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Kintsugi im eigenen Leben

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Zum großen Puzzle des Lebens gehören Enttäuschung, Verlust, Krankheit, Trennung, Zurückweisung, Scheitern, Altern und Tod. Je nach Schwere des Ereignisses können wir kurzzeitige Frustration erfahren oder auch eine lange Phase des Trauerns erleben, sicher ist jedoch: Es schmerzt. Da wir Menschen und keine Roboter sind, werden wir diesem Schmerz nicht ausweichen können. Wir können ihn für eine gewisse Zeit verdrängen, indem wir uns ablenken, betäuben oder ihn mit großer Anstrengung unterdrücken, doch letztlich werden wir nicht darum herumkommen, ihn irgendwann zu spüren, ihn sozusagen »zu Ende zu fühlen«, denn diese Phase wird, wenn es sich nicht um sehr traumatische Erfahrungen handelt, irgendwann vorbeigehen.

Was sich aber zusätzlich zu diesem Schmerz über das Ereignis an sich gesellt, ist etwas, was der Arzt und Psychotherapeut Russ Harris »Realitätskluft« nennt. Mitten in unserem Leben, in dem wir uns eingerichtet haben, tut sich eine Kluft auf zwischen der Realität, die wir gehabt haben oder die wir uns wünschen, und der Realität, mit der wir ungewollt konfrontiert werden. Es fühlt sich an, als würden wir aus einem Traum aufwachen und mit einem Mal erkennen, dass wir leider doch kein Favorit des Schicksals sind, sondern einfach nur ein Mensch, der scheitert, dem übel mitgespielt wird oder dem schwierige Dinge geschehen. Diese Realitätskluft ist wie eine Wunde, die sich in unserem Leben auftut.

Die Wunde ist der Ort,

wo das Licht in dich eintritt.

RUMI

Häufig reagieren wir darauf mit großem Widerstand. Wir hadern vielleicht mit dem Gedanken: »Warum ich? Das Leben ist ungerecht.« Und wüten gegen ein Schicksal, das wir nicht begreifen. Das Leben ist tatsächlich oft nicht fair, es rechnet in einer Währung ab, die wir nicht verstehen: mit unverdientem Pech und unverdientem Glück. Dies widerspricht fundamental unserem starken Bedürfnis, alles, was uns widerfährt, zu kontrollieren. Schließlich haben wir uns Tag für Tag so sehr angestrengt, alles richtig zu machen, und dann passiert etwas derart Verstörendes. Vielleicht hegen wir auch selbstablehnende Gedanken wie »Ich bin es nicht wert, Liebe, Anerkennung und Glück zu erfahren«, empfinden Resignation und Hoffnungslosigkeit. Oder wir geben anderen die Schuld und sehen uns verbittert als Opfer ihrer Rücksichtslosigkeit und Gier. Möglicherweise empfinden wir aber auch einfach Angst und zweifeln daran, dass es einen guten Weg aus dieser Krise geben kann.

Kintsugi lehrt uns, diesem Widerstand, der angesichts solcher Krisen spontan in uns entsteht, nicht zu viel Raum zu geben, sondern offen, akzeptierend und mitfühlend zu reagieren – in dem Vertrauen darauf, dass der Bruch nicht das Ende bedeutet, sondern eine Station auf einer bedeutsameren Reise, die wir in der Situation selbst noch nicht ganz überschauen können. Jetzt gilt es, Pause zu machen und sich die Zeit zu nehmen, sich selbst in einer neuen Weise zu betrachten. Das Leben stellt in dieser Situation Fragen an uns, die uns helfen, unseren weiteren Weg neu zu gestalten: Was habe ich Gutes erreicht, und was möchte ich bewahren? Was ist wichtig für mich? Was fühlt sich falsch an? Was möchte ich nicht mehr erleben, und wovon möchte ich mehr in meinem Leben haben? Was ist mein Geschenk an die Welt? Gibt es etwas Neues, das ich ausprobieren und wagen möchte? Und wohin soll meine Reise jetzt gehen? Es ist diese Auseinandersetzung mit sich selbst, zu der jeder Bruch uns auffordert.

»Wer weiß, wofür es gut ist«, lautete einer der Lieblingssätze meiner Großmutter, die zwei Weltkriege und zwei dramatische Fluchten überstanden hat. Viele Menschen berichten, dass sich ihr Leben nach einer Krise tatsächlich entscheidend verbessert habe. Und auch die Psychologie weiß um den ungeahnten Wert von Brüchen; einer ihrer Gründerväter, C.G. Jung, der sich ausführlich mit östlichem Gedankengut beschäftigt hat, vertrat sogar den Standpunkt, dass sich die Persönlichkeit nicht deshalb entwickelt, weil sie den Nutzen erkennt, sondern nur aus purer Not. »Ohne Leiden kein Glück«, brachte er seine unbequeme These auf den Punkt. Da Menschen dazu neigen, sich in ihrer Komfortzone einzurichten und sich Veränderungen gegenüber widerwillig zu zeigen, vermag nur der Zwang des inneren oder äußeren Schicksals sie in Bewegung zu versetzen. Wer gerade in einer persönlichen Krise steckt, den werden solche Überlegungen nicht wirklich trösten. Aus einiger Distanz betrachtet, können sie aber durchaus Hoffnung auf neue Perspektiven eröffnen.

Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben

gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen,

die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben

und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache

geschrieben sind … Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht

leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen

Tages in die Antwort hinein.

RAINER MARIA RILKE

Denn wenn die Dinge schon so sind, wie wir sie vorfinden – ob uns das gefällt oder nicht –, dann können wir auch den Versuch wagen, das Beste aus ihnen zu machen und sie bewusst zu gestalten. Kintsugi legt die Idee nahe, dass man mit dem Material seines Lebens umgehen kann wie ein Künstler. Françoise Gilot, Ex-Frau von Pablo Picasso und ebenfalls Malerin, schildert in ihrer Biografie Die Frau, die Nein sagt, wie sie damit umgeht, wenn sie sich vermalt hat: Wenn sie einen falschen Strich zieht oder Farbe zu dick aufgetragen hat, müssen diese Teil einer neuen Bildgestaltung werden. Sie werden in das Gemälde integriert und erhalten dabei eine neue Bedeutung. Die Malerin zieht Parallelen zum Leben: »Was gelebt wurde, bleibt und kann nicht weggewaschen werden. Es ist für immer ein Teil von dir, aber am Ende zählt das Ganze, das du daraus machst. Das Leben als Gesamtkunstwerk.«

Ich möchte Sie in diesem Buch einladen auf eine Reise tief hinein in die japanischen Lebenslehren, um zu erforschen, was Kintsugi bedeuten kann. Immer wieder werden wir dabei auch Ausflüge in die westliche Psychologie, Philosophie und Wissenschaft machen, die von jeher nach dem Gold des Kintsugi gesucht haben und manchmal eine Art »Übersetzung« der für uns zunächst doch sehr fremd anmutenden Lebenshaltungen bieten. Die Japaner haben die eigentümliche Neigung, gerade wenn es um die ganz wichtigen Themen der Lebenskunst geht, in Poesie, Symbolen oder Bildern zu sprechen, statt viele Worte zu machen. Diese Vorliebe ist selbst ein Spiegel ihrer Lebenshaltung: Das Eigentliche kann nicht in Worten ausgedrückt, sondern nur erfahren werden. Ich werde mich bemühen, den Zauber des Kintsugi nicht zu zerstören, wenn ich versuche, es auf eher westliche Art zu erklären und praktikable, anwendbare Handlungsschritte abzuleiten. Doch da die Kernbotschaft des Kintsugi darin besteht, dass in allem Unvollkommenen Schönheit gefunden werden kann, hoffe ich, dass Sie auch aus einem nicht perfekten Buch ein wenig Gold für Ihr eigenes Leben mitnehmen werden.

Jede dieser Lebenslehren – Wabi-Sabi, Zen, Ikigai, Kaizen, Yui Māru – hat zahlreiche, äußerst hilfreiche »Werkzeuge« im Angebot, die uns helfen, schwierige Zeiten nicht nur leichter durchzustehen, sondern im Sinne von Kintsugi positiv zu verwandeln. Es handelt sich dabei um heilsame Lebenshaltungen und geistige Herangehensweisen, die sich vielfach bewährt haben und deren Wirksamkeit zum Teil durch wissenschaftliche Studien belegt ist. Gemeinsam bilden sie die Grundausstattung für unsere ganz persönliche Kintsugi-Werkstatt, in der wir unser Leben »reparieren« und golden veredeln können.

Der Philosophie des Wabi-Sabi verdanken wir die ersten beiden Werkzeuge Akzeptieren und Selbstmitgefühl, die in schwierigen Zeiten für emotionale Stabilität und eine liebevolle, fürsorgliche Haltung uns selbst gegenüber sorgen. Aus der weiten, wunderbaren Welt des Zen stammen Achtsamkeit, Stille und Einfachheit, mit deren Hilfe wir unsere Gefühle beruhigen und Klarheit finden können, um Lösungen für unsere Probleme zu finden. Wenn wir uns mit der Vorstellung von Ikigai beschäftigen, suchen wir nach unserem ganz persönlichen Sinn beziehungsweise danach, wofür es sich zu leben lohnt, und das Konzept von Kaizen unterstützt uns, auf einem Weg der kleinen Schritte ins Handeln zu kommen. In Yui Māru schließlich geht es um Zugehörigkeit, um Gemeinschaft, Verbundenheit und ein heilsames Miteinander.

Die Auswahl, die hier getroffen wurde, ist naturgemäß persönlich, da Kintsugi in allererster Linie ein Bild, eine Metapher für einen Veränderungsprozess ist, die mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden können. Jedoch ist die Auswahl alles andere als zufällig: Alle Werkzeuge zusammen bilden einen echten Survival-Kit in schwierigen Zeiten und werden zum Großteil von westlichen Krisenpsychologen empfohlen – auch wenn diese andere Begriffe verwenden. Was die vorliegende Kintsugi-Werkstatt von deren Empfehlungen jedoch unterscheidet, ist die enorme Kraft und Poesie des Bildes. So praktikabel und anwendbar »Methoden zur Krisenbewältigung« sein können, so viel motivierender wirken doch Bilder auf die Psyche.

Machen wir uns also jetzt auf die Reise ins Land der aufgehenden Sonne, um dort das Geheimnis von Kintsugi zu erforschen und unsere eigene kleine Reparaturwerkstatt einzurichten, wo wir unser Leben auf neue, goldene Weise gestalten können.

Kintsugi

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