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Tag 2

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Nach einer nicht sehr erholsamen ersten Nacht, auf der steinharten Matratze, war Jessica dennoch zeitig aufgestanden.

Den ganzen Morgen hatte sie versucht, das Haus einigermassen in Ordnung zu bringen. Sie hatte geputzt wie eine Wahnsinnige. Es hatte sie viel Mühe, Zeit und Nerven gekostet. Aus den Wasserhähnen kam entweder kochend heisses oder eiskaltes Wasser. Sie brauchte fast fünf Minuten, um sich die richtige Temperatur einzustellen.

Der Aufwand hatte sich dennoch gelohnt. Das Haus sah trotz der schäbigen Einrichtung einigermassen wohnlich und sauber aus. Jessica hatte sogar das Geweih des armen Hirsches liebevoll abgestaubt.

Sie bewunderte gerade das Ergebnis ihrer Arbeit, als eine scheppernde Klingel ertönte.

Jessica zuckte zusammen. Wer konnte das sein?, überlegte sie. Nur ihre Familie wusste, wo sie war. Von den Dreien würde keiner unangemeldet hereinschneien und in dieser Gegend kannte sie niemanden. Ausserdem war sie hier in den Ferien und wollte nicht gestört werden.

Und wie sehe ich denn aus? So kann ich doch unmöglich die Tür öffnen! Sie blickte an sich hinab, auf das graue verwaschene T-Shirt, mit einem Aufdruck von Marge Simpson, das ihr fast bis zu den Knien reichte und die ausgeleierte pinkfarbene Trainingshose mit weissen Längsstreifen an der Aussenseite, die von ihren Hüften zu rutschen drohte. Zudem war sie verschwitzt und ungeschminkt.

Es klingelte erneut. Ohne weiter über ihr Aussehen nachzudenken, stolperte sie aus dem Wohnzimmer in Richtung Haustür, um herauszufinden, wer es wagte, ihr mühsam errungenes Hochgefühl zu stören.

Als sie um die Ecke bog, rutschte ihr der kleine Teppich im Flur auf dem frisch polierten Parkett unter den Füssen weg. Jessica schrie auf, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, bevor sie das Gleichgewicht verlor und zur rechten Seite wegkippte. Als sie mit dem Oberschenkel auf dem Boden aufschlug, jagte ein unglaublicher Schmerz durch ihren Körper, der sich dann in die Hüfte bohrte. Einen Moment lang blieb Jessica benommen liegen, bevor sie sich fluchend und mit schmerzverzehrtem Gesicht aufraffte, um die Haustür zu öffnen.

Sie machte grosse Augen. Der Vermieter stand ihr gegenüber und betrachtete sie mit freundlichen, lebhaften Blicken.

Grossartig! Genau das, was sie brauchte! Einen Überraschungsbesuch von diesem alten Mann.

Mr. Finch trug einen eng anliegenden hellblauen Pullover, der ihn noch unförmiger erscheinen liess. Das weisse Haar stand in widerspenstigen Büscheln vom Kopf ab.

»Hätten Sie wohl Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken?«, fragte er.

Zu nichts hatte Jessica weniger Lust, doch ehe sie das aussprechen konnte, fuhr er fort: »Ich habe Eierbrote mitgebracht.«

Sie öffnete den Mund, um etwas zu antworten, und schloss ihn wieder. Mr. Finch war bereits über die Schwelle getreten und marschierte direkt in die Küche.

Jessica hinkte hinterher. Ihre Hüfte schmerzte höllisch. Aber sie begriff, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als Mr. Finch einen Kaffee zu machen.

In der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine ein und knallte zwei Teller auf den Tisch. Ihr wurde kalt und heiss zugleich. Sie wollte keinen Besuch, sondern sehnte sich nach einer heissen Dusche und nach völliger Ruhe.

Da hätte ich ja auch gleich zu Hause bleiben können, dachte sie. Wenn sie sich dort mit einer Zeitschrift irgendwo hinsetzte, dauerte es keine Minute, bis jemand auftauchte, der etwas von ihr wollte. Der Begriff Ruhe war für sie schon längst zum Fremdwort geworden. Für sie gab es keinen Feierabend und keine Wochenenden mehr.

Der unangemeldete Besuch von Mr. Finch kam ihr höchst ungelegen. Die Königin von England würde jetzt sagen: »I am not amused.«

»Wie ich sehe, haben Sie sich schon eingerichtet«, sagte Mr. Finch, nachdem er sich unaufgefordert gesetzt hatte.

»Ja«, erwiderte Jessica knapp und liess lieblos ein paar Servietten auf den Küchentisch flattern.

Die Kaffeemaschine verursachte einen ohrenbetäubenden Lärm, so dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Jessica wartete stumm bis der Kaffee durchgelaufen war, während der alte Mann etwas zu ihr rüber schrie.

Als das nervige Gerät schliesslich abstellte, füllte Jessica die beiden Tassen mit geschäumter Milch auf und stellte sie auf den Tisch.

Mr. Finch trank einen Schluck Kaffee und gab zwei Zuckerwürfel in die Tasse, die er schnell umrührte. Dabei schnalzte er mit der Zunge und auf seinen Wangen brannten rote Flecken.

Mit zittrigen Fingern wickelte er die Eierbrote aus der Folie und legte je eines davon auf die beiden Teller. »Na dann«, sagte er. »Guten Appetit!«

Jessica nickte und setzte sich. Sie beugte sich vor und starrte auf den Teller. Das belegte Brot mit Ei sah ekelerregend aus. Trotzdem hatte sie das Gefühl, aus Höflichkeit, davon kosten zu müssen. Doch ein Biss in das Sandwich bestätigte, dass die Eier nicht mehr ganz frisch waren. Sie spuckte alles auf den Teller. Auf eine Salmonellenvergiftung konnte sie gut und gerne verzichten.

»Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte Mr. Finch, während er sein Sandwich mit beiden Händen vor den Mund hielt, dann herzhaft hineinbiss und auf vollen Backen kaute.

Jessica machte ein angewidertes Gesicht. »Ich bin nicht hungrig«, log sie. Natürlich war sie das. Sie hatte sogar einen Bärenhunger. Fünf Stunden lang putzen, das macht hungrig. Putzen, damit man in diesem schäbigen Haus überhaupt einigermassen wohnen kann. Und weshalb habe ich diese Bruchbude gemietet? Damit ich meine Ruhe habe!

»Sie machen doch nicht etwa eine Diät?«, erkundigte sich Mr. Finch.

»Nein, ich mache keine Diät.«

»Das haben Sie auch nicht nötig.«

Sie aber schon, dachte Jessica. Sein Herz war bestimmt verfettet und träge. Es bestand Hoffnung, dass das geplagte Herz stehen blieb.

»So, nun erzählen Sie mal junge Frau. Was hat Sie dazu veranlasst, so ganz alleine in die Berge zu verreisen?«

Jessica beobachtete, wie er den rechten Mundwinkel, an dem ein kleines Stück Eidotter klebte, zu einem flirtenden Lächeln hochzog. Sie rückte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Mit gezwungenem Lächeln antwortete sie schliesslich: »Ich bin hier, um ein Buch zu schreiben.«

Mr. Finch gewann Interesse. Er knetete seine Hände, so dass die Gelenke knackten. »Und worüber schreiben Sie?«

Jessica zögerte mit ihrer Antwort. »Ich schreibe über ...«, natürlich wollte sie dem alten Mann nichts über die geplante Autobiographie verraten, »ich schreibe über Alaska. Und über Eisbären.«

»Aha«, sagte er. »Sie reisen wohl gerne?«

»Ja.«

»Ich reise auch gerne, bin schon viel unterwegs gewesen, hab schon fast die ganze Welt gesehen.« Mr. Finch war nicht mehr zu bremsen. Frankreich, Italien, ja ganz Europa hatte er gesehen. In China erwischte ihn die Vogelgrippe und er musste in Quarantäne. In Russland wurde er verhaftet – grundlos. In Rio de Janeiro habe er ein Brazilian Waxing über sich ergehen lassen und in den Everglades sei er beim Nacktbaden von einem Krokodil angegriffen worden. Dazwischen erzählte er noch, dass seine Frau an Unterleibskrebs gestorben sei.

Jessica hatte plötzlich das Bedürfnis, sich die Ohren abzuschneiden, um sich diesen Schwachsinn, den Mr. Finch von sich gab, nicht mehr anhören zu müssen.

Jetzt war er bei den Krankheiten angelangt – Schwerpunkt Darm. Er fing mit seinem Reizdarm an, es ging weiter mit Blähungen, unzähligen Anekdoten über Montezumas Rache und beim Thema Hämorrhoiden war er gar nicht mehr zu stoppen. Er erklärte, dass starkes Pressen bei Verstopfungen dazu geführt hätte. »Der Juckreiz ist manchmal unerträglich«, fuhr er fort. »Aber ich schwöre auf Analtampons mit Kamille und Kastanienextrakt.«

Jessica lächelte gequält.

Der Gestank von faulen Eiern hing immer noch in der Luft.

Angewidert betrachtete sie ihr angebissenes Eierbrot, das vor ihr auf dem Teller lag. Sie konnte nicht verstehen, dass sie noch kurz zuvor solchen Hunger gehabt hatte. Jetzt krampfte sich ihr Magen allein bei dem Gedanken an Essen zusammen.

Als Jessica glaubte, dass er mit dem Darm endlich durch war, folgte der Darmprolaps. All dies begann sie zu ermüden. Ihr war danach, sich hinzulegen, doch sie getraute sich nicht, den Vermieter hinauszuwerfen. Aber gegen das ständige Gähnen war sie machtlos. Manchmal renkte sie sich fast den Kiefer aus und unterdrückte auch die ächzenden Geräusche nicht, die sie dabei erzeugte.

Endlich wechselte Mr. Finch das Thema. »Ja, als Diabetiker hat man es nicht einfach, man muss ständig schauen, was man isst. Und die Füsse machen mir auch zu schaffen.«

Jessica griff nach einer Papierserviette, begann sie zu drehen, zu falten und baute ein Schiffchen.

»Das Alter bringt eben allerlei Leiden mit sich«, schloss er, nachdem er mehr oder weniger den ganzen Pschyrembel aufgezählt hatte.

Jessica nickte und sah Mr. Finch mit einem langen Blick an. Sie schätzte ihn auf Ende neunzig, vielleicht älter. Aber das war wohl kaum möglich.

»So, jetzt habe ich genug gejammert«, sagte er. »Haben Sie eigentlich gut geschlafen letzte Nacht?«

»Ja, eigentlich schon«, antwortete Jessica gelangweilt.

»Hatten Sie genug warm?«

»Sicher.«

»Das glaube ich Ihnen gerne. Schliesslich haben Sie die allerbeste Decke. Ich sage immer: lieber Gänsedaunen statt Gänsehaut.«

»Gänsedaunen?«, fragte Jessica. Sie benutzte aus Tierliebe nur synthetische Bettwäsche. »Aber hoffentlich wurden die Gänse nicht lebend gerupft!«

»Doch, ich besass früher Gänse. Ich habe sie gerupft und gestopft.« Mr. Finch lachte hell auf. Dieses Lachen kam überraschend und war überhaupt nicht angebracht.

Jessica starrte Mr. Finch wütend an, verkniff sich aber eine Diskussion über das Thema. Sie konnte seine Gegenwart keine Sekunde mehr ertragen. Hätte sie ihm doch bloss die Tür nicht aufgemacht! Schliesslich warf sie einen Blick auf die Armbanduhr und tat sehr überrascht. Sie erklärte ihm, dass sie einen dringenden Termin in der Stadt hätte und ihr deswegen leider keine Zeit mehr für eine weitere Tasse Kaffee bliebe.

Mr. Finchs Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Da kann man nichts machen«, sagte er und erhob sich. »Dann gehe ich noch schnell ins Atelier. Ich wollte sowieso ein Bild fertig malen.«

»Ja, tun Sie das«, sagte Jessica und strebte bereits in Richtung Haustür. Ihre Hüfte tat immer noch weh, aber sie liess sich nichts anmerken. Bestimmt hatte Mr. Finch ein künstliches Hüftgelenk, und sie wollte ihn nicht dazu ermutigen, über weitere Gebrechen zu berichten.

»Haben Sie noch kurz Zeit, sich das Atelier anzusehen?«, fragte Mr. Finch.

»Nein, wirklich nicht«, antwortete Jessica schnell, wie aus der Pistole geschossen.

»Das Atelier ist gleich um die Ecke«, beharrte Mr. Finch. »In fünf Minuten lasse ich Sie gehen.«

»Wie, um die Ecke?«

»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

»Nein.«

»Also gut, dann ein anderes Mal.« Mr. Finch zögerte einen Augenblick, dann ging er.

Nachdem Jessica ganz langsam die Tür geschlossen hatte, um nicht den Eindruck zu erwecken, als würde sie diese hinter ihm zuschlagen, eilte sie zum Fenster und spähte durch die Gardinen. Sie sah, wie Mr. Finch in dem Haus, das in der Broschüre nicht abgebildet war, verschwand. Sein Mercedes stand immer noch vor dem Haus.

»Nein! Nein! Nein!«, schrie Jessica. »Das darf nicht wahr sein!« Das Haus nebenan gehörte Mr. Finch und offensichtlich wohnte er auch dort.

Draussen begann es langsam zu dämmern und am Horizont hing bereits eine schmale Mondsichel. Jessica war den ganzen Nachmittag im Haus geblieben, hatte weder geduscht, noch sonst irgendetwas zustande gebracht.

Die meiste Zeit war sie damit beschäftigt, durch die Gardinen zu spähen und das Haus von Mr. Finch zu beobachten, in der Hoffnung, dass er verschwinden würde.

Ein Atelier?, ging es Jessica plötzlich durch den Kopf. Er malt Bilder? Vielleicht ist Mr. Finch ein wahrer Künstler, gar ein Genie!

Sie verstand plötzlich nicht mehr, weshalb sie sich überhaupt so aufregte. Mr. Finch war doch nur ein einsamer alter Mann. Was musste er von ihr denken? Schliesslich hatte er es doch nur gut gemeint. Es war doch wirklich nett von ihm, mit den Eierbroten bei ihr vorbeizuschauen. Ausserdem hatte er ihr gestern Abend das gesamte Gepäck ins Haus geschleppt. Und das trotz Diabetes und Darmverschluss.

Zur Abwechslung blickte Jessica wieder einmal zum Fenster hinaus, zuckte aber gleich zurück, als Mr. Finch ihr heftig zuwinkte.

Sie wandte sich vom Fenster ab und zog den Vorhang zu. Einen Moment später beobachtete sie, wie der Mercedes die Auffahrt hinunterbrauste.

Jessica atmete auf. Er wohnt gar nicht da! Bestimmt hat er hier oben nur sein Atelier! Vielleicht würde sie seine Einladung doch annehmen, um seine Bilder zu begutachten.

Endlich hatte sie die Kraft, sich in die obere Etage zu begeben und im Arbeitszimmer den Computer einzuschalten.

Jessica setzte sich an den Schreibtisch. Die alte Ahornholzplatte war vergilbt und mit dunklen Ringen von Kaffeetassen und sonstigen Getränken übersät. Sie lehnte sich in dem quietschenden Bürostuhl zurück und verschränkte die Hände im Nacken.

Womit sollte sie anfangen? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung.

Nachdem der Bildschirmschoner schon zum dritten Mal das weisse Fenster mit einem Familienfoto überdeckte, fing sie endlich an zu schreiben:

ICH WURDE AM 29. FEBRUAR 1972 IN ZÜRICH GEBOREN. Sie hielt inne. Sollte sie ihre wahre Identität überhaupt preisgeben? Ja, sagte sie sich, das gehörte schliesslich zu ihrer Vergangenheitsbewältigung dazu. Sie musste sich mit der Person auseinandersetzen, die sie einmal war. Sie musste über Jasmin Müller schreiben:

AM 29. FEBRUAR ERLEBTEN MEINE ELTERN EINE HERBE ENTTÄUSCHUNG. EIN MÄDCHEN WURDE GEBOREN – ICH. SIE HATTEN SICH EINEN JUNGEN GEWÜNSCHT. DAMALS GAB ES EBEN NOCH KEINEN ULTRASCHALL.

Gab es das damals wirklich noch nicht?, überlegte sie. Keine Ahnung. Das muss ich dann wohl noch recherchieren. Aber eines wusste sie mit Sicherheit. Ihr Vater hatte sich einen Stammhalter gewünscht. Ein Mädchen ging bei ihm gar nicht. Und die Mutter wollte auch nicht so eine blöde Tochter. Warum eigentlich nicht?

Sie schrieb weiter:

ZUERST HIELT MAN MICH FÜR TOT. ABER DANN REAGIERTE ICH AUF EINEN KRÄFTIGEN SCHLAG AUF DEN ALLERWERTESTEN UND ATMETE UND SCHRIE WIE AM SPIESS.

Nun ja, so zumindest hatte ihre Mutter es ihr geschildert. Das konnte ja kein guter Start ins Leben sein, überlegte sie. Aber daher rührt mein Trauma wohl kaum. Später wurde sie zwar auch öfters mal geschlagen – mit einem Teppichklopfer. Aber das war nicht die schlimmste Erinnerung.

Jessica dachte an ihre erste Geburt zurück. Alice war ein wunderhübsches Baby: schwarze Haare, blaue Augen, genau wie ihr Vater. Wie hätte man dieses süsse Mädchen ablehnen können?

Alice war auch heute noch sehr hübsch. Und trotz der Tatsache, dass sie gertenschlank und so hübsch wie ein Fotomodell war, bildete Alice sich nicht viel auf ihr Aussehen ein. Sie fand sich selbst zu dünn, ihre Ohren zu gross und ihre Zehen zu lang.

Matthew, der zwei Jahre später das Licht der Welt erblickt hatte, war genauso niedlich gewesen, ähnelte mit seinen grossen braunen Augen eher seiner Mutter. Sie liebte beide Kinder gleichermassen. Jetzt verstand sie auch plötzlich nicht mehr, weshalb sie diesen Urlaub gebucht hatte. Und weshalb sie ihre Familie beinahe fluchtartig verlassen hatte. Aber nach jenem Vorfall am Frühstückstisch, vor zwei Wochen, hatte sie sich so elend und jämmerlich gefühlt, wie schon lange nicht mehr. Drei Tage lang lief sie so herum, dass Michael und die Kinder sich fast fürchteten, sie anzusehen.

Jessica sass mehrere Minuten reglos vor dem Bildschirm und dachte, mit einer Mischung aus Depression und Schuldgefühlen, über die letzten Wochen nach. Sie erinnerte sich dabei an einen weit zurückliegenden Abend:

Jessica stand in ihrer grossen, modernen Küche und schälte lustlos eine Kartoffel, als Matthew hereinkam.

»Mom«, begann er zögernd.

Jessica drehte sich wütend nach ihm um. »Was willst du? Kann ich denn nie allein sein? Kann keiner von euch ...« Sie verstummte hilflos.

Matthew blieb stehen und sah seine Mutter bekümmert, aber unerschrocken an. Jessica drehte ihm den Rücken zu und wartete trotzig darauf, dass er ging.

»Kannst du nicht versuchen, wieder etwas fröhlicher zu werden?«, fragte Matthew schliesslich. »Wir sind doch eigentlich alle ganz nett. Magst du uns nicht mehr?«

»Das ist es nicht.« Jessica legte den Kartoffelschäler auf die Küchenablage und starrte aus dem Fenster.

»Nein? Was ist es dann?« Matthew liess nicht locker. Seine Hand berührte schüchtern ihren Arm. Jessica zog ihn zurück, als sei er aussätzig.

»Ich dachte«, fuhr Matthew fort, »wir alle denken, du seist böse auf uns. Aber wir wissen nicht warum, ehrlich.«

Jessica zuckte die Achseln. Sie konnte es nicht erklären. »Es ist wegen mir«, murmelte sie. »Ich bin unmöglich.«

Matthew trat einen Schritt zurück und musterte seine Mutter. »Du meinst, nicht wir sind es, die du nicht magst, sondern du selbst?«

»Ja, ganz recht. Ich mag mich nicht. Ich habe einen Dachschaden.«

»Da kann ich dir auch nicht helfen«, sagte Matthew, schnappte sich eine Tüte Chips, die auf dem Tisch lag, und verliess die Küche mit schlurfenden Schritten.

Ihre Augenlider fingen an zu zucken, als sie in die Gegenwart zurückkehrte. »Ja, ja, wen kümmert es denn schon, wie ich mich fühle.«

Jessica erhob sich, ging hinunter in die Küche, holte eine Tüte eiskalte Milch aus dem Kühlschrank und begab sich damit wieder nach oben. Nachdem sie sich wieder an den Schreibtisch gesetzt hatte, wanderten ihre Gedanken zum gestrigen Tag, kurz vor ihrer Abreise. Sie hatte sich betont fröhlich und unbekümmert gegeben und den ganzen Tag gesungen und vor sich hingepfiffen. Ihr Mann und die Kinder waren ganz verwirrt und wussten nicht mehr, was sie von Jessica halten sollen. Erst war sie nur unfreundlich und empfindlich gewesen, dann bösartig, dann theatralisch. Und dann diese plötzliche Fröhlichkeit, die so aufgesetzt wirkte, dass Alice erschrak. Nur Matthew wunderte sich nicht. Er nahm die Dinge stets, wie sie waren. Er kümmerte sich nicht, ob sie sich seit gestern verändert hatten. Er konnte sich sowieso nur schwer an gestern erinnern.

Jessica schrak aus ihren Gedanken auf, als das Telefon klingelte. Sie polterte die Holztreppe hinunter, in das grosse Wohnzimmer mit den wuchtigen Möbeln, und riss den Hörer von der Gabel. »Hallo«, keuchte sie.

«Wer ist da?«, fragte sie, als keine Antwort kam. Während sie lauschte, schaute sie fragend zu dem Hirschkopf hinauf. Der Hirsch sagte auch nichts. In der offenen Leitung waren keinerlei Geräusche zu vernehmen. Kein lautes Atmen oder Keuchen, wie das bei den meisten anonymen Anrufen so üblich war. Es kam ihr so vor, als wäre die Person am anderen Ende tot. Oder war die Leitung tot?

Nein, ziemlich sicher handelte es sich um einen Witzbold, deshalb schwieg sie ebenfalls. Selber schuld, dachte sie, das Gespräch, oder besser gesagt das lange Schweigen, geht ja nicht zu Lasten meiner Telefonrechnung.

Während sie immer noch am Telefon horchte, erinnerte sie ihre schmerzende Hüfte wieder an den unliebsamen Besuch am Morgen, und daran, was sie an diesem sonnigen Tag alles hätte tun können.

Nach einer Minute wurde es ihr langsam unheimlich. Ihr fiel ein, dass sie diese Telefonnummer, ausser ihrer Familie, niemandem gegeben hatte.

War es wirklich nur Zufall, dass jemand irgendeine Nummer eingetippt hatte und ausgerechnet bei ihr gelandet war? Schnell warf sie den Hörer auf die Gabel.

Sie wartete noch eine Weile, doch das Telefon blieb stumm. Trotzdem hatte sie jetzt ein eigenartiges Gefühl. Sie griff sich den Feuerhaken, der neben dem Kamin in seinem Messinggestell hing, und marschierte kriegerisch durch das Haus. Sie ging von Zimmer zu Zimmer, schaltete überall das Licht ein und bald leuchtete das Haus aus allen Fenstern.

Danach tat ihre Hüfte noch mehr weh. Sie humpelte in die Küche zum Kühlschrank hinüber, wo sie eine Tüte gefrorene Erbsen aus dem Tiefkühlfach nahm. Das tiefgefrorene Gemüse eignete sich hervorragend zum Kühlen ihrer Prellung. Ächzend stützte sie sich auf den Küchentisch, während sie ihr Hausmittel auf die schmerzende Stelle auf ihrer Hüfte drückte. Schwer zu sagen, ob die Kälte den Schmerz linderte oder alles noch viel schlimmer machte. Auf jeden Fall half sie gegen die Schwellung.

Nach einer Weile löschte sie das Licht in der unteren Etage und ging wieder nach oben. Sie hatte sich bestimmt wieder einmal in etwas hineingesteigert.

Ein anonymer Anruf und schon drehte sie durch. Was würde passieren, wenn sie wieder einen Nervenzusammenbruch bekam? Gummizelle oder eine weitere Psychotherapie?

Im Arbeitszimmer angekommen, schaltete sie den Computer aus. Jetzt hatte sie keine Lust mehr zu schreiben. Was hatte sie denn schon geschafft? Nichts.

Und an ihre Geburt konnte sie sich ja in Wirklichkeit gar nicht erinnern. Sie beschloss, am morgigen Tag ein spannenderes Kapitel aus ihrem Leben aufzuschlagen und ging früh ins Bett.

Der Vermieter

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