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ERSTER TEIL

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An einem farbigen Morgen des Monats September 1866 wurden der Adel, die Wohlhabenden, die Bürgerlichen, die Groß- und die Einzelhändler, die Herren mit Hut und die mit Schiebermütze, die Garnisonen und ihre Kommandanten, die Angestellten in den Büros, den Nebenbüros und Unterbüros der Behörden, die nach der Einigung Italiens wütender über Sizilien hereingebrochen waren als ein Heuschreckenschwarm, plötzlich und ziemlich unwirsch von einem grauenhaften Stimmengewirr, von Schüssen, Wagengerassel, schnaubenden Tieren, Laufschritten und Hilferufen aufgescheucht.

Drei- bis viertausend bewaffnete Bauern der Landstriche um Palermo, die zum großen Teil von ehemaligen Anführern militärischer Abteilungen des Garibaldinischen Feldzugs kommandiert wurden, stürmten die Stadt. Im Handumdrehen kapitulierte Palermo, fast ohne Widerstand: den Bauern schloß sich dann noch das einfache Volk an, und gemeinsam brachen sie einen Aufstand los, der zunächst unbezähmbar schien.

Doch nicht alle Bewohner von Palermo waren überrascht. Die ganze Nacht über waren diejenigen aufgeblieben und hatten Wache gehalten, die darauf warteten, daß sich ereignen würde, was sich ereignen mußte: die Priester in den Sakristeien, die Mönche und Nonnen in den Klöstern, ein paar nostalgische, reaktionäre Herren von Adel in ihren reichen Stadtpalais. Sie waren es, die diesen Aufstand ausgelöst hatten, den sie »republikanisch« nannten. Die Sizilianer aber nannten den Aufstand, mit der Ironie, die oft auch noch ihre tragischsten Geschichten salzt, den der »Siebeneinhalb«, weil diese Erhebung siebeneinhalb Tage gedauert hatte. Und es soll daran erinnert werden, daß »Siebeneinhalb« auch ein harmloses, vergnügliches Kartenspiel ist, das sogar die Kleinen bei den weihnachtlichen Spielrunden mitspielen dürfen.

General Raffaele Cadorna – mit einer Kugel an langer Leine auf die Insel geschossen – schreibt an seine Vorgesetzten, daß der Aufstand unter anderem aufgrund »der beinahe völligen Versiegung der Ressourcen des Öffentlichen Vermögens« entstehe, wobei dieses »beinahe« eine warme Windel ist, ein winziges bißchen Vaseline, um das grundlegende, das stillschweigend gemeinte Konzept einzuführen, daß, wenn die Ressourcen versiegt sind, dies ganz gewiß nicht die Schuld der Ureinwohner sei, sondern die einer unsinnigen Wirtschaftspolitik gegenüber dem Mezzogiorno Italiens.

Für Marchese Torrearsa hingegen, einen Mann der gemäßigten Rechten, sind die Gründe »in der gründlichen Demoralisierung der Massen« zu suchen.

Mazzini, der diese Revolte zwar als »republikanisch« bezeichnete, war zu ihr bereits auf Distanz gegangen: ausgestattet mit einem feinen Gespür für alles, was nach Kirche und Klöstern roch, hatte er seit langem die Überzeugung gewonnen, daß es besser sei, sich von jedem Aufruhr fernzuhalten, der von Weihrauch umwölkt wird.

Aber »du kannst ihn drehen, wie du willst, es bleibt doch immer derselbe Kürbis«, sagt man bei uns in Sizilien. Und tatsächlich antwortet die Regierung mit dem einzigen Wort, das sie seit der Einigung für jeden Aufruhr im Süden anwendet, sei er gerechtfertigt oder nicht: Unterdrückung.

So kommen, wenn auch mit einiger Verspätung, die Truppen, um die Revolte zu unterdrücken. Zwar waren sie mit vernünftigen Waffen ausgestattet, das schon, aber ohne es zu wissen, schleppten sie eine Waffe mit sich, die furchtbarer war als Gewehre und Kanonen, eine schreckliche, eine unsichtbare Waffe.

Mit den Soldaten ging auf der Insel die Cholera an Land, die ihre Ansteckungsherde bereits in anderen Teilen Italiens hatte.

Bis zu diesem Augenblick war man in der Lage gewesen, durch strenge Hafenkontrollen die Übertragungsgefahr fernzuhalten, doch militärische Notwendigkeiten machten diese Kontrollen weniger unerbittlich. Tatsache ist, daß die Cholera im Gleichschritt mit den Truppen vorwärtsdrängte, und auf der Insel fand sie Gelegenheit, sich spannen- und ellenweise auszubreiten: von Oktober 1866 bis August 1867 fanden ungefähr fünfundfünfzigtausend Menschen den Tod.

Dieses Zusammentreffen inspirierte den einen und anderen genialen antiunitarischen Aktivisten auf goebbelsche Weise. Man erfand das gleich für bare Münze gehaltene Gerücht, die Regierung selbst habe diese Ansteckung verbreitet, und zwar in der eindeutigen Absicht, die Sizilianer umzubringen, die den hohen Herren mit ihren Revolten und Forderungen gehörig auf den Geist gingen, und auch, weil, wenn die Erbschaftssteuer nur ein ganz klein wenig angehoben würde, diese Herren mit all diesen Toten einen schönen Batzen Steuergelder einnehmen könnten.

Ein Gutteil der Bevölkerung, die seit der Einigung eine gehörige Unzufriedenheit mit sich herumschleppte, glaubte an diese Version so fest, daß Nino Martoglio sich verpflichtet fühlte, eine zauberhafte Dialektkomödie zu schreiben, ‘U Contra (Das Gegengift), mit einer genialen erfundenen Figur, Don Cosimo Ballaccheri, der hingegen erklärte, warum die Regierung überhaupt nichts damit zu tun habe und seine eigene schrullige Theorie über diese Angelegenheit darlegte.

Die Reichen, die Wohlhabenden, die Adeligen verschwanden innerhalb von so kurzer Zeit von der Insel, wie es einundfünfzig Jahre später nicht einmal die Revolution in Rußland fertig gebracht hatte: einige von ihnen landeten gar in London oder in Konstantinopel. Wer nicht das nötige Kleingeld hatte, um sich davonzumachen, mußte gezwungenermaßen zurückbleiben und sich durch Dörfer und Städte schlagen, unter der ständigen Bedrohung einer Ansteckung.

Wer Bekannte hatte, brachte Frau und Kinder in Häuser von Bauern oder Freunden auf dem Land. Wer dagegen das Glück hatte, ein Landhaus sein eigen zu nennen, war dort verhältnismäßig sicher.

Der vertauschte Sohn

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