Читать книгу Operation Terra 2.0 - Andrea Ross - Страница 6
ОглавлениеTiberia, etwa 1 TUN nach Rückkehr der Jehova Suspension
Die Mitteilung auf Gabriels Kommunikator stammte aus der Sektion Ideologie und Bildung. Es sei eine Frau an ihrem Arbeitsplatz plötzlich ohnmächtig zusammengebrochen; die Ursache dafür liege bislang noch im Dunkeln, hieß es in der gebotenen Kürze.
Der alternde Mediziner überlegte nicht lange, bestätigte den Erhalt der Nachricht und meldete sich spontan freiwillig zu diesem Routineeinsatz.
Freilich, er hätte auch einen jüngeren Kollegen dorthin schicken können – aber schließlich arbeitete sie in genau dieser Sektion. Gabriel gab sich der törichten Hoffnung hin, vielleicht wenigstens einen Blick auf seine Angebetete erhaschen zu können. Seit dem KIN der gemeinsamen Rückkehr nach Tiberia hatte er sie bedauerlicherweise nicht mehr zu Gesicht bekommen.
So schnappte er sich voller Vorfreude seine Ausrüstung und eilte fliegenden Fußes zum nächstbesten Magnetfahrzeug, um schnell beim Einsatzort anzugelangen. Die bewusstlose Frau schwebte sicherlich nicht in akuter Lebensgefahr … und falls dem wider Erwarten doch so wäre, könnte sie das jüngst verbesserte Modell des Chaktivator, welches er in seinem Fundus mit sich führte, immer noch rechtzeitig reanimieren.
Nein, die außergewöhnliche Eile hing genau wie seine Nervosität vielmehr mit einer gewissen Kalmes zusammen, das musste Gabriel sich unumwunden selbst eingestehen.
Vielleicht jagte er nur traumtänzerisch einem Hirngespinst nach, einem romantischen Wachtraum – aber sooft er sich in der Vergangenheit auch einen verliebten Esel gescholten hatte, war der ernüchternde Effekt ausgeblieben. Gefühle ließen sich eben niemals allein mithilfe der nüchternen Verstandeskraft abstellen. Nicht einmal bei älteren, ansonsten recht disziplinierten Herren, die es eigentlich besser wissen sollten.
Kalmes, die einstige Gefährtin von Solaras beziehungsweise Jesus … ihm war zu Ohren gekommen, dass man die Liebenden auf Alannas Geheiß getrennt und in ihre jeweiligen Sektionsbereiche zurückverbannt hatte. Es war auf Tiberia eben üblich, die Kommunikationswege jedes Einzelnen streng zu kontrollieren. Nicht einmal Mediziner durften sich frei überall hinbegeben – es sei denn temporär, sofern sie zu einem Notfall gerufen wurden.
Konnte ihm dieser Wink des Schicksals womöglich nach all den TUN des vergeblichen Hoffens die lang ersehnte Chance bieten, endlich ihr Herz zu gewinnen? Gabriels Kreislaufsystem schlug während dieses kühnen Gedankengangs besorgniserregende Kapriolen, ließ ihn vor lauter Aufregung hyperventilieren. Es fehlte nicht viel, bis er selbst einer Behandlung bedurft hätte.
Als er beim Parkareal des fremden Sektionsgeländes angelangt war, setzte er das kleine Magnetfahrzeug versehentlich gegen das noch nicht vollständig zurückgeglittene Schwebetor, welches das Gelände von der öffentlichen Magnetpiste trennte. Der überwältigende Anblick eines wahrhaft monumentalen Neubaus hatte ihn total abgelenkt, seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.
Der staunende Mediziner stellte das nur leicht beschädigte Fahrzeug achtlos auf einer hierfür markierten Fläche ab, wo es augenblicklich rundherum gescannt, von einem magnetischen Greifarm in Empfang genommen und vollautomatisch zur nächstgelegenen freien Parkbox verschoben wurde. Dort zeigte ein leuchtend roter Balken an, dass dieses Magnetmobil derzeit aufgrund eines Defekts nicht einsatzfähig war.
Wer auf Tiberia ein Fahrzeug benutzen wollte, musste sich stets mit dem Abdruck seines rechten Daumens identifizieren, bevor er überhaupt den Startknopf betätigen konnte. So stand der jeweils letzte Fahrer fest, falls es während der Fahrt zu einem Unfall kam.
Das System würde Gabriels Vorderstem nun also die standardisierte Meldung zusenden, dass sein Untergebener heute einen ärgerlichen Schadensfall zu Lasten der Gemeinschaft verursacht hätte. Was jenen unachtsamen Fahrer allerdings kaum bekümmerte, denn mehr als einen Rüffel konnte er sich hierbei nicht einhandeln.
Spätestens am Abend würde das Fahrzeug sowieso von Kollegen der Sektion Transport und Verkehr abgeholt und über Nacht repariert werden, damit es der Allgemeinheit schon am Morgen wieder zur Verfügung stand. Ein schlechtes Gewissen konnte man sich also getrost ersparen, denn die Mechaniker brauchten schließlich auch eine sinnvolle Beschäftigung.
Gabriels letzter Besuch in diesem Sektionsbereich lag bereits zwei oder drei TUN zurück, und dazwischen lag zumindest für ihn ja auch noch der lange Terra-Aufenthalt, welcher mehr als 30 terrestrische Jahre gedauert hatte. Dennoch, die zwischenzeitlichen Veränderungen waren unübersehbar.
Das bootsförmige Hauptgebäude der Sektionsverwaltung erhob sich nahezu unverändert aus dem Morgennebel. Doch anstelle der flachen Seitenarme zur Linken und Rechten, wo sich früher Schlafsäle, Speiseräume, Spielzimmer und Sporthallen befunden hatten, ragten nun mehrstöckige Gebäude in Pyramidenform in die Höhe. Die semitransparenten Fassaden dieses Prachtbaus waren vollständig mit matten Plantolaanplatten verkleidet, wobei die warme Farbpalette von Zartgelb an der Basis bis hin zu dunklem Braunorange an der Spitze der Gebäude reichte.
Gabriel stutzte, blieb für einen Moment ratlos stehen. Wo befanden sich hier eigentlich die Schulungsräume? Er würde jemanden danach fragen müssen, denn dort wartete seine Patientin auf ärztliche Behandlung.
»Wo willst du denn hin? Kann ich weiterhelfen?«, riss ihn ein halbwüchsiges blondes Mädchen aus seinen Grübeleien.
Natürlich, die kühle gelbgrüne Farbe seines Gewandes wies ihn als sektionsfremden Besucher aus! Er fiel zwischen all diesen ausschließlich in Gelb oder Orange gekleideten Menschen jedermann auf Anhieb als unpassender Farbtupfer auf, was durchaus so beabsichtigt war. Auf diese Weise gelang es Unbefugten aus anderen Sektionen nicht so ohne weiteres, sich einfach unter die Bevölkerung zu mischen.
»Kannst du mich bitte gleich zum Schulungstrakt bringen? Ich wurde zu einem medizinischen Notfall gerufen und kenne mich hier kaum aus! Ohne dein Auftauchen wäre ich in dieser leuchtenden Pyramidenansammlung glatt verlorengegangen«, erklärte Gabriel lächelnd und tippte vielsagend auf seinen Kommunikator.
»Gerne! Aber zuerst musst du dich ordnungsgemäß bei der Verwaltung anmelden, damit sie dort deine Kennung überprüfen können. Oder eilt dein Einsatz sehr? Dann könnte ich diese Pflicht gerne an deiner Stelle übernehmen!« Die Kleine setzte sich in Bewegung und bedeutete ihm, ihr zu folgen.
»Nein danke, ich erledige das lieber selbst. So viel Zeit muss schon sein!«, lachte Gabriel augenzwinkernd und bekam einige Mühe, mit ihren flinken Beinen Schritt zu halten.
In Wirklichkeit verspürte er natürlich keine gesteigerte Lust, sich vorab mit lästigem Verwaltungskram zu befassen. Doch je länger er sich auf diesem Gelände aufhalten könnte, desto größer wären zwangsläufig seine Chancen, zufällig auf »seine« Kalmes zu treffen. Er kannte deren Tagesablauf als Dozentin nicht und besaß somit keinerlei Anhaltspunkte, wo er gezielt hätte suchen sollen.
Gabriel erledigte hektisch seine Formalitäten und erhielt zu seinem Erstaunen einen wendigen gelben Magnetroller ausgehändigt; anschließend geleitete ihn ein freundlicher Hilfsdozent, der sich in seinen mittleren Lebensjahren befinden mochte, quer durch das Gebäude und hinaus ins Freie.
Wieder fiel es dem Mediziner schwer, einem Angehörigen dieser Sektion in angemessener Geschwindigkeit hinterherzukommen, denn er stellte sich mangels Fahrpraxis mit Zweirädern ein bisschen ungeschickt an. Er wagte es nicht, sich schräg in die Kurven hineinzulegen, sondern eierte steif und reichlich ungeschickt um alle Ecken. Als sein Führer sein eigenes Gefährt endlich abbremste und stehenblieb, atmete er erleichtert auf. Die Quälerei hatte ein Ende.
»Jetzt verstehst du sicher, weshalb wir Älteren diese Dinger benutzen, anstatt zu Fuß zu gehen, nicht wahr? Es würde auf diesem weitläufigen Gelände sonst einfach viel zu lange dauern, von A nach B zu gelangen! Für die Kinder ist das hingegen vollkommen egal, weil die sich noch über jede Gelegenheit zur Bewegung freuen!«, schmunzelte Dozent Yannas und zwirbelte das Ende seines perfekt gestutzten Spitzbartes.
»Das habe ich vorhin schon ganz von selbst bemerkt!«, bestätigte Gabriel und sah sich verwundert um. »Wo befinden wir uns hier? Ist das ein Erholungspark für Pausen oder so etwas Ähnliches? Ich dachte eigentlich, du bringst mich jetzt schnurstracks zu meiner Patientin!«
»Exakt, richtig vermutet. Wir sind nämlich gleich da. Was du hier in deiner unmittelbaren Umgebung bewunderst, ist bereits der Schulungsraum! Siehst du? Weil die umgebenden Gebäude allesamt in gelblichen Farben gehalten sind, wirkt es bei jedwedem Wetter, als würde hier drin das Zentralgestirn ungetrübt leuchten«, grinste Yannas verschmitzt.
Mit externen Besuchern war es immer das Gleiche – keiner bemerkte auf Anhieb die riesige Plantolaan-Kuppel, die den monströsen, zwischen Pyramidenbauten gelegenen »Außenbereich« unauffällig zum vollklimatisierten Innenraum machte. Yannas beobachtete amüsiert, wie sein hagerer Begleiter geradewegs nach oben starrte und offensichtlich kaum fassen konnte, was er da sah.
»Dies ist dank unserer besten Ingenieure eine freitragende Konstruktion, die federleicht wirkt und entgegen der Optik äußerst stabil ist!«, erklärte der Dozent sachlich, als hätte er eine Schar von wissbegierigen Novizen vor sich.
»Und obgleich es hier aussieht, als befände man sich draußen in wilder Natur, ist unter oder stellenweise auch hinter
der Vegetation eine vollständige Ausstattung für Schulungsräume versteckt. Es ist die perfekt gelungene Simulation einer ungezwungenen Atmosphäre, die unserem Nachwuchs das Lernen etwas versüßen sollte, möchte ich meinen! Deine Patientin liegt übrigens im dritten Schulungsgarten hier drüben, wo die ganz Jungen unterrichtet werden.«
Yannas bog um eine tadellos getrimmte Hecke und wies auf etwas leuchtend Gelbes, das verkrümmt auf einer wattierten Decke im Gras lag. Gabriel konnte zunächst nichts Genaueres erkennen, denn die zirka fünfzehn Schüler der bedauernswerten Dozentin standen gestikulierend und schwatzend rings um ihren reglos hingestreckten Körper herum. Ein Mädchen kniete in Kopfhöhe, schien beruhigend auf die Bewusstlose einzureden. Erst als die Kinder den Arzt als solchen erkannten, gewährten sie bereitwillig Platz zum Durchgehen.
»Darf ich um ein wenig Ruhe bitten? Ich möchte eure Do-
zentin untersuchen, damit ich ihr … !«
Gabriel stockte der Atem. Er kannte diese Frau. Und wie er sie kannte! Er liebte sie mehr als sein Leben. Ach was, sogar mehr als alle Lebenden auf sämtlichen bewohnbaren Planeten dieses Universums!
Spätestens in diesem Moment war er felsenfest davon überzeugt, dass hier das Schicksal seine unberechenbaren Finger im Spiel gehabt hatte. Seit seinem Aufenthalt auf Terra glaubte er nämlich fest an Mysterien aller Art, auch wenn er das niemandem offen eingestanden hätte.
*
Terra, Zeit: 13. August 2117 nach Christus, Freitag
Swetlana Emmerson saß erschöpft auf der fadenscheinigen Couch und weinte leise. Ihr zwei Monate alter Säugling lag in einem dick mit Kissen und Decken ausgepolsterten Pappkarton zu ihren Füßen, weil sie sich innerhalb der letzten zweieinhalb Monate seit Geburt ihrer jüngsten Tochter noch nicht hatte aufraffen können, die alte Familienwiege aus dem verstaubten Kellerabteil der Wohnanlage zu holen. Die russischstämmige Frau fühlte sich ausgelaugt und antriebslos, konnte ihren Mutterpflichten nur mit viel Überwindung nachkommen.
»Swetlana?! Heulst du etwa schon wieder? Reiß dich gefälligst zusammen! Glaubst du etwa, mir hätte damals jemand mit den Kindern geholfen? Im Gegenteil, dein Vater hat mich grün und blau geschlagen, sobald er zwischendurch sturzbesoffen nach Hause gefunden hat. Das war kein gottesfürchtiger Mann, und deswegen hat ihn auch schon frühzeitig der Teufel geholt!
Du hast es mit Philipp viel besser getroffen, bist aber trotzdem dauernd bloß am Lamentieren. Vergiss dein Selbstmitleid und kümmere dich jetzt zur Abwechslung mal um mich, denn ich benötige dringend die Bettpfanne!«, jammerte ihre nach einem Schlaganfall bettlägerige Mutter mit vorwurfsvollem Unterton in der Stimme.
»Ja, Mamuschka! Ist schon gut, ich komme, hab bitte nur noch einen kurzen Augenblick Geduld. Dann bringe ich dir auch gleich etwas Leckeres zu Essen mit!«, seufzte Swetlana ergeben und trocknete sich die Tränen mit einem Zipfel der Babydecke ab.
Während sich die völlig überforderte Mutter langsam aufrappelte, um ihren heiligen Tochterpflichten nachzukommen, nörgelte die Alte derweil stetig vor sich hin. Scheinbar hatte sie an ihrer Ankündigung etwas auszusetzen und echauffierte sich wortreich auf Russisch darüber, wie man als junge, unter vielen Entbehrungen erzogene Frau nur so geschmacklos sein konnte, Bettpfanne und Lebensmittel in ein und demselben Anlauf zu seiner alten, hilflosen Mutter bringen zu wollen.
Swetlana versuchte verzweifelt, nicht hinzuhören. Sie klapperte in der Küche absichtlich laut mit Töpfen und Tellern, um mit dieser Geräuschkulisse das vor Spott triefende Gemecker ein wenig zu übertönen. Anschließend blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als mit einem beladenen Tablett und der unter einen Arm geklemmten Bettpfanne ins Schlafzimmer zu gehen, um ihre übellaunige Mutter zu versorgen.
Die junge Frau versuchte das Tablett auf einem Nachttischchen abzustellen, ohne dass die dampfend heiße Gemüsesuppe dabei überschwappte. Leider rutschte trotz aller Bemühungen die metallene Bettpfanne unter ihrer Achsel hervor und fiel scheppernd zu Boden.
»Kannst du denn nicht ein bisschen besser aufpassen? Du hast mich fast zu Tode erschreckt! Ich hatte dir doch gleich gesagt, du sollst die Sachen lieber einzeln herüberbringen.
Na ja, was erwarte ich denn … du warst schon als Kind ein ungeschickter Trampel, der nie auf mich hören wollte! Was du mir damals an Kummer und Sorgen eingebracht hast, mag ich gar nicht beschreiben. Du hast mich Jahre meines Lebens gekostet«, schimpfte die alte Olga kopfschüttelnd.
Swetlana beschloss gekränkt, auf die erlogenen Beleidigungen einer unzurechnungsfähigen Alten nichts zu geben. Sie schluckte ihren Ärger hinunter und reagierte nicht, sondern bückte sich mit einiger Mühe, um die Bettpfanne aufzuheben. Dabei stieß sie aufgrund der Enge in diesem mit drei Betten heillos überbelegten Raum versehentlich mit ihrem Gesäß ans Tablett, wodurch ein kleiner Teil der Suppe nun doch noch aus dem Teller befördert wurde.
Als ihre Mutter das Missgeschick sofort zum Anlass nahm, Swetlana mit harschen Worten zu maßregeln, war es um deren Selbstbeherrschung geschehen. Sie schrie sich den gesamten Frust, den sie über die letzten Wochen und Monate aufgestaut hatte, aus der Seele. Dann knallte sie die Bettpfanne auf den Nachttisch und verließ das Zimmer, ohne ihrer Mutter bei der Benutzung zu helfen.
Beim nach Hause kommen fand Philipp die beiden Frau in aufgelöstem Zustand vor. Die eine saß mit wirrem Haar auf der Couch und weinte hemmungslos, wobei sie ihren Kopf zwischen den angezogenen Knien barg.
Die Ältere heulte in einer anklagenden Monotonie, weil sie ihre Notdurft inzwischen ins Bett verrichten hatte müssen; die langgezogenen Töne klangen fast, als würde jemand eine Blockflöte unsachgemäß benutzen.
»Was ist denn hier los?«, fragte Philipp fassungslos, welcher sich zunächst weder den desolaten Gemütszustand der beiden Frauen noch den in der Wohnung allgegenwärtigen Gestank logisch erklären konnte. Nun weinte zu allem Überfluss auch noch das Kind im Pappkarton, weswegen es der besorgte Vater herausnahm, um es wieder in den Schlaf zu wiegen.
»Nun? Ich hatte dich etwas gefragt!«
Swetlana sah widerwillig auf, richtete die rot geränderten Augen auf ihren Ehemann. »Ich kann sie nicht mehr ertragen! Ihre Anwesenheit macht mich krank. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um sie schnellstmöglich loszuwerden.
Soll sich doch die Kirche um diese undankbare Vettel dort drüben kümmern! Wir haben eigentlich sowieso keinen Platz mehr im Schlafzimmer, seit das Baby auf der Welt ist! Oder wo soll ich deiner Meinung nach Annas Bettchen aufstellen?«, brach es aus Swetlana hervor.
Was war nur mit seiner geliebten Ehefrau los, litt sie etwa noch immer an Kindsbettdepressionen? Diese vorübergehende Weinerlichkeit war doch sonst immer nach ein paar Tagen ausgestanden gewesen … und derart unkontrollierte Aggressivität hatte er bei ihr bislang nie wahrgenommen!
»Versündige dich nicht!«, mahnte Philipp besorgt. »Olga ist trotz ihrer unbequemen Wesensart, welche vermutlich bloß aus ihrer schweren Krankheit resultiert, immer noch deine Mutter. Diese Frau hat dir einst das Leben geschenkt, du bist ihr deshalb lebenslänglich zur christlich inspirierten Fürsorge verpflichtet. Vielleicht will Gott durch ihr Verhalten nur deine Standfestigkeit und Opferbereitschaft prüfen!«
Er verdrängte seine eigene Müdigkeit und machte sich daran, das mit Urin und Kot besudelte Bett seiner Schwiegermutter frisch zu beziehen. Dabei musste auch er ohne Unterlass bittere Vorwürfe über sich ergehen lassen, die er jedoch aus gutem Grund nicht kommentierte.
Kaum war er mit seiner ekelerregenden Arbeit fertig, war es auch schon an der Zeit, zum abendlichen Gottesdienst aufzubrechen. Der gestresste Familienvater nahm sich vor, während der Predigt dieses Mal intensiv darüber nachzudenken, wie es mit ihm und seinem Anhang weitergehen sollte.
Vielleicht wusste Pfarrer Laubenheimer Rat – er würde ihn nach der Messe einfach abpassen und hartnäckig versuchen, ihm ein Gespräch unter vier Augen abzunötigen.
*
Pfarrer Laubenheimer wirkte äußerst ungehalten, als Philipp Emmerson sich direkt vor seiner Nase aufbaute, um ihm den Rückweg zum Pfarrhaus abzuschneiden. Er war an diesem Freitagabend in großer Eile und musste sich sputen, um nicht verspätet am Treffpunkt zu erscheinen.
Die Verlesung der täglichen Todesliste hatte wieder einmal nahezu eine halbe Stunde in Anspruch genommen; der sogenannte Gottesdiener fragte sich, welchen Sinn diese zeitraubende Aktion überhaupt noch machte; die Leute waren zwischenzeitlich so sehr abgestumpft, dass man ihnen mit einer Mär über den während der Nächte umgehenden Teufel kaum mehr Angst einjagen konnte.
Die Mutigeren ließen es leichtsinnigerweise darauf ankommen, dass sie während nächtlicher Außenaktivitäten möglicherweise zum Opfer werden könnten. Selbstmord war den gläubigen Christen strengstens verboten, daher begab sich manch einer der Lebensmüden sogar absichtlich in Gefahr. Die Hinterbliebenen der von »Satan« Ermordeten brauchten hinterher wenigstens nicht mit kirchlicher Ächtung oder Repressalien zu rechnen, denn der Tote war ja de facto durch Einwirkung eines Dritten verstorben.
Die restlichen Gemeindemitglieder saßen desinteressiert in den Kirchenbänken und ließen sich mit den makabren Nachrichten bloß noch teilnahmslos berieseln. Nur hin und wieder horchte jemand auf, weil er einen der verlesenen Namen zu kennen glaubte.
Laubenheimer beschloss frustriert, diese unguten Entwicklungen nachher auf der Versammlung unbedingt ansprechen zu müssen. Vielleicht hatten er und seine Brüder im Geiste die Schraube des Schreckens bereits überdreht. Die anfangs recht erfolgreiche Maßnahme zur Kontrolle der Bürger schien jedenfalls nicht mehr im erforderlichen Ausmaß zu greifen.
Doch zuallererst musste er diesen nervigen Emmerson loswerden; und das funktionierte höchstens, indem er ihm kurz sein Ohr lieh.
»So sprich eben, was hast du auf dem Herzen? Wie kann der gute Hirte einem Schäflein aus seiner Herde weiterhelfen? Aber fasse dich kurz, auch andere Menschen bedürfen heute noch meiner Fürsorge!«, sagte er halbherzig und wippte ungeduldig mit dem linken Fuß, während sein unsteter Blick in die Ferne glitt. Verdammt – er würde zu spät kommen!
»Zunächst vielen Dank, dass Sie sich meines Problems persönlich annehmen wollen!«, freute sich Philipp gerührt. Tränen der Erleichterung standen in seinen blauen Augen.
»Es ist wegen meiner Familie! Wir haben jetzt sechs kleine Kinder und dazu meine pflegebedürftige Schwiegermutter zu versorgen. Mehr als drei Betten passen nicht in die Wohnung, so dass Swetlana und ich seit einiger Zeit auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, während sich die Kinder und meine Schwiegermutter die Betten teilen müssen. Ich gehe zwei sehr anstrengenden Berufen nach und kann Swetlana beim besten Willen nicht im Haushalt und bei der Kindererziehung unterstützen.
Meine Frau ist nach der Geburt unseres jüngsten Kindes mit ihren Nerven so sehr am Ende, dass sie ihren Pflichten kaum mehr nachkommen kann. Doch verstehen Sie mich bitte nicht falsch; meine Ehefrau ist eine gute Christin und möchte liebend gerne aufopfernd für uns alle sorgen – nur bringt sie momentan kaum die dafür erforderliche Kraft auf.
Daher rührt meine Frage, oder vielmehr meine Bitte: Gibt es für solche dringenden Fälle wenigstens vorübergehend Hilfestellung von der Kirche? Eine Haushaltshilfe vielleicht – oder, viel besser noch, einen externen Pflegeplatz für meine kranke Schwiegermutter? Eine Psychotherapie für meine Swetlana wäre natürlich auch sinnvoll, doch die kann ich mir finanziell nicht leisten.«
Laubenheimer lächelte ironisch, räusperte sich. »Die Wege des Herrn sind eben unergründlich!«, deklamierte er mit harter Stimme. Diese reichlich abgedroschene Phrase benutzte er oft und gerne, in seinen Predigten manchmal sogar mehrfach hintereinander. Philipp bemerkte es mit aufkommender Verstimmung.
»Gott will euch prüfen und herausfinden, ob seine Diener bereit und in der Lage sind, in puncto Selbstaufopferung in die überdimensional großen Fußstapfen von Jesus Christus zu treten. Er ist für uns Menschen am Kreuz gestorben! Und da sollte ausgerechnet die Kirche eingreifen und seine göttlichen Pläne dir zuliebe durchkreuzen?
Nein, mein Lieber! Es ist im Übrigen dein eigenes Problem, wenn du deine Lendengegend so überaus schlecht unter Kontrolle hattest, dass du mehr Kinder in diese Welt gesetzt hast, als ihr betreuen könnt! Wie dem auch sei, da müsst ihr selber durch. Wenn du mich jetzt also entschuldigen würdest?«
Als sich Pfarrer Laubenheimer ohne weiteren Kommentar abgewendet hatte und mit wehendem Talar davongeeilt war, blieb der vollkommen am Boden zerstörte Philipp mitten auf der Straße stehen. Seine Hände ballten sich unwillkürlich zu harten Fäusten.
In seiner Brust kämpfte lähmende Verzweiflung gegen jäh aufsteigende Wut um die Vorherrschaft, denn er konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie ausgerechnet ein Gottesmann sich so rücksichtslos verhalten konnte. Hätte der Pfarrer nicht verständnisvoller und vor allem hilfsbereiter reagieren müssen?
Und wo mochte der ehrenwerte Herr Laubenheimer jetzt, nach Verrichtung seines heiligen Tageswerkes, eigentlich so dringend hinmüssen? Die Sonne stand schon tief, bald würde sie hinter dem Horizont versinken. Hatte er ihn nur abwimmeln wollen und deswegen große Eile vorgeschützt? In diesem Fall hätte er ihn jedoch angelogen, hätte der Botschaft seiner eigenen Predigten zuwidergehandelt … !
Philipp verspürte indessen keinerlei Bedürfnis, gleich in die bedrückende Enge seiner Behausung zurückzugehen. Er fühlte sich ohnehin nicht in der richtigen Verfassung, um Swetlanas Leid noch zusätzlich auf seine verspannten Schultern zu packen.
Nach einigen Sekunden des ängstlichen Zauderns entschied er sich kurzentschlossen, dem Pfarrer heimlich zu folgen. Er musste einfach Gewissheit darüber erlangen, ob es sich bei diesem Gottesdiener um einen aufrichtigen Mann handelte, der ausschließlich das Wohl der Gemeindemitglieder seines Sprengels im Schilde führte. Schließlich hatten Philipp schon früher gelegentlich Zweifel an dessen uneingeschränkter Integrität beschlichen.
›Auch wenn allmählich die Dunkelheit hereinbricht – in der Nähe eines Pfarrers müsste ich doch vor tödlichen Angriffen des Teufels geschützt sein! Es wäre inzwischen wahrscheinlich sowieso zu spät, um noch umkehren und bei Tageslicht in mein Wohnhaus zurückkehren zu können‹, überlegte sich Philipp voller Zuversicht, während er im gebotenen Abstand hinter Laubenheimer her hetzte.
Die breiten Straßen Berlins lagen bereits verwaist im Zwielicht der Dämmerung, denn die Menschen achteten schon aus Sicherheitsgründen peinlich genau darauf, nach dem Abendgottesdienst jeweils auf schnellstem Wege zurück nach Hause zu kommen.
Die verlassene Stadt strahlte etwas Unheimliches aus, als wäre jedes Lebewesen zwischen ihren Mauern fehl am Platze. Dieser beängstigende Eindruck der Stille verstärkte sich noch ins Uferlose, als wie jeden Abend eine halbe Stunde nach der Messe der Strom für Privathaushalte abgeschaltet wurde und somit auch keines der Fenster mehr beleuchtet war. Nicht einmal der Mond ließ sich am Himmel blicken, er war von dichten Wolkenbänken verhüllt; der unverkennbare Geruch von herannahendem Regen lag in der Luft.
Laubenheimer schien auf diesen Moment nur gewartet zu haben; er faltete soeben irgendetwas Schwarzes, das er unter dem rechten Arm getragen hatte, im Laufen auseinander.
Mit angehaltenem Atem schloss Philipp ein wenig näher zu ihm auf und sah, wie der Mann sich eine pechschwarze Kutte überstreifte und seinen Kopf besonders sorgfältig unter der Kapuze verbarg.
Dieser Anblick kam ihm irgendwie bekannt vor. Hatte sich Swetlana nicht erst neulich bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster fürchterlich erschreckt, weil sie eine ähnliche Gestalt für den leibhaftigen Teufel hielt, der mutmaßlich auf nächtlichen Seelenfang gegangen war?
Irgendetwas sagte ihm, dass Laubenheimers dunkle Ganzkörper-Verhüllung wohl kaum ausschließlich dem Schutz vor Nässe geschuldet war.
Wenige Augenblicke später erreichten die beiden Männer den zentralen Stadtpark, wo sich der Pfarrer am Eingang leise mit jemandem zu unterhalten schien, der sich in den Schatten zwischen den Bäumen verbarg. Sein Verfolger stand derweil keuchend in einem Hauseingang und harrte der unheimlichen Ereignisse, die da auf ihn zukommen mochten.
›Genau, ich erinnere mich wieder!‹ dachte Philipp Emmerson grimmig. ›Dort drinnen ist die finstere Gestalt, die meine Frau gesehen hat, damals ebenfalls verschwunden! Nur muss es halt nicht dieser, sondern eher der Eingang auf der Westseite des Parks gewesen sein, weil unsere Wohnung ja in jener Richtung liegt. Hier geht einiges nicht mit rechten Dingen zu, so viel ist sicher!‹
Der Pfarrer lachte kehlig auf, verschwand mit einem Winken im Park. Inzwischen setzte leichter Nieselregen ein, der Philipp in seinem zugigen Versteck frösteln ließ. Was für eine unangenehm feuchte und dunkle Nacht! Als er eben angestrengt überlegte, ob er das große Wagnis eingehen und Laubenheimer abseits des Weges nachfolgen sollte, erstarrte er vor Schreck.
Der dubiose Herr Pfarrer war offenkundig nicht der Einzige, der das weitläufige Parkgelände zum Ziel seiner Nachtwanderung auserkoren hatte! Aus allen vier Himmelsrichtungen strömten jetzt obskure Kapuzenmänner heran, die sich lachend und scherzend mit dem Wachposten am Eingang zum Stadtpark unterhielten. Denn dass es sich bei dem Unbekannten um einen Bewacher von irgendetwas handeln musste, war Philipp längst klargeworden.
Voller gespannter Neugier schob sich Philipp näher an den Ort des Geschehens heran. Falls es ihm gelänge, die zweifellos sehr aufschlussreichen Gespräche mitzuhören … er hatte eine schnelle Entscheidung zu treffen!
Sollte er sich unbemerkt durchs dichte Gebüsch in den Park schleichen und herausfinden, welche Art von mysteriösem Geheimtreffen dort vonstattenging? Aber was würde er dann am Ende überhaupt mit den illegal erworbenen Informationen anstellen können?
»Ergreift diesen Mann! Wir haben es mal wieder mit einem Spion zu tun! Ich glaube, dem unglückseligen Teufelsbraten hier wird nachher die zweifelhafte Ehre zuteil, unsere brandaktuelle Liste anführen zu dürfen!«, brüllte ein wie aus dem Nichts aufgetauchter Kuttenträger spöttisch und krallte sich fest in seinen Oberarm.
Philipp hatte seinen vermummten Häscher nicht kommen sehen. Nun nahte eine ganze Schar dieser schwarzen Krähen, um ihn unter Anwendung von brutaler Gewalt abzuführen. Widerstand war zwecklos, man schleifte ihn tief ins Herz des finsteren Stadtparks hinein.
Würde er die heutige Nacht lebend überstehen?
*
Fasziniert beobachtete Yannas, wie überaus sanft Gabriel den Kopf der Bewusstlosen anhob, um seinen Chaktivator in ihrem Nacken anzusetzen. Der erfahrene Mediziner hatte sich vorher noch kurz davon überzeugt, dass keinerlei Organschäden oder inneren Verletzungen als Ursache für ihren plötzlichen Zusammenbruch vorlagen; auch der Schädel war trotz des Sturzes völlig intakt geblieben. Nun konnte er es gefahrlos wagen, Dozentin Kalmes mithilfe wohldosierter Energiestöße aufzuwecken.
Er zögerte für einen Moment. So lange sich seine Angebetete nicht rührte, konnte er sie wenigstens in Ruhe betrachten. Wie ebenmäßig ihre Gesichtszüge doch waren, und wie schön ihr Haar im gelblichen Licht der riesigen Hallenkonstruktion glänzte! Besonders apart fand er ihre langen dunklen Wimpern, welche im Wachzustand große Kulleraugen einrahmten. Gleich, gleich würde sie diese samtbraunen Seelenfenster aufschlagen und ihn – zum wiederholten Male – als fürsorglichen Retter in der Not erkennen … !
»Was … was tust du denn hier … und wieso liege ich auf dem Fußboden?«, stammelte Kalmes vollkommen unromantisch, als sie wieder einigermaßen Herrin ihrer Sinne war. Gabriel hatte ihren Kopf in seinen Schoß gelegt und massierte ihr jetzt mit Hingabe die Schläfen; auf dieselbe Art und Weise, wie sie es auf Terra bei Kopfschmerzattacken des Öfteren genossen hatte.
»Gabriel, das reicht, danke! Was sollen meine Schüler von mir denken, wenn ich während des Unterrichts faul hier herumliege und mich behandeln lasse?« Mit diesen deutlichen Worten versuchte Kalmes, noch etwas benommen, sich allmählich aufzurappeln.
Yannas fühlte sich berufen, relativierend in das Gespräch einzugreifen. Er fand die reichlich abweisende Reaktion seiner Kollegin ein bisschen unangemessen. Pflichtbewusstsein hin oder her, die Gesundheit ging vor.
Dieser nette ältere Herr aus der Untersektion Medizin hatte sich schließlich so rührend um sie gekümmert, als handele es sich bei ihr um die kostbarste Person auf diesem Planeten! Er war wegen einer Routine-Bagatelle extra hier angerückt, obgleich es in diesem Fall mit Sicherheit auch ein unerfahrenerer Kollege getan hätte. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann waren diese beiden Menschen auf Terra sogar über viele TUN hinweg Missionskollegen gewesen … !
»Kalmes, man hat dir für den Rest dieses KIN freigegeben. Du brauchst heute überhaupt nicht mehr arbeiten, ruhe dich lieber ein bisschen aus. Dein Gesicht wirkt noch immer ziemlich blass. Habe ich nicht recht?«, fragte er augenzwinkernd Gabriel, welcher in diesem Augenblick reichlich unschlüssig, wenn nicht sogar verlegen dastand.
»Doch, selbstverständlich!«, beeilte sich dieser zu antworten. »Außerdem muss ich meine Patientin noch im Wege einer Anamnese eingehend befragen, wie es zu ihrem Zusammenbruch kam; denn noch ist ja nicht sicher, welche Ursache der Bewusstlosigkeit zugrunde lag. Niemand möchte schließlich riskieren, dass sie morgen gleich wieder umkippt!«
Yannas scheuchte indessen ein paar neugierige Schüler, die noch immer neugierig im Kreis um ihre Dozentin standen, auf den nahegelegenen Spielplatz. Sie würden heute ausnahmsweise eine Extra-Pause einlegen dürfen, bevor sie sich dem Ernst des Lebens wieder stellen müssten.
»Ich lasse euch am besten jetzt alleine. Gabriel, falls du nicht mehr aus diesem Labyrinth herausfinden solltest, kannst du mich einfach über den Kommunikator rufen. Dann fahren wir wieder ein bisschen mit den Rollern spazieren!«, meinte der junge Dozent gut gelaunt.
»Äh … nein, lass es erst einmal gut sein! Ich will dich nicht noch länger von deiner Arbeit abhalten«, winkte Gabriel erschrocken ab.
Keinesfalls würde er jemals wieder auf dieses lebensgefährliche Höllengerät steigen! Er hoffte vielmehr sehnlich darauf, dass Kalmes ihm später den Weg zum Ausgang weisen würde; und zwar, indem sie ihn höchstpersönlich dorthin begleitete. Doch zunächst wollte er sich natürlich ausgiebig um die Wiederherstellung ihrer Gesundheit kümmern.
»Schön, dich wiederzusehen, Kalmes! Ich habe oft an dich denken müssen, seit wir von der Mission zurückgekehrt sind. Ich hätte natürlich nicht erwartet, dass wir uns eines Tages ausgerechnet unter solchen Umständen treffen würden. Auf Terra war es um deine Fitness erheblich besser bestellt!«
Wieso kam er sich in ihrer Gegenwart eigentlich jedes Mal von neuem wie ein linkischer Trottel vor? Gabriel hoffte inständig, dass sie ihm sein reichlich tölpelhaftes Gerede nicht allzu krumm nehmen würde. Ihrem teilnahmslosen Gesichtsausdruck ließ sich jedenfalls so gut wie gar keine Gefühlsregung ansehen – höchstens noch leichte Verwunderung.
»Ich weiß nicht, wieso mir vorhin schwarz vor Augen wurde! Weder habe ich mich vorher krank gefühlt, noch ist irgendetwas Außergewöhnliches geschehen. Ich ernähre mich äußerst gesund, bewege mich täglich viel, mein Beruf bereitet mir Freude … insoweit hat sich an meinem Tagesablauf kaum etwas verändert. Höchstens der Umstand, dass ich in letzter Zeit sehr schlecht einschlafen kann!«
Kalmes blieb bei ihrer Schilderung die personifizierte Sachlichkeit. Na gut, vielleicht musste sie ihm gegenüber erst wieder ein wenig auftauen … ! Gabriel beschloss schweren Herzens, ihr genügend Zeit zu lassen und sich vorerst mit seinen Äußerungen ebenfalls auf die kühle Ebene eines herkömmlichen Gesprächs zwischen Arzt und Patientin zurückzuziehen.
»Häufiger Schlafmangel kann durchaus ein Grund dafür sein, dass der Körper bestimmte Funktionen einstellt. War es für dich letzte Nacht besonders schwer, Ruhe zu finden? Was genau hindert dich denn am Einschlafen?«
Kalmes seufzte tief. Ihr Blick glitt, an Gabriels Gesicht vorbei, ziellos in die Ferne. Die dunkelhaarige Dozentin sah todtraurig aus, wie sie da völlig zusammengesunken auf einem hüfthohen Zierstein voller farbiger Symbole hockte, der den Eingang zu diesem laubenartigen Schulungsraum markierte; man hätte glatt annehmen können, dass sie bereits knapp vor einem erneuten Zusammenbruch stehe. Der Mediziner bemerkte es mit einiger Sorge.
»Ich darf Solaras nicht mehr sehen!«, brach es aus ihr hervor. »Da müht man sich auf Terra gemeinsam ab, etwas zum Besseren hin zu bewegen, opfert gar sein halbes Leben dafür
– und dann ist dies der schnöde Dank der Gemeinschaft! Man munkelt sogar, wir hätten die gesamte Mission leichtsinnig in den Sand gesetzt und eine Fehlentscheidung nach der anderen getroffen. Dabei hätten wir damals gar nicht anders handeln können. Ach, wem sage ich das, du warst ja selber dabei!«
»In der Tat! Ich habe von dieser unzutreffenden Einschätzung gehört und mich ziemlich darüber geärgert!« brummte Gabriel und strich ihr tröstend übers Haar.
»Undank ist Tiberias Lohn! Das mit der strikten Separation finde ich übrigens auch vollkommen ungerechtfertigt. Hätte man mich nach Abschluss der Operation Terra 2.0 nämlich nicht wieder in meine angestammte Sektion verbannt, wäre ich unter Garantie schon viel früher hier aufgetaucht, um dich offiziell zu besuchen. Und dann wäre alles in Ordnung gekommen, meine liebe Kalmes!«
»Wie meinst du denn das?«, wunderte sich die einstige Maria Magdalena. »Hättest du mir mithilfe deiner Beziehungen womöglich ein heimliches Date mit Solaras verschaffen können?«
In ihren tränenfeuchten Augen glomm jäh ein Hoffnungsschimmer auf, der sie gleich viel lebendiger wirken ließ. Auf einmal saß sie aufrecht wie eine Kerze da, ihr flehender Blick heftete sich aufmerksam an Gabriels Lippen.
Solaras, Solaras und immer wieder dieser Solaras! Konnte sich diese Frau nicht endlich ins Unvermeidliche fügen und einen neuen Lebensgefährten in Betracht ziehen? Dieser vergeistigte Hänfling hatte es gar nicht verdient, dass sie ihm derart extrem nachtrauerte! Was hatte Solaras schon Außergewöhnliches für sie getan?
Und er, der sie seit endlos langer Zeit aufrichtig liebte und allen anderen Frauen ihretwegen entsagte, diente ihr offenbar immer nur als Mittel zum Zweck. Was wäre wohl geschehen, wenn er damals auf Terra nicht rechtzeitig erschienen wäre, um ihren heißgeliebten »Jesus«, buchstäblich in letzter Sekunde, aus dem verschlossenen Felsengrab zu befreien? Er hatte zur Verwirklichung dieses Einsatzes sogar seine Karriere aufs Spiel gesetzt und sich mutig mit Missionsleiter Balthasar angelegt!
»Nein!«, entfuhr es Gabriel eine Spur zu hart. »Ich verfüge über keinerlei Beziehungen dieser Art. Aber ich könnte es mit Leichtigkeit möglich machen, dass wir beide uns ab sofort öfters sehen! Dazu müsste ich lediglich eine knappe Bemerkung in meinem Bericht hinterlassen, dass deine Konstitution in besorgniserregendem Ausmaß angegriffen ist und ich meine Patientin besser in regelmäßigen Abständen untersuchen sollte, um die Behandlungserfolge engmaschig zu kontrollieren.«
Kalmes wirkte skeptisch, verschränkte die Arme; auf ihrer hohen Stirn bildeten sich ein paar feine Runzeln.
»Aber wozu, Gabriel? Mir fehlt doch nicht wirklich etwas! Das muss ein vorübergehender Schwächeanfall gewesen sein, nichts weiter. Ich habe in den vergangenen Nächten viel zu wenig geschlafen; hinzu kommt noch quälender Liebeskummer, der mir schwer zu schaffen macht.
Bestimmt liegen meinem Zusammenbruch psychische Ursachen zugrunde! Du hast doch erst vorhin selbst gesagt, dass der Körper durchaus mit derartigen Stresssymptomen auf die Belastung reagieren kann.«
Gabriel begann zu schwitzen. Er hatte sich in eine Sackgasse hineinmanövriert. Jetzt kam er nicht mehr umhin, bei ihr geradeheraus Farbe zu bekennen.
›Ach, sei’s drum!‹, dachte er sich hoffnungsfroh. ›Dann soll eben wider Erwarten bereits heute der große Tag sein, an dem ich ihr endlich meine Liebe gestehen werde!‹
Er hätte sich für seinen Antrag zwar ein etwas romantischeres Ambiente gewünscht, doch es half alles nichts: Wenn er sie bald wiedersehen wollte, musste er jetzt sprechen – oder resignieren und aufgeben. Er entschied sich für ersteres.
Kalmes hörte sich seine umständlichen, ein bisschen linkisch wirkenden Erklärungen und Schwüre geduldig an, hob nur ab und zu fragend eine ihrer Augenbrauen. Als Gabriel näher rückte und sie beherzt in seine Arme schließen wollte, schob sie ihn jedoch selbstbewusst von sich.
»Du bist mir ein guter und treuer Freund, Gabriel! Oft hätte ich wirklich nicht gewusst, was ich ohne dich hätte tun sollen. Aber meine Liebe als Frau gehört einzig und allein Solaras. Hast du das denn nicht gewusst? Bitte zerstöre unsere wertvolle Freundschaft nicht, indem du mehr von mir forderst. Das fände ich nämlich sehr schade!«
Eine solchermaßen deutliche Abfuhr hatte Gabriel absolut nicht erwartet; er war davon ausgegangen, dass sie sich vielleicht ein bisschen zieren oder sich Bedenkzeit erbitten würde. Nun stand er verdattert im Schulungsgarten und wusste nicht, was er entgegnen sollte. Am liebsten wäre er im Boden versunken oder tot umgefallen.
Kalmes bereute ihre allzu direkte Wortwahl, als sie ihn wie ein zerschmettertes Häufchen Elend in der Landschaft stehen sah. Sie erkannte sofort, in welch peinlicher Lage er sich befinden musste. Sie nahm lächelnd seine Hand, zog ihn einfach mit sich fort.
Widerwillig folgte er ihr über das Netzwerk aus schmalen Verbindungswegen, die an Schulungswiesen voller fröhlicher Kinder und ihren Dozenten vorbeiführten. In seiner schwer verwundeten Seele herrschte tristes Regenwetter, das selbst diese farbenfrohen Wahrnehmungen in eine graue Einheitsbrühe verwandelte.
Als sie auf dem breiteren Hauptweg angelangt waren, blieb Kalmes stehen, suchte den Blickkontakt. »Ach komm schon, alter Freund! Ich bin dennoch enger mit dir verbunden, als du jetzt in deiner Enttäuschung annehmen magst. Ich freue mich natürlich, dass du dich meiner angenommen hast.
Was ist, nehmen wir uns zwei von diesen Magnetrollern, damit ich dich zum Ausgang geleiten kann?«
Gabriel war tief gekränkt, doch änderte das nicht das Geringste an seinen Gefühlen für Kalmes. Man konnte sein eigenes Seelenleben bedauerlicherweise nicht einfach ausschalten, nur weil bestimmte Gefühlsregungen momentan nicht erwidert wurden. So beschloss er spontan, sich die letzten Augenblicke, die er alleine mit seiner Traumfrau verbringen konnte, wenigstens noch zu sichern. Mehr war ihm leider nicht vergönnt.
»Aber gerne!«, hörte er sich zum eigenen Erstaunen selber sagen. »Ich liebe es, diese sirrenden Dinger zu fahren! Sie sind so schön bequem, flink und wendig!«