Читать книгу BÖSE im Bett - Andrea Lieder-Hein - Страница 10
007 Zwei Leichen im Wittmunder Wald
ОглавлениеNormalerweise fühlte Mia Samstagnachmittag eine wunderbare Ruhe in sich. Wochenende, Freunde, frei. An diesem Tag war es anders. Ihre Mutter bereitete noch das Programm der Theatergruppe um 17:00 Uhr vor und ihr Vater steckte mitten in seiner Predigt. Gegen 20:00 Uhr leitete er dann seinen Bläserchor. Der musste ebenfalls vorbereiten werden.
Mia seufzte tief in sich hinein. Kurz nach Mittag hatte sie sich mit Jasper hinter der Leichenhalle getroffen und die schmutzigen Laken in Empfang genommen. Jetzt glaubte sie, war der richtige Moment, sie heimlich zu waschen und später trocken wieder in die Leichenhalle zu legen. Mit zwei Plastiktüten bewaffnet ging sie zügig in den Keller, steckte die zwei feuchten und völlig dreckigen Tücher in die Waschmaschine und betete, dass ihre Mutter sie nicht erwischen würde. Weder beim Waschen, noch beim Trocknen oder Bügeln.
Es war noch immer Mitte Mai und wunderbares Wetter. Die meisten Klassenarbeiten waren geschrieben und die Zeugnisnoten standen praktisch fest. Niemand würde die Klasse wiederholen müssen. Niemand, denn sie hatten ja ihr System.
Warum eigentlich hatte Frau Vogelfang mit Nicht Versetzung gedroht? WARUM? Es konnte gar nicht sein. Auch bei einer sechs in der letzten Klassenarbeit. Das ergab höchstens eine schwache vier im Zeugnis.
Oder vielleicht ein Nebenfach, auf das sie nicht geachtet hatten? Musik? Kunst? Sport? Reli? „SCHEISSE“, schrie sie quer durch den Keller, „Warum? Emma? Timm? WARUM?“ Aber niemand antwortete und sie würde es auch nie erfahren.
***
Als die Glocken am Sonntag gegen zehn Uhr zum Gebet in der Lutherkirche in Waddehörn läutete und sich die Gläubigen auch aus Upmeer und Ikenbargen auf den Weg machten, klingelte zur gleichen Zeit im Polizeikommissariat Wittmund das Telefon. Ein aufgeregter Jogger berichtete von zwei Leichen in der Nähe vom Wittmunder Wald. Bei den Weiden. Zwei tote Jugendliche, die sein Irischer Wolfshund aufgespürt haben sollte. „Jugendliche, in einer zerfallenen Hütte am Weidenweg“, wie er sagte.
Ein Wagen mit zwei Beamten fuhr sofort zu der angeblichen Fundstelle. Hauptkommissar Egon Reisig fuhr zunächst die B210 entlang und schüttelte den Kopf. „Ich mache jetzt hier seit über 20 Jahren Dienst, da gab es auch schon mal eine Leiche. Aber zwei, an einer Weide, in einer alten Hütte? Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.“
Jana Drexeler hatte sich gerade erst ein paar Tage eingelebt im Kommissariat. So richtig heimisch fühlte sie sich noch nicht, aber Kommissar Nils Lindström war echt niedlich und Hauptkommissar Reisig half ihr auf nette Art bei jeder Frage.
Nun war sie gespannt auf den Einsatz. Aber zwei Leichen, das erschreckte sie schon sehr. Und dann sollten sie noch so jung sein. Kinder oder Schüler, hatte der Jogger gestammelt.
Wenige Minuten später erreichten die Polizisten den Jogger am Weidenweg. Er hielt seinen Irischen Wolfshund an der Leine und sah erbärmlich aus. „Da, gleich dahinten. In der zerfallenen Hütte. Ein Junge und ein Mädchen. Sehen aus wie ein Liebespaar, aber so kalt, so weiß im Gesicht. Und so jung.“
Der Fundort war bereits abgesperrt, die Spurensicherung am Werk und der Gerichtsmediziner unterrichtete Reisig über die bisher gewonnenen Fakten.
Reisig notierte sich die wichtigsten Ergebnisse und bat den Mediziner, dem Jogger wieder auf die Beine zu helfen.
Ziemlich gestresst zündete er sich danach eine Zigarette an. Er war seit Jahren Nichtraucher, aber bei jedem grausamen Fund rauchte er. Eine Packung bewahrte er deshalb immer im Handschuhfach seines Dienstwagens auf. Diese eine Zigarette half. Jedenfalls sonst. Hier stand er vor zwei Kindern, eng umschlungen, tot in einer zerfallenen Hütte sitzend. Wäre er nicht im Dienst gewesen, er hätte sich jetzt einen Magenbitter gegönnt. So musste die Zigarette reichen.
***
Polizeirat Malte Burmeester schaute ernst drein. „Gleich zwei? Kinder? Schon irgendwelche Fakten?“
„Es ist Wochenende. Die Leichen werden obduziert, vor Anfang der nächsten Woche wird da nichts bekannt sein. Es sind ja auch noch zwei Leichen.“
Reisig räusperte sich. „Bei dem Jungen soll es sich um den 14jährigen Timm Stiemert handeln. Er besucht hier in Wittmund das Gymnasium, Klasse 8. Seinen Eltern gehört die Bäckerei „Mien Moje Bäcker“. Aber bevor wir das nicht genau wissen, benachrichtigen wir niemanden. Da kommt es jetzt auf eine Stunde länger nicht mehr an. Das Mädchen ist wohl auch so alt.“
Burmeester schüttelte den Kopf. „Hat die Kinder denn niemand als vermisst gemeldet? Nach Aussagen der Gerichtsmedizin sind die doch seit Samstag tot. Und zwar gegen zwei Uhr in der Früh. Da liegen Kinder in dem Alter normalerweise im Bett. Zu Hause, und nicht in einer zerfallenen Hütte am Wegesrand. Ich würde doch sagen, ich merke, wenn mein Kind zwei Nächte nicht zu Hause ist. Mit vierzehn?“
„Bei uns ging nichts ein“, erwiderte Reisig. „Das Mädchen starb übrigens schon gegen zwei, der Junge erst nach vier. Aber da fehlen noch genauere Temperatur-Messungen am Fundort. Die Spurensicherung ist extrem schwierig, weil es so gegossen hat in der Nacht zu Samstag. Das Dach ist defekt, da hat es nur so reingeschüttet.“
Um die Mittagszeit stand fest, dass es sich tatsächlich um Timm Stiemert und die ebenfalls 14jährige Emma Tews handelte. Neben den Toten wurden zwei nach Alkohol riechende Cola-Flaschen sichergestellt. Äußerungen wie Koma Saufen oder Alkoholvergiftung machten schnell die Runde unter den Beamten.
Jana Drexeler hatte ein flaues Gefühl im Magen, als die beiden Polizisten an der Tür von Emmas Mutter klingelten. Das grau verputzte Reihenhaus ließ keinerlei Schlussfolgerung auf deren Anwohner zu, also warteten die zwei, wer da öffnen möge. Emmas Mutter, Frau Tews, war mittelblond, schlank und verhärmt. Wahrscheinlich war sie erst Mitte, Ende dreißig, aber bei einer Altersangabe von fünfzig hätte sich auch niemand gewundert.
„Ja?“
„Hauptkommissar Egon Reisig und meine Kollegin Jana Drexeler. Dürfen wir kurz reinkommen?“
„Warum? Hat Emma was ausgefressen?“
„Nein, aber hier hören uns alle zu. Sollen wir nicht doch..?“
Ohne ein Wort zu sagen schlurfte Frau Tews in die Wohnung zurück. Die Beamten folgten ihr. Es ging in die Küche. Dort stand ein Pott mit Kaffee auf dem Tisch, daneben lag die Bild am Sonntag. Der Rest der Küche wirkte eher freudlos. Keine Blume, keine persönlichen Sachen, keine Fotos von Emma.
„Wenn Sie was von Emma wollen, die ist bei Freunden. Freitag Geburtstag feiern. Kommt heute Abend wieder.“
„Wann haben Sie Emma das letzte Mal gesehen?“, fragte Reisig.
„Freitag. Ich hatte meine Migräne, und bin früh zu Bett. Freitagabend war Emma dann zu diesem Geburtstag.“
„Bei wem wollte sie Geburtstag feiern?“
„Namen kann ich mir nicht so merken. Aber es war eine aus der Schule, aus ihrer Klasse.“
„Frau Tews, Ihre Tochter wurde heute früh in der Nähe vom Wittmunder Wald tot aufgefunden. In einer alten Hütte, auf einer Weide. Zusammen mit einem jungen Mann. Hatte Emma einen Freund?“
Emmas Mutter schien die Worte nicht zu begreifen. Sie zeigte keinerlei Reaktion, keine Trauer, keine Tränen. Sie redete einfach weiter, als ob Reisig ihr verraten hätte, dass die Spargelsaison endgültig vorbei sei.
„Einen Freund? Nein. Emma ist vierzehn. Sie ist in ihrer Klasse beliebt. Eine gute Klassengemeinschaft. Die Tochter vom Pastor hilft auch mal, wenn Mitschüler nicht so können. Die ist gut in der Schule.“
„Kennen Sie Timm Stiemert?“
„Wie gesagt, Namen kenne ich nicht. Vielleicht, ich weiß es nicht.“ Sie griff nach dem Kaffeepott und trank mehrere Schlucke.
„Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Oder sollen wir jemanden benachrichtigen?“, fragte Jana Drexeler besorgt.
„Warum soll mit mir was nicht in Ordnung sein? Nein, alles ist gut. Emma ist in guten Händen.“
***
Danach fuhren die Beamten zu Timms Eltern. In der Bäckerei erfuhren sie, dass Herr und Frau Stiemert selbst hinter der Theke standen. Zwei weitere junge Damen bedienten, denn neben Brot, Gebäck und anderen Leckereien konnte man dort auch frühstücken. Eine Besonderheit waren die frischen Eier aus der Auricher Region, die am Tresen für alle sichtbar in einem Weidenkorb lagen und für Rührei und Spiegelei immer frisch vor den Augen der Gäste gebraten wurden.
Mehrere Menschen standen wartend an der Theke oder saßen in den gemütlichen Sitzecken im Café. Sonntags war bis 16 Uhr geöffnet. Da kamen viele nach der Kirche noch schnell auf ein zweites Frühstück oder einen Cappuccino vorbei.
Hauptkommissar Reisig räusperte sich und bat das Ehepaar einen Moment in eine ruhige Ecke des Hauses. Vater Stiemert ging voran in die im gleichen Haus gelegene Wohnstube. Auch hier roch es fantastisch nach Brot. Ganz anders als bei Emmas Mutter standen Blumen auf dem Wohnzimmertisch. Auf dem Kaminsims befanden sich mehrere Fotos von Timm und den Eltern.
„Herr Stiemert, ich red’ nicht lange drum herum. Heute Morgen wurde Timm mit einer Mitschülerin zusammen beim Wittmunder Wald in einer alten Hütte bei den Weiden tot aufgefunden.“
Herr Stiemert konnte gerade noch seine Frau greifen, ehe sie zusammen sackte. Danach stieß sie einen markerschütternden Schrei aus, bevor sie schluchzend auf der Erde kauerte und hemmungslos weinte. Reisig griff nach seinem Handy und bat Dr. Möhlmeyer, den diensthabenden Arzt, um Hilfe. Timms Mutter brauchte dringend etwas zur Beruhigung. Herr Stiemert schien etwas gefasster.
„Was ist passiert?“
„Wir wissen das erst genau nach der Obduktion, Anfang der Woche. Haben Sie Timm nicht vermisst?“
„Timm wollte zu einer Geburtstagsfeier am Wochenende. Er erzählte, er wolle sich mit ein paar Kumpels treffen und zwei Nächte zusammen verbringen. Freitag nach der Schule sollte es losgehen. Eine Fahrt nach Spiekeroog. Das Geburtstagsgeschenk eines Freundes. In eine Wohnung dort, mit Eltern.“
„Wem gehört die Wohnung auf Spiekeroog?“
„Rupert, dem Rechtsanwalt Sohn. Rupert Wrege. Die haben eine Wohnung auf Spiekeroog. Da war Timm schon öfter mal mit.“
„Hatte Timm eine Freundin?“
„Nie im Leben. Er war ja gerade erst vierzehn und fand Weiber blöd, wie er immer sagte.“
Inzwischen hatte Dr. Möhlmeyer die Bäckerei erreicht und versorgte die immer noch wimmernde Mutter von Timm.
„Wie verschieden die Menschen auf den Tod von Verwandten reagieren“, wunderte sich Kommissarin Drexeler. „Ich hab schon alles gesehen“, nickte Reisig.