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Kapitel VI
ОглавлениеStefan Wellner stand am Fenster und folgte mit seinen Blicken den Flocken, die im Wind umherstieben, um nach etlichen Kapriolen zu ihresgleichen auf den Boden zu fallen und die dichte, weiße Pracht um ein weiteres winziges Stückchen anwachsen zu lassen. Während er an seiner Богатыри sog und den Rauch mit viel Luft inhalierte, schweifte sein Blick über die friedliche, fast märchenhaft anmutende Parkanlage des Anwesens. Der mittlerweile sicher einen Dreiviertelmeter hoch liegende Schnee verwischte die Konturen der Beete, Sträucher, Bänke und Wege, so dass nicht zu erkennen war, wie verwahrlost sich der riesige Garten tatsächlich darstellte. Die Besitzer des Schlösschens, Wellners Arbeits- und Auftraggeber, hatten kein Interesse daran, ihren Besitz in das preziöse Kleinod zu verwandeln, das es mit ein wenig Aufwand wieder hätte werden können. Eigentlich eine Schande, dachte Wellner, denn er hatte etwas übrig für malerische Plätze. Und man musste weiß Gott kein Fachmann sein, um das Potential dieses abgelegenen Orts zu erkennen. Die Frage, warum eine solche Anlage zehn Kilometer von der nächsten Behausung inmitten der fast mystischen Tannenhaine des Schwarzwalds errichtet worden war, hatte ihn beschäftigt, aber nicht so sehr, als dass er sich die Mühe gemacht hätte, einmal etwas über die Geschichte des Hauses zu googeln. Darüber, warum es perfekt geeignet für die Machenschaften seiner Bosse war, brauchte er nicht lange zu sinnieren. Sein Blick blieb an dem Mercedes G hängen, den er am Vorabend mühsam vom Schnee befreit hatte. Noch war er gut zu erkennen, sollte es aber so weiterschneien, würde es abermals sehr viel Mühe kosten, ihn wieder freizuräumen, ganz zu schweigen von der Auffahrt, die er dank der extremen Offroad Eigenschaften des Gefährtes hatte benutzen können, ohne zuvor die motorgetriebene Schneefräse einsetzen zu müssen. Am besten war es, er überwand seine Unlust, das Haus zu verlassen und machte sich die Mühe, den Mercedes in eine der zahlreichen Garagen zu stellen. Lieber jetzt noch einmal raus in die Kälte und am nächsten Tag ein schneefreies Fahrzeug vorfinden, als in Herrgottsfrühe das Auto auszugraben. Immerhin wurde die Verbindungsstraße regelmäßig geräumt, aber die gut anderthalb Kilometer bis dahin vom Schnee zu befreien, stellte einen nicht zu unterschätzenden Aufwand dar. Die Vorstellung, bei diesem Wetter mehrere Stunden hinter der Fräse herzugehen, nur um das möglicherweise drei Tage später erneut tun zu müssen, missfiel Wellner sehr. Er hatte sogar überlegt, zu einem Baumarkt zu fahren, um den G mit einer Art Sperrholzpflug auszustatten und zweimal am Tag den Weg bis zur Landstraße abzufahren. Aber dies wiederum hätte ein deutlich ausgeprägteres Geschick erfordert als jenes, über das er selbst verfügte, und so hatte er den Gedanken schnell ad acta gelegt.
Ein Holzscheit, der hinter ihm im Kachelofen lautstark knackte, lenkte seine Aufmerksamkeit weg von der winterlichen Landschaft draußen zurück in den Raum, in dem er sich befand. Er trat neben seinen massigen Hochlehner und drückte den Stummel seiner russischen Zigarette in einem Messingascher aus. Dann nahm er sich den Stapel an Reisepässen, der auf dem riesigen Eichenschreibtisch lag, setzte sich in den thronartigen, reich verzierten Stuhl und begutachtete das oberste der Dokumente.
Maria Palijewa, siebzehn Jahre alt. Geboren in Boriwske, Ukraine. Haare mittelblond, Augen blau, Größe 1,69 m.
Das Bild in dem Pass zeigte ein etwa fünfzehnjähriges, auffallend hübsches Mädchen, das unbekümmert in die Linse der Kamera lächelte. Vor seinem inneren Auge sah Wellner die junge Frau, die gemeinsam mit den anderen zwei Ukrainerinnen zwei Stockwerke über ihm in der „Wohnung“ eingesperrt war. Die ungefähr zwei Jahre, die seit Aufnahme des Fotos im Ausweis vergangen waren, hatten Maria reifen lassen, ohne sie ihrer natürlichen Schönheit zu berauben - im Gegenteil!
Wellner atmete tief durch, legte den Pass beiseite und blätterte in dem nächsten.
Daria Kowalewa, dreiundzwanzig. Haarfarbe braun, Augen braun, Größe 1,73. Ebenfalls aus einem Ort in der Ukraine, von dem er nie gehört hatte: Tschuhujiw, etwa vierzig Kilometer südöstlich von Charkiw. Und auch sie ein echter Hingucker, aber das waren sie schließlich alle. Zumindest diejenigen, die seine Bosse als „im fickbaren Alter“ bezeichneten. Dies galt nach Wellners Maßstäben allerdings für das nächste Mädchen nicht:
Tiana Vasileva, dreizehn Jahre alt, Haarfarbe rot, Augenfarbe grün, 1,53. Geboren in Targowischte, Bulgarien. Zu sehr Kind, als dass man von sexueller Attraktivität sprechen könnte. Aber nicht unansehnlich. Und Wellner wusste, dass sie ihrer Haarfarbe wegen eine „Bestellung“ war und der Kunde auch nicht vorhatte, sie wegen sexueller Dienstleistung zu ordern. Oder zumindest nicht ausschließlich. Sein Vorhaben war wohl weitaus perverser, denn er hatte den Full Service gebucht. Dies bedeutete, dass er sie zu gegebener Zeit zurückgeben würde, ohne dass ihr Zustand dabei eine Rolle spielte. Wellner war lange genug im Geschäft, um nahezu vollkommen abgehärtet zu sein, doch in ihrem Fall hatte er einen leichten Kloß im Hals, denn er wusste, dass er das Mädchen vermutlich endgültig entsorgen musste…wie schon so manche junge Frau zuvor.
Nermina Suthampong, die kleine Thai aus Pattaya blickte ihm aus dem nächsten Dokument entgegen, einundzwanzig Jahre jung, 1,56 groß, Haare schwarz, Augen dunkelbraun. Sie war wohl das Mädchen, in das sich Wellner verliebt hätte, wäre sie nicht Ware seiner Auftraggeber gewesen. Die siebenundzwanzig Jahre Altersunterschied hätten ihm nun wirklich nichts ausgemacht! Er warf die restlichen fünf Reisepässe auf den Tisch vor sich, griff zu der Flasche Mineralwasser, schenkte sich ein Glas ein und leerte es in einem Zug.
Wellner wandte seine Aufmerksamkeit einem Stapel anderer Dokumente zu. Dass er Importware entgegennahm, versorgte und bei Laune hielt, um sie bei Abruf weiterzuschleusen, war seinerzeit der Bestandteil der geschäftlichen Abmachung gewesen. Eine Abmachung, die ihm aufgezwungen wurde, nachdem er bei den falschen Leuten Schulden gemacht hatte. Das Modell habe bereits Schule gemacht, er könne durch seine Arbeit den erheblichen Geldbetrag, mit dem er bei den Männern aus Russland in der Kreide stand, recht schnell abarbeiten, sozusagen als eine Art Franchisenehmer. Widerwillig, aber ohne erkennbare Alternative hatte er angefangen, zumeist einzelne junge Frauen bei sich aufzunehmen. In der Regel blieben sie nur einige Tage, bis sie von ebenso unangenehmen Männern wieder abgeholt wurden, wie die, die sie zuvor bei ihm abgeliefert hatten. Nicht nur die Schuldenlast konnte er so bedienen, er bekam auch Spesen, die ihm erlaubten, sein bescheidenes Leben zu finanzieren. Mit der Zeit schien das Geschäft zu expandieren: Die Lieferungen kamen regelmäßiger und öfter. Die Männer waren nach und nach besser gekleidet, und die Fahrzeuge, mit denen die Mädchen gebracht wurden, sahen teurer aus. Als zum ersten Mal zwei junge Damen gleichzeitig bei ihm abgeliefert wurden, hatte er sich getraut, nachzufragen, wann denn seine Schuldigkeit getan sei. Mehr aus Neugier, denn er hatte bereits zuvor darüber nachgedacht, was er wohl tun möge, wenn das auch für ihn immer einträglichere Geschäft eines Tages ein Ende haben würde. Seine Gläubiger hatten dies wohl in den falschen Hals bekommen, denn tags darauf tauchten wieder zwei von den unangenehmeren Typen bei ihm auf und machten ihm klar, dass es vollkommen unerheblich war, ob er noch etwas schuldig sei oder nicht. Er sei mittlerweile Teil der Familie, семья́, wie ihn der Schläger wissen ließ, und als ob ihre physische Präsenz nicht genug Nachdruck verlieh, zog er auch noch zwei Fotos aus der Tasche. Auf dem einen war Wellner mit einer seiner jungen Gäste zu sehen, wie sie zusammen einen Einkaufswagen schoben. Sofia, er erinnerte sich gut an sie. Auf dem zweiten Bild war sie nur schwer zu erkennen und Wellner hatte Mühe gehabt, sie überhaupt zu identifizieren, so übel zugerichtet war sie.
„Sie war erst fünfzehn und wird aussagen, du seist das gewesen, und zwar als du sie zum Sex gezwungen hast“, hatte der Mann ihm mitgeteilt, und auf seinem Sackgesicht, so wie Wellner es beschreiben würde, hatte sich ein breites Grinsen breitgemacht.
„Und außerdem, was willst du, Towarischtsch? Du verdienst doch gut Geld damit, oder?“
Der Gedanke an den darauffolgenden Schlag auf seine Schulter ließ ihn heute noch zusammenzucken. Nicht auszudenken, wenn ihn das Sackgesicht mit seinen kochtopfgroßen Fäusten aufgemischt hätte. Natürlich hatte Wellner seine weitere Mitarbeit versichert und das nicht nur wegen der unverhohlenen Drohungen. Er hatte schließlich längst begriffen, dass er sich des Menschenhandels strafbar gemacht hatte und außerdem war seine Tätigkeit tatsächlich mittlerweile sehr einträglich. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass er seinerzeit ziemlich cleveren Geschäftsleuten auf den Leim gegangen war, die genau wussten, was sie taten und welche Knöpfe sie drücken mussten.
Als sie schließlich nach etwa acht Jahren die Tätigkeiten in das Schlösschen verlegten, hatte er praktisch immer mindestens drei Mädchen zu betreuen, die mitunter auch mehrere Wochen in dem Anwesen verbrachten. Zu diesem Zeitpunkt begannen auch die Partys, bei denen in unregelmäßigen Abständen offensichtlich sehr gut betuchte Gäste auf das Schloss kamen und ein Wochenende lang ihre sexuellen Fantasien ausleben konnten. Nur wenige Monate nachdem Wellners Arbeit in das Schloss verlegt worden war, wurde ihm zum ersten Mal die Aufgabe zuteil, eine junge Frau, die kurz zuvor aus seiner Obhut abgeholt worden war, verschwinden zu lassen. Ein Betriebsunfall, hatte man ihm gesagt, doch da es nicht bei dieser einen bleiben sollte, wurde ihm schnell klar, dass seine семья́ ihr Angebot erweitert hatte und nun die abscheulichsten, perversesten Bedürfnisse ihrer Klientel bediente. Die Bezeichnung full service hatte sich bei der Besprechung in sein Hirn gefressen, bei der er zwei Mitglieder aus der Führungsriege kennenlernte. Einen smarten Businessman, der rein äußerlich eher ein Oligarch zu sein schien als ein Mitglied der russischen Mafia. Und eine ebenso wirkende Russin, atemberaubend schön, vielleicht Mitte dreißig, die so eiskalt über Ware, Termine und Service sprach, dass es selbst den mittlerweile abgebrühten Wellner anekelte und er sich fragte, wie eine Frau derartig grauenvolle Taten an anderen Frauen nicht nur zulassen, sondern sogar organisieren konnte. Zu diesem Zeitpunkt war er so tief verstrickt in die Machenschaften und verdiente so viel Geld, dass an ein Aufhören nicht mehr zu denken war – selbst wenn sich dann und wann der zarte, schwer zu hörende Ruf eines noch rudimentär vorhandenen Gewissens bei ihm regte.
Der Ordner, den er jetzt aufgeschlagen vor sich gelegt hatte, stand für eine zweite Änderung in dem geschäftlichen Gebaren. Waren in den ersten Jahren nur Frauen aus dem Osten hergebracht worden, gelegentlich auch aus asiatischen Ländern, wurden seit geraumer Zeit zusätzlich Mädchen und Jungen in dem Anwesen untergebracht, die aus mittel- und westeuropäischen Staaten stammten und nach der hiesigen Zwischenstation ihren Weg in andere Länder nahmen, vorwiegend in den Nahen Osten, aber auch nach Russland und Nordamerika. Die Anzahl der Bestellungen gezielter Phänotypen war im Laufe der Zeit deutlich gestiegen. Und um genau solch eine Bestellung handelte es sich bei dem Ordner, dessen Inhalt er jetzt vor sich ausbreitete. Genauer gesagt war diese Akte schon weit in der Bearbeitung vorangekommen, denn einer der Beschaffer hatte bereits ein Opfer ausgespäht, das den Kriterien entsprach. Die Beschaffer waren Männer und Frauen, deren echte Namen nur Wellner kannte. Die Kommunikation lief über Prepaidhandys, die nach jedem Einsatz vernichtet wurden, und zu Gesicht bekam er sie nur bei der Übergabe von Unterlagen oder der Ware. Diese Übergaben fanden an unterschiedlichen Treffpunkten statt und Wellner wusste, dass die Beschaffer keine Ahnung von der Existenz dieses Anwesens hatten. Genausowenig wie die Schleuser, die die Mädchen oder – wie in diesem Fall – Jungs, an anderer Stelle entgegennahmen, um sie ihrem Ziel näher zu bringen. Näher bringen deshalb, weil auf dieser Reise mindestens zweimal eine Übergabe stattfand. Wellner hatte sich seinerzeit überlegt, warum dieses Risiko eingegangen wurde, doch irgendwann hatten es ihm seine Chefs erklärt: Zum einen wurde dadurch deutlich erschwert, dass nach einer Verhaftung am unteren Ende des Netzwerks die Verbindungen zu den Köpfen und Auftraggebern verfolgt werden konnte. Zum anderen solle erreicht werden, dass jeder Mitarbeiter auf genau seinem Gebiet spezialisiert ist – was die genaue Ortskenntnis mit einbezog. So kannte jeder Einzelne Risiken und Vorteile bestimmter Streckenabschnitte und konnte gegebenenfalls schnell über Alternativrouten entscheiden. Diese Erklärungen leuchteten Wellner immer noch ein. Aber auch horizontal war das Netz vor Aufdeckung bestens abgesichert, so musste er selbst dafür sorgen, dass die Beschaffer, die sich untereinander nicht kannten, niemals treffen durften. Die Prepaid Handys, die er stets zugeschickt bekam, durften auf keinen Fall in dem Schlösschen und im Umkreis von dreißig Kilometern eingeschaltet werden. Sollte einmal ein Handy in die Hände der Ermittlungsbehörden fallen, war so sichergestellt, dass eine nachträgliche Auswertung der Verbindungen und der Funkzellen nicht in die Nähe des Hauses führen würde. Überhaupt war er verpflichtet, für die mobile Kommunikation jedes Mal unterschied-liche Stellen aufzusuchen, was einen erheblichen Fahrauf-wand bedeutete. Aber so konnte man die Polizei im Fall der Fälle zuverlässig vom Verteilerzentrum, wie er seinen Wirkungsbereich nannte, fernzuhalten. Das Anwesen und seine Person stellten natürlich grundsätzlich einen sehr sensiblen Knoten dar, deswegen waren die Versicherungen seine Loyalität betreffend auch entsprechend scharf gewählt.
Die Bilder des Jungen, die er vor sich ausgebreitet hatte, zeigten ein etwa zwölfjähriges Kind mit strohblonden Haaren und riesigen, auffallend blauen Augen. Die Fotos, offensichtlich mit einem starken Teleobjektiv aufgenommen, ließen erkennen, dass der Junge von zarter Statur war, was sich auch in den feinen Gesichtszügen widerspiegelte. Es musste wohl die androgyne Ausstrahlung sein, die den Auftraggeber ansprach, vermutete Wellner, der wusste, dass dieser Junge für einen Kunden aus Saudi Arabien ausgesucht worden war. Wellner langte in die Brusttasche seines Hemdes, fischte die Packung Богатыри heraus und zündete sich eine der Zigaretten an. Packung und Benzinfeuerzeug warf er auf den Tisch. Innerhalb der nächsten zwei, drei Tage sollte Juri des Jungen habhaft werden, dann würden sie sich auf einer abseits gelegenen Straße weitab einer Behausung treffen und die Übergabe veranstalten. Das Prepaid Handy hatte er bereitgelegt. Um sechzehn Uhr war eines der Zeitfenster, um mit Juri Kontakt aufzunehmen. Sollte er dies nützen, würde er das Mobiltelefon irgendwo auf einem Parkplatz im Südschwarzwald einschalten und fragen, ob Juri schon bereit sei, die Ware zu übergeben. Bewusst hatte man einfachste Seniorenhandys gewählt, die weder über GPS verfügten noch in der Lage waren, über Schnickschnack wie Skype, Massenger oder WhatsApp zu kommunizieren. Wellner trat wieder ans Fenster. Vor seinem inneren Auge sah er sich mit Schneeschaufel und Sandblechen bewaffnet Wege ebnen, um mit dem Wagen eine Stelle im Nirgendwo aufzusuchen, nur damit er das Telefonat führen konnte. Missmutig blickte er auf das Handy. Hier würde er es gemäß den Anweisungen keinesfalls einschalten! Aber sein Entschluss stand fest. Er würde heute keinesfalls mehr das Haus verlassen. Der nächste Termin für ein Telefonat wäre übermorgen. Früh genug, um nachzufragen, wann er mit der Übergabe rechnen konnte! Also legte er das Handy zurück auf den Schreibtisch.
Stattdessen nahm er sich aus dem Stapel der Reispässe den thailändischen, klappte ihn auf und betrachtete Nerminas Bild. Mit dem Finger strich er über die Wange und den Mund und begann unwillkürlich, tiefer zu atmen. Und als sich unterhalb seines Gürtels etwas zu regen begann, legte er den Pass auf den Tisch und verließ den Raum in Richtung des Badezimmers.
„Dann wollen wir uns John Doe mal ansehen“, sagte Dr. Schwarz nüchtern und trat an die Kühlfächer. „Schieben Sie bitte mal den Wagen dort herüber?“, bat er Thomas Bierman und öffnete die ihm nächstgelegene Edelstahltür. Der Polizist ging zu dem einige Meter entfernt stehenden Rollwagen, nahm kurz Maß und gab dem Gestell einen wohldosierten Tritt, der es in Richtung des wartenden Rechtsmediziners bewegte. Dieser machte einen Schritt zur Seite und beobachtete gespannt, wo das Gefährt wohl zum Stillstand kommen würde. Er schnalzte anerkennend mit der Zunge, als es exakt vor dem offenen Kühlfach fast genau senkrecht dazu aufhörte, sich zu bewegen. Sarah, die die Szene ungläubig beobachtete, schüttelte nur den Kopf und verdrehte die Augen. Das gezischte Männer war gerade noch laut genug, dass Thomas und der Arzt es hören mussten. Ohne sich davon beirren zu lassen, rückte Schwarz den Rollwagen die letzten Zentimeter zurecht und zog eine mit einem weißen Tuch abgedeckte Bahre auf das Transportmittel. Er schob den Leichnam neben den Obduktionstisch, nahm drei Gummischürzen von einem Kleiderhaken und griff nach einer Packung ellenbogenlanger Handschuhe. Er streckte die Schutzkleidung Sarah und Thomas entgegen.
„Wenn Sie mir bitte kurz zur Hand gehen würden?“, bat er, legte sich die verbleibende Schürze um und stülpte sich die Handschuhe über.
„Keine Sorge, der Leichnam ist bereits gewaschen. Es wird also keine allzu große Sauerei, wenn wir ihn rüberheben.“
Thomas nahm eine der Schürzen entgegen, legte sie an und warf Sarah, nachdem sie ebenfalls die Plastikbändel auf dem Rücken zu einer Schleife gebunden hatte, zwei der Handschuhe zu. Sie fing sie geschickt auf und blies, dem Beispiel ihrer Kollegen folgend, erst einmal hinein, bevor sie die Hände und Unterarme hineinsteckte.
„Fertig?“
Sie nahmen Aufstellung an dem Leichnam, Schwarz an den Füßen, Sarah am Kopf und Thomas auf Höhe der Hüfte.
„Auf drei! Eins, zwei, drei!“
Gemeinsam wuchteten sie den Toten auf den Obduktionstisch. Sarah wartete mit dem Ablegen des Kopfes, bis Schwarz eine Art Nackenstütze untergeschoben hatte, dann trat sie neben ihren Partner.
„Genau genommen hätten Sie gar nicht herkommen müssen. Spektakuläres werde ich nicht zu berichten haben. Außerdem sind die Umstände hinreichend geklärt, oder? Nicht, dass ich Ihre Anwesenheit nicht schätze.“
Sarah schmunzelte.
„Sehen Sie keine Krimis? Da tauchen die Ermittler doch auch regelmäßig in der Rechtsmedizin auf, nur um ein Detail zu erfahren, das man auch am Telefon hätte mitteilen können. Wir halten uns einfach an die Klischees.“
Dr. Schwarz lächelte.
„Irgendwann, lieber Bierman“, sagte er, „wird sie Sie an Schlagfertigkeit überbieten. Und ich freue mich schon darauf, das zu erleben.“
Thomas zuckte nur die Schultern und half dem Mediziner, das Laken in Richtung der Füße zu falten und legte es auf einen Beistelltisch.
„Eigentlich ist der einzige Grund für unsere Anwesenheit sicherzustellen, dass Sie als erstes die Fingerabdrücke und eine DNA-Probe nehmen, so dass wir mit der Identifizierung weiterkommen“, frotzelte er, doch Schwarz ging nicht darauf ein. Stattdessen griff er hinter sich, legte ein Diktiergerät neben den Toten und schaltete es ein.
„Obduktion eines unbekannten Toten im Beisein zweier Nervensägen von der Kripo Freiburg. Größe etwa ein Meter fünfundsiebzig, Gewicht zirka achtzig Kilo. Alter zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig.“ Er stoppte die Aufnahme und zeigte auf den Kopf der Leiche.
„Kaukasischer Typ. Sehen Sie die Physiognomie. Ich tippe auf einen Einheimischen. Wenn das kein Schwarzwälder ist! Schauen Sie es sich gut an, das kommt dabei raus, wenn über Generationen…naja, also wenn irgendwann jeder sein eigener Onkel ist. Das liegt daran, dass die ganzen Täler in der Umgebung früher im Winter über Monate vom Rest der Welt abgeschottet waren. Und dafür“, er wies auf den deutlich ausgeprägten Kropf des Toten, „ist der Jodmangel verantwortlich, unter dem die Menschen in dieser Region zum Teil selbst heute noch leiden. Zumindest, wenn sie kein jodiertes Speisesalz im Supermarkt kaufen.“
Sarah, die ihre anfängliche Zurückhaltung abgelegt hatte, beugte sich vor, betrachtete den Leichnam eingehend, musterte dann ihren Kollegen und antwortete:
„Ja, ich verstehe, was Sie meinen.“
Sie lächelte die beiden Männer keck an. Unterdessen schaltete Schwarz das Diktiergerät erneut ein und fuhr fort.
„Multiple Stichverletzungen an der Vorderseite des Torsos. Ich zähle mal die Messerstiche, die zweifelsohne zum Ableben des Mannes geführt haben. Zwo, vier, sechs, acht, naja Nummer Neun und Zehn sind etwas abgerutscht. Aber die zählen noch!“
„Strike“, kommentierte Thomas schamlos und Sarah schüttelte den Kopf.
Schwarz zwinkerte ihr zu.
„Außer den Messerstichen keine Auffälligkeiten an der Vorderseite.“
Er besah sich die Hände und Füße des Toten, prüfte die Beweglichkeit sämtlicher Gelenke und griff wieder zum Mikro.
„Bei äußerer Beschau keine Frakturen oder andere Verletzungen feststellbar.“
Er öffnete den Mund des Toten und leuchtete mit einer Taschenlampe in den Rachen.
„Atemwege sind, soweit von außen einzusehen, frei. Spuren von Blut in den Atemwegen und in der Speiseröhre lassen Verletzung von Lunge sowie Magen durch die Messerstiche vermuten. Und ich sehe Herrn Bierman an, dass er ganz dringend auf die Fingerabdrücke wartet.“
Schwarz bemerkte Sarahs hochgezogene Augenbrauen und meinte:
„Ich bin doch eh der Einzige, der sich das nochmals anhört. Außer meiner Sekretärin natürlich, die das abtippt. Aber sie ist erfahren genug, um den Blödsinn bei der Niederschrift wegzulassen. Das Besteck für die Fingerabdrücke ist da drüben in der obersten Schublade.“
Während der Rechtsmediziner Augen, Nase und Ohren des Verstorbenen untersuchte, holte Sarah das Tintenkissen, den Farbroller sowie ein Klemmbrett, auf dem sich ein Blankoformular für die Abdrücke aller zehn Finger befand. Ohne Schwarz zu behelligen oder Thomas um Hilfe zu bitten, begann Sarah, die Fingerabdrücke des Toten zu nehmen. Schwarz sah ihr einige Momente interessiert zu, blickte schließlich zu Thomas und sagte:
„Gute Frau, die Sie da an Ihrer Seite haben! Daumen hoch!“
Thomas nickte und lächelte seiner Partnerin anerkennend und aufmunternd zu, während Schwarz die Beweglichkeit des Genicks überprüfte. Dann legte er den Kopf wieder ab und diktierte weiter.
„Beweglichkeit des Atlanto-okzipital-Gelenks und der Atlanto-axial-Gelenke liegt innerhalb der Norm und lässt auf keine Verletzung in diesem Bereich schließen. Öffnungen des Caput sind frei und ohne Befund.“
Schwarz trat zu dem Seitenschrank und entnahm diesem einen dünnen Edelstahlstab mit Maßeinheiten sowie einen ebenfalls metallenen Winkelmesser. Den Stab führte er vorsichtig in die unterste der Stichwunden ein. Als sich das Messinstrument nicht weiterbewegen ließ, wandte er sich an Sarah.
„Halten Sie mal bitte?“
Sie tat wie geheißen. Schwarz legte jetzt den Winkelmesser an und las die Skalen ab. Dann schaltete er abermals das Mikro ein.
„Wunde eins im rechten Oberbauch, Tiefe etwa achtzehn Zentimeter, Breite etwa drei Zentimeter, dreiundzwanzig Grad aufwärts geneigt. Vermutlich Perforation der Lunge.“
Er nahm einen Permanent Marker aus der Kitteltasche, umkreiste die Wunde und schrieb eine Eins daneben. Er zog den Messstab heraus und machte sich daran, die zweite Wunde auf dieselbe Art und Weise auszumessen. Nach und nach vermaß und nummerierte er mit Sarahs Assistenz die übrigen Verletzungen, während Thomas seiner Partnerin zusah und es sehr zu schätzen schien, wie unerschrocken und selbstverständlich sie dem Rechtsmediziner zur Hand ging. Als dieser den letzten Kommentar zu den Wunden ins Mikro gesprochen hatte, nahm Thomas die Beweismitteltüte, die den extravaganten Dolch enthielt, aus seiner Aktentasche und reichte sie dem Doktor.
„Nur des Protokolls wegen: Können die Wunden von diesem Dolch hervorgerufen worden sein?“
Schwarz besah sich die Waffe.
„Interessantes Teil!“, sagte er. „Ja, das passt gut. Sehen Sie am Heft ist die Klinge ungefähr die drei Zentimeter breit, wie es die tiefsten Wunden ebenfalls sind. Die weniger tiefen sind auch schmaler, was der konischen Form der Klinge zuzuschreiben ist. Und hier finden sich noch die beiden kugelförmigen Ornamente, die am Ende rechts und links aus dem Heft nach vorne stehen. Die haben bei den tiefen Wunden Spuren hinterlassen. Passt also perfekt.“
„Okay, hatten wir ja vermutet“, bemerkte Sarah. „Wie kann eine etwa ein Meter fünfzig große Person diesem Mann die Verletzungen beigebracht haben?“
Schwarz dachte nach, doch bevor er eine Vermutung aussprechen konnte, ergriff Thomas das Wort.
„Wenn sie auf dem Rücken lag und er auf ihr saß, etwa auf Höhe der Oberschenkel. Würde ein Stich etwa zu diesen Verletzungen führen? Zumindest zu einer oder zwei?“
Schwarz lächelte.
„Reicht es, sich das vorzustellen? Ansonsten…“, er sah Sarah an und wies auf einen freien Obduktionstisch. „Wenn Sie so freundlich wären.“
Auch diesmal zögerte Sarah keine Sekunde, trat an den Edelstahltisch, zog sich hoch und legte sich der Länge nach darauf.
„Worauf wartest du?“, fragte sie Thomas, der kaum merklich mit den Schultern zuckte und sich dann rittlings auf Sarahs Beine setzte.
„Und jetzt tun Sie so, als ob Sie ein Messer in der Hand hätten und stechen Sie zu“, ermunterte Schwarz die amüsiert dreinschauende Sarah. Thomas, dem die verfängliche Position nicht ganz so egal zu sein schien, nickte seiner Partnerin zu. Sarahs Faust landete deutlich über dem letzten Rippenbogen.
„Rutschen Sie noch etwas höher und beugen Sie sich etwas nach vorne“, wies Schwarz Thomas an, der der Aufforderung prompt nachkam. Dieses Mal kam Sarahs Hand der Position der ersten Wunde deutlich näher.
„Und wenn wir zusätzlich in Betracht ziehen“, sagte Schwarz, „dass das rothaarige Mädchen etwa zehn Zentimeter kleiner ist als Sie, Frau Hansen, dann wäre es zumindest im Bereich des Möglichen, dass so die Verletzungen entstanden sind.“
„Zwanzig“, sagte Sarah, während Thomas von ihr herunterstieg. „Ich bin zwanzig Zentimeter größer als das Mädchen.“
„Entschuldigung“, lächelte Schwarz. „Wie dem auch sei, so kann es gewesen sein. Wie kommen Sie auf diese Pose?“
„Wir haben Videomaterial gesichtet, wo er hier“, Sarah wies auf den Toten, „genau diese Position einnimmt und so eine Art Ritual auf Latein durchspielt. Dabei hat er den Dolch auf die Brust des Mädchens gelegt. Ich vermute, diesen Moment hat die Kleine genutzt und sich die Waffe gegriffen.“
Schwarz runzelte die Stirn.
„Aber wie sie zusticht, ist nicht auf dem Video zu sehen?“
„Nein“, schüttelte Thomas den Kopf. „Die Szene ist dreimal auf Band. Offensichtlich hat er ein paar Mal geübt. Und bevor er es richtig machen wollte, ist ihm die Kleine in die Quere gekommen. Warum er ausgerechnet da die Kamera nicht eingeschaltet hatte, ist uns allerdings schleierhaft. Wahrscheinlich hat er es schlicht vergessen.“
Der Rechtsmediziner hob den Zeigefinger.
„Ich denke, er hatte ohnehin vor, es noch einige Male durchzuspielen. Bei dem tatsächlichen Akt, die dem er das Mädchen letztendlich umgebracht hätte, wäre ihm das sicher nicht passiert. Mit dem Üben habe ich meine Zweifel. Vielleicht wollte er den Moment einfach öfters genießen. Ihm musste ja klar sein, dass es, wenn sie tot ist, mit dem Spiel vorbei ist.“
„Trotzdem glauben wir, dass es eher eine Art Übung war“, wandte Sarah ein. „Sonst hätte er das Mädchen nicht betäubt. Hätte er den Kick mehrfach haben wollen, hatte er sie bei vollem Bewusstsein der Tortour unterzogen, ohne sie final zu töten.“
„Die Macht über den lebendigen Leib, den er vor sich hatte, würde ihm ein unglaubliches Gefühl, ein berauschendes Hormonbad bereitet haben, von dem ihm vermutlich bewusst war, dass er es so schnell nicht wiedererlangen konnte“, ergänzte Thomas. „Vergessen wir nicht, bei aller Perversion, der Mann war ein des rationalen Denkens fähiger Mensch. Wenn es nicht das erste Mal gewesen ist, dass er so etwas durchgezogen hat, wusste er aus Erfahrung, dass die Videoaufnahmen zwar deutlich besser die Stimmung und Gefühle beflügeln als die reine Visualisierung mittels der eigenen Erinnerung. Aber an das Ausführen des Aktes sozusagen live kommt das nicht heran. Die Motivation zu ermitteln, die Opferung dreimal durchzuspielen, ist jedoch keine unserer vorrangigen Fragen.“
„Da haben Sie sicher Recht“, sagte Schwarz. „Helfen Sie mir, ihn herumzudrehen?“
Sarah und Thomas traten an den Tisch, wo Schwarz den Toten bereits vorbereitete. Als ob er ihn in eine stabile Seitenlage bringen wollte, drehte er den Leichnam erst am Becken und schob den rechten Arm so weit, wie es ging, darunter. Dann winkelte er das linke Bein an, platzierte die linke Hand rechts neben dem Hals und hebelte ihn mit dem angewinkelten Bein über den rechten Arm. Sarah führte den Kopf, Thomas zog den Arm unter dem Körper hervor.
„Oha!“, ließ Schwarz verlauten. Das ist interessant!“
Die beiden Polizisten blickten sofort auf den Toten, um herauszufinden, was Schwarz‘ Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Sarah erkannte gleich, was er meinte.
„Da ist ein Stich rechts neben der Wirbelsäule“, sagte sie. „Und ich wage zu behaupten, dass dies der erste ist. Der Tote hat nicht vergessen, für den nächsten Take die Kamera einzuschalten. Unmittelbar nach der letzten Aufnahme hat sich die junge Frau den Dolch gegriffen, der neben ihr in dem Altar steckte und ihn damit von hinten angegriffen. Er hat sich verletzt herumgedreht und dann wurden ihm die zahlreichen Stiche von vorne beigebracht. Ist die Wunde tief?“
Schwarz nahm wieder sein Besteck zur Hand.
„Allein an der Breite kann ich sehen, dass sie die komplette Klinge versenkt hat. Und da sind auch die beiden Abdrücke der Kugeln“, sagte er vorab. Vorsichtig schob er den Messstab in die Wunde.
„Ja, sogar ein bisschen tiefer, als die Klinge lang ist. Da hat sie mit großer Wut zugestochen. Und das weiche Gewebe unter dem Rippenbogen hat nachgegeben, so dass sie die Klinge, nachdem das Heft am Körper aufsetzte, noch ein Stück weiter hineintreiben konnte. Richtung und Winkel nach hat sie da schon die Lunge perforiert.“
„Tapferes Mädchen“, entfuhr es Sarah.
„Ja, eine so schmächtige junge Frau, die sogar noch unter Drogen stand, muss schon einen ziemlich starken Willen aufgebracht haben, um einen ausgewachsenen Mann zu überwältigen. Aber klar: Als ihr Peiniger nach dem ersten Stich in den Rücken noch stand und sich herumgedreht hat, wird sie in Panik auf ihn eingestochen haben. Deswegen auch die hohe Anzahl der Stiche.“
„Wie dem auch sei“, sagte Thomas, „was die Ereignisse von letzter Nacht angeht, sehen wir schon deutlich klarer. Allerdings nicht, was die Identifizierung angeht. Was sagten Sie? Einheimischer?“
„Womöglich der Inhaber der Hütte?“, warf Sarah ein. „Liegt doch sehr nah. Schließlich war das keine heruntergekommene Ruine, sondern ein funktionelles Blockhaus in einem guten Zustand. Und wer sonst könnte so etwas über einen längeren Zeitraum und ohne die Gefahr, überrascht zu werden, nutzen, als der Besitzer oder Pächter?“
„Wer das ist, werden die Kollegen vielleicht schon herausgefunden haben“, meinte Thomas und zog sich die überlangen Gummihandschuhe aus. „Vielen Dank, Herr Doktor, Sie haben uns mal wieder sehr geholfen!“
Der Rechtsmediziner lächelte.
„Ist mir immer wieder eine Freude!“
„Und? Konnten Sie etwas von dem Mädchen erfahren?“, fragte Thomas Bierman Melanie Escher.
Die Mitarbeiterin des Jugendamts sah übermüdet aus. Ihre Augen waren leicht gerötet, das Haar unfrisiert und sie trug auch noch dieselbe Kleidung wie tags zuvor. Es war klar, dass sie seit dem Zusammentreffen mit ihrer jungen Schutzbefohlenen dieser nicht von der Seite gewichen war. Ein zweites Essenstablett auf dem Besuchertisch und die darauf befindlichen Packungen von Automatensüßigkeiten bestätigten ebenfalls diesen Eindruck. Langsam wandte sie den beiden Polizisten das Gesicht zu, und bevor sie etwas sagen konnte, schob Sarah ein Guten Morgen, Frau Escher. Wie geht es denn der Kleinen und wie geht es Ihnen zwischen. Sie wollte keinesfalls auf derselben Stufe der Sozialkompetenz wahrgenommen werden, wie ihr zuweilen ruppiger Partner. So konnte sie der Sozialarbeiterin auch ein müdes Lächeln entlocken.
„Guten Morgen, Frau Hansen, Herr Bierman. Lassen Sie uns kurz auf den Flur gehen“, schlug sie vor.
Thomas und Sarah folgten ihr durch die Tür, die sie offenließen, damit die Patientin sie noch sehen konnte.
„Ihr geht es physisch gut“, knüpfte Escher an die Frage an. „Die Unterkühlung ist schadlos überstanden. Blutdruck, Blutwerte et cetera sind allesamt in einem ordentlichen Bereich. Aber, um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen, gesprochen hat sie bisher nicht. Die Psychiaterin hat einige vorsichtige Versuche mit ihr gemacht. Zeichnungen, Piktogramme, Fotografien und so. Auf Bilder von kleinen Tieren hat sie mit verhaltenem Lächeln reagiert, auf ein Foto von einem Christbaum mit leuchtenden Augen. Wir dürfen also annehmen, dass sie im christlich geprägten Umfeld aufgewachsen ist. Auf Bilder von Menschen hat sie nicht wahrnehmbar reagiert, sondern ist in der Lethargie verharrt, die Sie ja kennen.“
Sarah wies auf das Tablett, das noch auf dem Rollschrank neben dem Mädchen stand.
„Hat sie gegessen? Und auf welche Art und Weise, ich meine, ihren Umgang mit Besteck und so weiter.“
Melanie Escher nickte langsam und nachdenklich, bevor sie antwortete.
„Ihr ist der Umgang mit Messer, Gabel und Löffel vertraut. Sie benutzt das Besteck europäisch, nicht wie ein Amerikaner. Sie hat auch Butter, Streichwurst, Käse und das Ei ganz normal zu sich genommen, so wie Sie und ich das auch tun.
„Schön, dass sie die Nahrung nicht verweigert“, stellte Sarah diesen Aspekt in den Vordergrund. „Das hätte auch anders sein können!“
„Ja, das ist im Moment das Wichtigste“, bestätigte die Sozialarbeiterin und fuhr dem rothaarigen Mädchen mit der Hand über den Kopf.
„Hat sich die Psychiaterin schon dazu geäußert, wie wir an das Mädchen herankommen?“, fragte Thomas, dem die Fortschritte in dem Fall wichtiger zu sein schienen.
Escher schüttelte den Kopf.
„Sie hat nichts Konkretes gesagt. Dass sie Zeit brauche, mehr nicht.“
„Können wir denn irgendetwas besorgen? Ein Stofftier vielleicht?“, wollte Sarah wissen und die Betreuerin nickte dankbar.
„Ja, das bringt uns zwar nicht unbedingt weiter, aber erhöht möglicherweise ihr Wohlbefinden. Und es ist gut, wenn sie etwas Vertrautes in ihrer Nähe hat, sollten wir sie in den nächsten Tagen aus diesem Umfeld herausnehmen. Ich weiß nicht, wie lange sie noch hierbleiben soll, medizinische Gründe, außer ihres psychischen Zustandes, liegen jedenfalls keine mehr vor.“
„Dann gehen wir doch mal ein Stofftier kaufen.“
Sarah stupste ihren Partner in die Seite.
„Ein großes!“, bat Frau Escher. „Was zum Kuscheln!“
„Okay.“
In diesem Moment kam ein junger Mann im Pflegeroutfit den Gang entlang. Gutgelaunt warf er dem Trio ein Guten Morgen zu, betrat das Krankenzimmer, schnappte sich das Tablett vom Gästetisch und brachte es aus dem Zimmer, um kurz darauf wieder zu erscheinen um sich laut pfeifend das zweite Tablett vom Rollschrank zu nehmen. Sarah und Frau Escher bemerkten sofort die Reaktion des Mädchens, die den Pfleger mit offenem Mund anstarrte und mit großen Augen seinen Bewegungen folgte. Und als er wenige Sekunden später mit einer Flasche Apfelsaft und einem Eis am Stiel zurück in den Raum kam, immer noch die leicht melancholische Melodie pfeifend, nahm auch Thomas wahr, dass sich das Verhalten der Rothaarigen geändert hatte. Ihr Mund war jetzt geschlossen und mit einem Lächeln auf dem Gesicht summte sie ganz leise die Melodie mit! Der Pfleger stellte das Getränk auf den Rollschrank und reichte dem Mädchen das Eis. Er summte nun ebenfalls, grinste die junge Patientin an und machte sich daran, das Zimmer zu verlassen.
„Stopp“, hielt ihn Thomas auf und er wählte Lautstärke und Tonfall so, dass es nicht aggressiv herüberkam. Er trat in den Raum.
„Bleiben Sie bitte noch kurz“, bat er den jungen Mann. „Singen Sie weiter. Mit Text, wenn möglich.“
Gleichzeitig klopfte er mit der flachen Hand auf das Fußende des Bettes. Der Pfleger verstand sofort, wandte sich dem Mädchen zu, lächelte es an und begann, den Blickkontakt zu ihr herzustellen. Als sie zurücklächelte, setzte er sich auf das Bett und stimmte das Lied erneut an, diesmal sang er in einer den anderen Anwesenden unbekannten Sprache. Das Mädchen wiegte den Kopf im Rhythmus und auf einmal sang es ganz leise mit! Niemand wagte, diesen fast innigen, aber fragil wirkenden Moment zu stören, und so sangen die beiden drei Strophen, bis sie gemeinsam auf einem langen Ton verblieben und das Lied beendeten. Der Pfleger fragte das Mädchen etwas in der fremden Sprache, doch sie reagierte nicht darauf. Stattdessen kehrte sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihr Inneres und drehte den Kopf zur Seite.
Thomas wandte sich dem Pfleger zu.
„Verraten Sie mir, was das für ein Lied war und welche Sprache Sie mit ihr versucht haben zu sprechen?“, flüsterte er dem jungen Mann zu.
„Das ist ein rumänisches Kinderlied. In der Heimat meiner Eltern kennt das jedes Kind“
„Rumänien“, echote Sarah, die mit Melanie Escher ebenfalls das Zimmer betreten hatte. „Die Kleine kommt also aus Rumänien.“
Die beiden Polizisten, der Pfleger und die Sozialarbeiterin betrachteten die Patientin, die die Augen geschlossen hatte und leise, kaum wahrnehmbar die Melodie summte.
„Sie sagten, die Heimat Ihrer Eltern“, brach Thomas das Schweigen. „Sie sind hier geboren?“
„Ja, aber da zu Hause immer Rumänisch gesprochen wurde und meine Verwandtschaft dort lebt, kann ich es ganz gut“, beantwortete der junge Mann gleich die Frage, die Thomas impliziert hatte.
„Sehr gut!“, meinte Thomas. „Dann werden wir nachher mit Ihrer Stationsleitung sprechen. Wir brauchen Sie jetzt, um eine Beziehung zu dem Mädchen aufzubauen. Machen Sie das über Musik, über Kinderbücher oder auf was auch immer sie reagiert. Es wird ständig jemand dabei sein, Frau Escher oder die Psychiaterin oder ein Kollege von uns. Wenn sie etwas sagen sollte, oder auf etwas, das Sie sagen, auffällig reagiert, notieren Sie das und teilen es uns mit. Herr?“
Der Mann deutete auf sein Namensschild.
„Dumitru“, sagte er. „Sie können mich aber gerne Liviu nennen.“
„In Ordnung, Liviu“, nahm Thomas den Vorschlag an. „Haben Sie noch rumänische Kinderbücher? Märchenbücher vielleicht? Oder kennen Sie weitere Kinderlieder?“
Der Pfleger überlegte kurz.
„Ja, ich glaube, ich habe eine Kiste mit Kindersachen zu Hause stehen. Da dürfte das ein oder andere Buch ebenfalls dabei sein. Meine Frau ist der Meinung, dass, wenn wir mal Kinder haben, sie von ihren rumänischen Wurzeln etwas mitbekommen sollten.“
„Können Sie Ihre Frau bitte anrufen?“, übernahm Sarah von ihrem Partner. „Oder ist sie berufstätig? Es wäre schön, wenn wir zeitnah Sachen haben, mit denen Sie arbeiten können.“
„Sie hat noch Resturlaub. Ich rufe sie gleich an!“
„Ich danke Ihnen!“
Der Pfleger lächelte dem rothaarigen Mädchen ein letztes Mal zu und verließ den Raum.
„Jetzt haben wir den ersten Ansatz in diesem merkwürdigen Fall“, stellte Sarah fest. „Zumindest, was die Identifizierung dieser jungen Dame angeht. Wir werden umgehend mit der rumänischen Botschaft Kontakt aufnehmen.“
Sie sah zu dem Mädchen hinüber, das immer noch seinen Blick auf die Tür geheftet hatte, durch die Liviu gerade entschwunden war. Ganz offensichtlich hatte die Musik tatsächlich eine Art Verbindung geschaffen.
„Konnten Sie schon ermitteln, was der Kleinen zugestoßen ist? Wessen sie Zeuge wurde?“, fragte Melanie Escher Sarah.
„Wir dürfen Ihnen leider keine Details mitteilen“, antwortete diese. „Aber wir können bestätigen, dass sie Dinge erlebt hat, die sie definitiv traumatisiert haben dürften. Kein sexueller Missbrauch, aber sie hat mehrfach Todesangst durchlitten.“
„Mein Gott! Das ist ja schrecklich!“
Escher war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
„Wurden ihr körperliche Schmerzen zugefügt, die keine Spuren hinterlassen haben?“, fragte sie.
Sarah schüttelte den Kopf.
„Nein, die Misshandlungen waren vorwiegend psychischer Natur.“
Bevor Escher weitere Fragen stellen konnte, öffnete sich die Tür und Liviu betrat wieder den Raum.
„Meine Frau sucht ein paar Sachen zusammen und kommt sofort her“, berichtete er und als er die kleine Patientin anstrahlte, zeigte sich auch in deren Augen ein verhaltenes Leuchten.
Thomas stand auf.
„Dann werden wir uns jetzt verabschieden. Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt!“
Er und Sarah schüttelten den Anwesenden die Hände und verließen das Krankenzimmer.