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Nichts ist perfekt

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Wabi-Sabi lehrt uns eine andere Art, die Welt zu sehen. Die Tiefe verberge sich in der Oberfläche, schrieb der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal einmal, und dieser Satz beschreibt den Wabi-Sabi-Blick auf die Dinge. Jeder von uns kennt diesen Blick auf Gegenstände, die einen besonderen Wert für uns haben: die Ledertasche beispielsweise, die erst durch ihre Patina und Gebrauchsspuren Ausstrahlung bekommen hat und uns an die zahlreichen Reisen erinnert, auf denen wir sie dabeihatten; der Teddy, der x-mal genäht und repariert wurde und unsere ganze Kindheit über unser Favorit blieb; der Familienschmuck, längst aus der Mode gekommen, doch angefüllt mit Erinnerungen an wichtige Menschen in unserem Leben. Wenn wir diese Dinge anschauen, sehen wir in der Tat nicht nur ihre Oberfläche, sondern die Geschichten, die sich dahinter verbergen und die sie für uns wertvoll machen. Sie sind im besten Sinne vollkommen unvollkommen.

Wabi-Sabi nährt alles, was authentisch ist, da es drei einfache Wahrheiten anerkennt: Nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen, und nichts ist perfekt.

RICHARD R. POWELL

Die Japanologin Beth Kempton beschreibt Wabi-Sabi als die Fähigkeit, mit dem Herzen zu sehen: In unserem liebevollen Blick auf die Dinge erhaschen wir einen Blick auf das Wesen des Lebens selbst und reagieren intuitiv darauf. Wir lernen, die Vergänglichkeit und Unvollkommenheit der Welt zu akzeptieren und wertzuschätzen. Wir lassen uns von Dingen berühren, mit denen wir täglich zu tun haben und die wir deshalb gar nicht mehr wirklich sehen. Wir betrachten sie, ohne sie verändern zu wollen, und können sie so lassen, wie sie sind. Wir begreifen, dass wir Teil eines Netzes aus vielen Verknüpfungen sind.

Ein solcher Blick auf die Welt ist nicht selbstverständlich, und wir müssen ihn ganz bewusst einnehmen. Im Tai-Chi Chuan schließt man eine Bewegungsform ab, indem man sich ruhig im Stehen sammelt und bewusst die Art des Sehens verändert: Man lässt jeden Fokus los und öffnet seinen Blick weich für alles, was da ist, ohne irgendetwas besonders in Augenschein zu nehmen. Nach etwa einer Minute kehrt man zum normalen Sehen zurück. So in etwa stelle ich mir vor, bewusst seine Perspektive zu verändern. Wenn wir mit einer schwierigen Situation konfrontiert sind, tendieren wir dazu, unseren Fokus ständig darauf zu richten: Wenn wir einkaufen, denken wir an unser Problem; wenn wir uns mit Freunden treffen, sprechen wir über unser Problem; wenn wir spazieren gehen, nutzen wir die Gelegenheit, unser Problem noch einmal ausführlich von allen Seiten zu betrachten …

Indem wir unsere Aufmerksamkeit allein auf die schwierige Situation richten, lassen wir zu, dass sie unser ganzes Erleben ausfüllt. Um wieder Kraft zu gewinnen, müssen wir uns Raum geben für alles, was noch da ist und was uns nährt. Denn da ist niemals nur das Problem, da sind auch das neue Projekt, auf das wir gespannt sind, die Einladung von Freunden, über die wir uns freuen, die unerwartete Anerkennung, die uns gerade zuteilwurde. Indem wir unsere Perspektive erweitern und die schwierige Situation als Teil eines größeren Bildes sehen, der von all den positiven Dingen in unserem Leben eingerahmt wird, lösen wir das Problem zwar nicht, doch wir entspannen uns und sind leichter in der Lage, es zu akzeptieren. Und Akzeptieren ist das erste wichtige Werkzeug in unserer persönlichen Kintsugi-Werkstatt. Jeder Coach weiß, dass Änderungen nur möglich sind, wenn Schwierigkeiten akzeptiert worden sind. Andernfalls bleiben wir gefangen in unserem inneren Widerstand.

Kintsugi

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