenn wir zusätzlich in Betracht ziehen“, sagte Schwarz, „dass das rothaarige Mädchen etwa zehn Zenti­meter kleiner ist als Sie, Frau Hansen, dann wäre es zumin­dest im Bereich des Möglichen, dass so die Verletzungen entstanden sind.“

„Zwanzig“, sagte Sarah, während Thomas von ihr herunter­stieg. „Ich bin zwanzig Zentimeter größer als das Mädchen.“

„Entschuldigung“, lächelte Schwarz. „Wie dem auch sei, so kann es gewesen sein. Wie kommen Sie auf diese Pose?“

„Wir haben Videomaterial gesichtet, wo er hier“, Sarah wies auf den Toten, „genau diese Position einnimmt und so eine Art Ritual auf Latein durchspielt. Dabei hat er den Dolch auf die Brust des Mädchens gelegt. Ich vermute, diesen Moment hat die Kleine genutzt und sich die Waffe gegrif­fen.“

Schwarz runzelte die Stirn.

„Aber wie sie zusticht, ist nicht auf dem Video zu sehen?“

„Nein“, schüttelte Thomas den Kopf. „Die Szene ist dreimal auf Band. Offensichtlich hat er ein paar Mal geübt. Und be­vor er es richtig machen wollte, ist ihm die Kleine in die Que­re gekommen. Warum er ausgerechnet da die Kamera nicht eingeschaltet hatte, ist uns allerdings schleierhaft. Wahr­schein­­­­lich hat er es schlicht vergessen.“

Der Rechtsmediziner hob den Zeigefinger.

„Ich denke, er hatte ohnehin vor, es noch einige Male durch­zuspielen. Bei dem tatsächlichen Akt, die dem er das Mäd­chen letztendlich umgebracht hätte, wäre ihm das sicher nicht passiert. Mit dem Üben habe ich meine Zweifel. Viel­leicht wollte er den Moment einfach öfters genie­ßen. Ihm muss­te ja klar sein, dass es, wenn sie tot ist, mit dem Spiel vorbei ist.“

„Trotzdem glauben wir, dass es eher eine Art Übung war“, wandte Sarah ein. „Sonst hätte er das Mädchen nicht betäubt. Hätte er den Kick mehrfach haben wollen, hatte er sie bei vol­lem Bewusstsein der Tortour unterzogen, ohne sie final zu töten.“

„Die Macht über den lebendigen Leib, den er vor sich hatte, würde ihm ein unglaubliches Gefühl, ein berauschendes Hor­monbad bereitet haben, von dem ihm ver­mutlich be­wusst war, dass er es so schnell nicht wieder­erlangen konn­te“, ergänzte Thomas. „Vergessen wir nicht, bei aller Perver­sion, der Mann war ein des rationalen Denkens fähiger Mensch. Wenn es nicht das erste Mal gewesen ist, dass er so etwas durchgezogen hat, wusste er aus Erfahrung, dass die Vi­deoaufnahmen zwar deutlich besser die Stimmung und Ge­fühle beflügeln als die reine Visualisierung mittels der eige­nen Erinnerung. Aber an das Ausführen des Aktes so­zusa­gen live kommt das nicht heran. Die Motivation zu er­mitteln, die Opferung dreimal durch­zuspielen, ist jedoch kei­ne unserer vorrangigen Fragen.“

„Da haben Sie sicher Recht“, sagte Schwarz. „Helfen Sie mir, ihn herumzudrehen?“

Sarah und Thomas traten an den Tisch, wo Schwarz den To­ten bereits vorbereitete. Als ob er ihn in eine stabile Sei­tenlage bringen wollte, drehte er den Leichnam erst am Be­cken und schob den rechten Arm so weit, wie es ging, da­runter. Dann winkelte er das linke Bein an, platzierte die lin­ke Hand rechts neben dem Hals und hebelte ihn mit dem angewinkelten Bein über den rechten Arm. Sarah führte den Kopf, Thomas zog den Arm unter dem Körper hervor.

„Oha!“, ließ Schwarz verlauten. Das ist interessant!“

Die beiden Polizisten blickten sofort auf den Toten, um he­rauszufinden, was Schwarz‘ Aufmerksamkeit auf sich gezo­gen hatte. Sarah erkannte gleich, was er meinte.

„Da ist ein Stich rechts neben der Wirbelsäule“, sagte sie. „Und ich wage zu behaupten, dass dies der erste ist. Der Tote hat nicht vergessen, für den nächsten Take die Kamera ein­zu­schalten. Unmittelbar nach der letzten Aufnahme hat sich die junge Frau den Dolch gegriffen, der neben ihr in dem Al­tar steckte und ihn damit von hinten angegriffen. Er hat sich ver­letzt herumgedreht und dann wurden ihm die zahl­rei­chen Stiche von vorne beigebracht. Ist die Wunde tief?“

Schwarz nahm wieder sein Besteck zur Hand.

„Allein an der Breite kann ich sehen, dass sie die komplette Klinge versenkt hat. Und da sind auch die beiden Abdrücke der Kugeln“, sagte er vorab. Vorsichtig schob er den Mess­stab in die Wunde.

„Ja, sogar ein bisschen tiefer, als die Klinge lang ist. Da hat sie mit großer Wut zugestochen. Und das weiche Gewebe unter dem Rippenbogen hat nachgegeben, so dass sie die Klinge, nachdem das Heft am Körper aufsetzte, noch ein Stück weiter hineintreiben konnte. Richtung und Winkel nach hat sie da schon die Lunge perforiert.“

„Tapferes Mädchen“, entfuhr es Sarah.

„Ja, eine so schmächtige junge Frau, die sogar noch unter Drogen stand, muss schon einen ziemlich starken Willen auf­gebracht haben, um einen ausgewachsenen Mann zu über­wältigen. Aber klar: Als ihr Peiniger nach dem ersten Stich in den Rücken noch stand und sich herumgedreht hat, wird sie in Panik auf ihn eingestochen haben. Deswegen auch die hohe Anzahl der Stiche.“

„Wie dem auch sei“, sagte Thomas, „was die Ereignisse von letzter Nacht angeht, sehen wir schon deutlich klarer. Aller­dings nicht, was die Identifizierung angeht. Was sagten Sie? Einheimischer?“

„Womöglich der Inhaber der Hütte?“, warf Sarah ein. „Liegt doch sehr nah. Schließlich war das keine herunter­gekom­me­ne Ruine, sondern ein funktionelles Blockhaus in einem gu­ten Zustand. Und wer sonst könnte so etwas über einen längeren Zeitraum und ohne die Gefahr, überrascht zu wer­den, nutzen, als der Besitzer oder Pächter?“

„Wer das ist, werden die Kollegen vielleicht schon heraus­ge­funden haben“, meinte Thomas und zog sich die über­langen Gummihandschuhe aus. „Vielen Dank, Herr Doktor, Sie haben uns mal wieder sehr geholfen!“

Der Rechtsmediziner lächelte.

„Ist mir immer wieder eine Freude!“

Und? Konnten Sie etwas von dem Mädchen erfahren?“, fragte Thomas Bierman Melanie Escher.

Die Mitarbeiterin des Jugendamts sah übermüdet aus. Ihre Augen waren leicht gerötet, das Haar unfrisiert und sie trug auch noch dieselbe Kleidung wie tags zuvor. Es war klar, dass sie seit dem Zusammentreffen mit ihrer jungen Schutz­befoh­lenen dieser nicht von der Seite gewichen war. Ein zwei­­tes Essenstablett auf dem Besuchertisch und die darauf befindlichen Packungen von Automatensüßigkeiten bestä­tig­ten ebenfalls diesen Ein­druck. Langsam wandte sie den bei­den Polizisten das Gesicht zu, und bevor sie etwas sagen konnte, schob Sarah ein Guten Morgen, Frau Escher. Wie geht es denn der Kleinen und wie geht es Ihnen zwischen. Sie wollte keinesfalls auf derselben Stufe der Sozialkompe­tenz wahr­genommen werden, wie ihr zuweilen ruppiger Part­ner. So konnte sie der Sozialarbeiterin auch ein müdes Lächeln ent­locken.

„Guten Morgen, Frau Hansen, Herr Bierman. Lassen Sie uns kurz auf den Flur gehen“, schlug sie vor.

Thomas und Sarah folgten ihr durch die Tür, die sie offen­ließen, damit die Patientin sie noch sehen konnte.

„Ihr geht es physisch gut“, knüpfte Escher an die Frage an. „Die Unterkühlung ist schad­los über­standen. Blutdruck, Blut­werte et cetera sind allesamt in einem ordentlichen Bereich. Aber, um auf Ihre Eingangs­fra­ge zurückzukommen, gesprochen hat sie bisher nicht. Die Psy­chi­aterin hat einige vorsichtige Versuche mit ihr ge­macht. Zeichnungen, Pikto­gramme, Fotografien und so. Auf Bilder von kleinen Tieren hat sie mit ver­haltenem Lächeln reagiert, auf ein Foto von einem Christ­baum mit leuchtenden Augen. Wir dürfen also anneh­men, dass sie im christlich geprägten Umfeld aufge­wachsen ist. Auf Bilder von Men­schen hat sie nicht wahr­nehmbar rea­giert, sondern ist in der Lethargie ver­harrt, die Sie ja kennen.“

Sarah wies auf das Tablett, das noch auf dem Rollschrank neben dem Mädchen stand.

„Hat sie gegessen? Und auf welche Art und Weise, ich meine, ihren Umgang mit Besteck und so weiter.“

Melanie Escher nickte langsam und nachdenklich, bevor sie antwortete.

„Ihr ist der Umgang mit Messer, Gabel und Löffel vertraut. Sie benutzt das Besteck europäisch, nicht wie ein Ame­ri­ka­ner. Sie hat auch Butter, Streichwurst, Käse und das Ei ganz normal zu sich genommen, so wie Sie und ich das auch tun.

„Schön, dass sie die Nahrung nicht verweigert“, stellte Sa­rah diesen Aspekt in den Vordergrund. „Das hätte auch anders sein können!“

„Ja, das ist im Moment das Wichtigste“, bestätigte die So­zial­arbeiterin und fuhr dem rothaarigen Mädchen mit der Hand über den Kopf.

„Hat sich die Psychiaterin schon dazu geäußert, wie wir an das Mädchen herankommen?“, fragte Thomas, dem die Fortschritte in dem Fall wichtiger zu sein schienen.

Escher schüttelte den Kopf.

„Sie hat nichts Konkretes gesagt. Dass sie Zeit brauche, mehr nicht.“

„Können wir denn irgendetwas besorgen? Ein Stofftier viel­leicht?“, wollte Sarah wissen und die Betreuerin nickte dank­bar.

„Ja, das bringt uns zwar nicht unbedingt weiter, aber erhöht möglicherweise ihr Wohlbefinden. Und es ist gut, wenn sie et­­was Vertrautes in ihrer Nähe hat, sollten wir sie in den näch­­s­ten Tagen aus diesem Umfeld herausnehmen. Ich weiß nicht, wie lange sie noch hierbleiben soll, medizinische Grün­de, außer ihres psychischen Zustandes, liegen jedenfalls kei­ne mehr vor.“

„Dann gehen wir doch mal ein Stofftier kaufen.“

Sarah stupste ihren Partner in die Seite.

„Ein großes!“, bat Frau Escher. „Was zum Kuscheln!“

„Okay.“

In diesem Moment kam ein junger Mann im Pflegeroutfit den Gang entlang. Gutgelaunt warf er dem Trio ein Guten Morgen zu, betrat das Krankenzimmer, schnappte sich das Ta­blett vom Gästetisch und brachte es aus dem Zimmer, um kurz darauf wieder zu erscheinen um sich laut pfeifend das zweite Tablett vom Rollschrank zu nehmen. Sarah und Frau Escher bemerkten sofort die Reaktion des Mädchens, die den Pfleger mit offenem Mund anstarrte und mit großen Augen seinen Bewegungen folgte. Und als er wenige Sekunden spä­ter mit einer Flasche Apfelsaft und einem Eis am Stiel zurück in den Raum kam, immer noch die leicht melancholische Melodie pfeifend, nahm auch Thomas wahr, dass sich das Verhalten der Rothaarigen geändert hatte. Ihr Mund war jetzt geschlossen und mit einem Lächeln auf dem Gesicht summte sie ganz leise die Melodie mit! Der Pfleger stellte das Getränk auf den Rollschrank und reichte dem Mädchen das Eis. Er summte nun ebenfalls, grinste die junge Patientin an und machte sich daran, das Zimmer zu ver­lassen.

„Stopp“, hielt ihn Thomas auf und er wählte Lautstärke und Tonfall so, dass es nicht aggressiv herüberkam. Er trat in den Raum.

„Bleiben Sie bitte noch kurz“, bat er den jungen Mann. „Sin­gen Sie weiter. Mit Text, wenn möglich.“

Gleichzeitig klopfte er mit der flachen Hand auf das Fuß­en­de des Bettes. Der Pfleger verstand sofort, wandte sich dem Mädchen zu, lächelte es an und begann, den Blick­kontakt zu ihr herzustellen. Als sie zurücklächelte, setzte er sich auf das Bett und stimmte das Lied erneut an, dies­mal sang er in einer den anderen Anwesenden unbekannten Spra­che. Das Mäd­chen wiegte den Kopf im Rhythmus und auf einmal sang es ganz leise mit! Niemand wagte, diesen fast innigen, aber fragil wirkenden Moment zu stören, und so sangen die bei­den drei Strophen, bis sie gemeinsam auf ei­nem langen Ton verblieben und das Lied beendeten. Der Pfle­ger fragte das Mädchen etwas in der fremden Sprache, doch sie reagierte nicht darauf. Stattdessen kehrte sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihr Inneres und drehte den Kopf zur Seite.

Thomas wandte sich dem Pfleger zu.

„Verraten Sie mir, was das für ein Lied war und welche Spra­che Sie mit ihr versucht haben zu sprechen?“, flüsterte er dem jungen Mann zu.

„Das ist ein rumänisches Kinderlied. In der Heimat meiner Eltern kennt das jedes Kind“

„Rumänien“, echote Sarah, die mit Melanie Escher ebenfalls das Zimmer betreten hatte. „Die Kleine kommt also aus Ru­mä­nien.“

Die beiden Polizisten, der Pfleger und die Sozialarbeiterin be­trachteten die Patientin, die die Augen geschlossen hatte und leise, kaum wahrnehmbar die Melodie summte.

„Sie sagten, die Heimat Ihrer Eltern“, brach Thomas das Schwei­­­gen. „Sie sind hier geboren?“

„Ja, aber da zu Hause immer Rumänisch gesprochen wurde und meine Verwandtschaft dort lebt, kann ich es ganz gut“, beantwortete der junge Mann gleich die Frage, die Thomas impliziert hatte.

„Sehr gut!“, meinte Thomas. „Dann werden wir nachher mit Ihrer Stationsleitung sprechen. Wir brauchen Sie jetzt, um eine Beziehung zu dem Mädchen aufzubauen. Machen Sie das über Musik, über Kinderbücher oder auf was auch im­mer sie reagiert. Es wird ständig jemand dabei sein, Frau Escher oder die Psychiaterin oder ein Kollege von uns. Wenn sie etwas sagen sollte, oder auf etwas, das Sie sagen, auffällig reagiert, notieren Sie das und teilen es uns mit. Herr?“

Der Mann deutete auf sein Namensschild.

„Dumitru“, sagte er. „Sie können mich aber gerne Li­viu nennen.“

„In Ordnung, Liviu“, nahm Thomas den Vorschlag an. „Ha­ben Sie noch rumänische Kinderbücher? Märchen­bücher vielleicht? Oder kennen Sie weitere Kinderlieder?“

Der Pfleger überlegte kurz.

„Ja, ich glaube, ich habe eine Kiste mit Kindersachen zu Hau­se stehen. Da dürfte das ein oder andere Buch ebenfalls da­bei ­sein. Meine Frau ist der Meinung, dass, wenn wir mal Kinder haben, sie von ihren rumänischen Wurzeln et­was mit­be­kommen sollten.“

„Können Sie Ihre Frau bitte anrufen?“, übernahm Sarah von ihrem Partner. „Oder ist sie berufstätig? Es wäre schön, wenn wir zeitnah Sachen haben, mit denen Sie arbeiten können.“

„Sie hat noch Resturlaub. Ich rufe sie gleich an!“

„Ich danke Ihnen!“

Der Pfleger lächelte dem rothaarigen Mädchen ein letztes Mal zu und verließ den Raum.

„Jetzt haben wir den ersten Ansatz in diesem merkwürdigen Fall“, stellte Sarah fest. „Zumindest, was die Identifizierung dieser jungen Dame angeht. Wir werden umgehend mit der rumänischen Botschaft Kontakt aufnehmen.“

Sie sah zu dem Mädchen hinüber, das immer noch seinen Blick auf die Tür geheftet hatte, durch die Liviu gerade ent­schwunden war. Ganz offensichtlich hatte die Musik tatsäch­lich eine Art Verbindung geschaffen.

„Konnten Sie schon ermitteln, was der Kleinen zugestoßen ist? Wessen sie Zeuge wurde?“, fragte Melanie Escher Sarah.

„Wir dürfen Ihnen leider keine Details mitteilen“, antwor­tete die­se. „Aber wir können bestätigen, dass sie Dinge er­lebt hat, die sie definitiv traumatisiert haben dürften. Kein sexu­eller Missbrauch, aber sie hat mehrfach Todesangst durch­­­litten.“

„Mein Gott! Das ist ja schrecklich!“

Escher war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.

„Wurden ihr körperliche Schmerzen zugefügt, die keine Spuren hinterlassen haben?“, fragte sie.

Sarah schüttelte den Kopf.

„Nein, die Misshandlungen waren vorwiegend psychischer Natur.“

Bevor Escher weitere Fragen stellen konnte, öffnete sich die Tür und Liviu betrat wieder den Raum.

„Meine Frau sucht ein paar Sachen zusammen und kommt sofort her“, berichtete er und als er die kleine Patientin an­strahlte, zeigte sich auch in deren Augen ein verhaltenes Leu­ch­ten.

Thomas stand auf.

„Dann werden wir uns jetzt verabschieden. Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt!“

Er und Sarah schüttelten den Anwesenden die Hände und verließen das Krankenzimmer.

Höllenteufel

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