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Tag 4

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Im Morgengrauen, kurz vor sechs Uhr, klingelte das Telefon. Jessica dachte, es läutet in ihren Träumen. Wer auch immer anrief, gab nicht auf. Schliesslich öffnete sie die Augen und merkte, dass sie sich das nicht nur einbildete. Sie stand auf und polterte die Treppe hinunter zum Telefonapparat.

Am Hörer meldete sich Mr. Finch, der eine dringende Frage hatte: »Funktioniert das Telefon wieder?«

Jessica war ausser sich. »Soll das ein Witz sein?«

Mr. Finch lachte schallend. »Nein, das ist kein Witz. Aber die Frage hat sich natürlich automatisch beantwortet.«

»Sonst noch was?« Jessica war stinksauer.

»Ja, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Ich glaube, es gab da ein kleines Missverständnis. Das Mädchen, das gestern ihre Mutter verlangt hatte, war, glaube ich, nicht Ihre Tochter. Ich hatte eben automatisch angenommen, dass es Ihre Tochter sei und deshalb bin ich bei Ihnen so spät noch vorbeigekommen.«

»Und dann haben Sie automatisch gedacht«, sagte Jessica mürrisch, »jetzt rufe ich, um sechs Uhr in der Früh, Mrs. Greene an, um ihr das mitzuteilen.«

»Oh, habe ich Sie geweckt?«

»Ja, was denken Sie denn?«

»Sie sind wohl eine Eule. Ich bin eine Lerche ...«

Jessica hatte wirklich keine Lust, mit dem Ornithologen weiter zu diskutieren und fiel ihm ins Wort: »Ich muss jetzt noch eine Runde schlafen. Gute Nacht, Mr. Finch.«

Nachdem Jessica mit einer ziemlich heftigen Bewegung den Hörer aufgeknallt hatte, begab sie sich zurück ins Schlafzimmer und legte sich wieder aufs Ohr. Aber sie konnte nicht mehr einschlafen. Die Geschichte mit der anderen Tochter und der anderen Mutter gab ihr zu denken. Das Telefon hatte gestern Abend nicht funktioniert, das stimmte. Das Handy funktionierte nicht, das stimmte oder wenigstens konnte es stimmen.

Ach, sie wusste es doch auch nicht. Sie hatte viel zu wenig geschlafen und bohrende Kopfschmerzen dazu. Kein Wunder, dass sie nicht klar denken konnte.

Sie rollte sich von ihrem Bett und stellte sich unter die Dusche. Nachdem sie ein paar Mal zwischen kaltem und warmem Wasser gewechselt hatte, liessen die Schmerzen nach. Sie verteilte eine sündhaft teure Bodylotion auf ihrem Körper, der, wie sie feststellte, dank konsequentem Verrichten von Pilatesübungen, beinahe so fest und straff war, wie der einer Zwanzigjährigen und hüllte sich in den Bademantel.

Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass sich der milchige Nebel in Luft aufgelöst hatte. Das frühe Morgenrot glühte über den Bergen und ein frischer Wind rauschte durch die Tannen.

Sie beschloss, ihre Familie schnell anzurufen, solange die Kinder und ihr Mann das Haus noch nicht verlassen hatten.

Im Telegrammstil teilte sie ihnen mit, dass das Telefon wieder funktionierte, alles ein blödes Missverständnis war, sie dabei total überreagiert habe, kein Grund zur Sorge bestünde und es ausserdem absolut toll sei in diesen Bergen.

Jessica ging in die Küche, machte sich einen Kaffee, schob zwei Scheiben Brot in den Toaster und wartete, bis das Brot knusprig genug war. Während sie ihr Brot mit der selbst gemachten Himbeermarmelade bestrich, fiel ihr wieder der Finchklon ein.

Nein! Kein Finchklon! Kein Mr. Finch!, rief sie sich ins Gedächtnis. Heute nicht! Morgen nicht!

Als ein goldener Sonnenstrahl in die Küche drang, ging sie ans Fenster und blickte nach draussen. Der Himmel war wolkenlos und von einem unglaublichen Blau, wie sie es sonst nur von Postkarten kannte.

Sie beschloss, den wundervollen Tag zu nutzen, um joggen zu gehen.

Eine halbe Stunde später war sie bereits unterwegs. Ein schmaler Weg führte vom Haus den Abhang hinunter.

Jessica trug einen leichten roten Trainingsanzug und weisse Turnschuhe. Über den Kopf hatte sie sich eine Wollmütze gestülpt. Sie war schon lange nicht mehr gelaufen. Anfangs fror sie und ihre Hüfte tat noch weh. Aber dann liessen die Schmerzen etwas nach und sie fand allmählich ihren Rhythmus.

Nach ein paar Minuten blieb sie stehen, stemmte die Hände in die Hüften und rang keuchend nach Luft. Ich bin total aus der Übung. Wer rastet, der rostet. Das hat schon was.

Weiter unten, zwischen vertrockneten und zerbrochenen Teilen abgestorbener Unkräuter, verliess eine Maus ihr Versteck. Als sie jedoch Jessica erblickte, huschte sie schnell zurück. Jessica bückte sich, um ihre Schnürsenkel neu zu binden.

»Keine Angst, ich tue dir nichts, kleines Mäuschen«, sagte Jessica, während sie an Ort und Stelle trat und mit den Armen ruderte, ehe sie weiterrannte.

Nach hundert Metern blieb sie erneut stehen und inhalierte bewusst die köstliche, frische Luft. Ihr Blick fiel dabei auf eine Scheune, die von Bäumen nahezu verdeckt war. Der Garten sah verwildert aus. Der Schuppen war fleckig und morsch. Der Zaun hatte sich in seiner ganzen Länge bedenklich zum Boden geneigt.

Jessica verharrte eine Weile am Fleck, starrte auf die Scheune und fragte sich, wem sie wohl gehörte und was sie wohl verbergen mochte.

Ziemlich sicher zählte diese Scheune zu Mr. Finchs Besitz. Ihm gehörte das gesamte Grundstück rund um die beiden Wohnhäuser.

Mit klopfendem Herzen schritt Jessica auf die verfallene Scheune zu und spähte durch die Ritzen zwischen den morschen Balken ins Innere. Es war nicht viel zu erkennen und sie hatte keine Ahnung, weshalb sie das dringende Bedürfnis verspürte, in einem Geräteschuppen herumzuschnüffeln.

Sie blickte sich um, ob sich etwas in der Gegend bewegte. Es war nichts zu sehen, und so war sie überzeugt, dass niemand in der Nähe war. Sie klopfte an die morsche Brettertür, die nach einer kleinen Weile nachgab. Knarrend schwang die Tür zurück. Mit einer ihr sonst fremden Neugier betrat Jessica die Scheune, wo sie mit einem verrosteten Rasenmäher zusammenprallte und leise in sich hineinfluchte.

Gegenüber der Tür befand sich knapp unterhalb des Daches ein quadratisches, schmutziges Fenster von ungefähr fünfzig Zentimetern, durch das ein breiter Lichtstrahl auf den Boden fiel. In einer Ecke lag ein Haufen leerer Konservendosen, an einem Nagel in der Wand hing eine Männerjacke aus braunem Leinen, schmutzig und mit Harzflecken übersät. Der Boden war nackter Waldboden, in dem ab und zu ein Grashalm spross. Spaten, Schaufel und Rechen lehnten an der Wand.

An der linken Wand des Schuppens hing ein Klapptisch mit rostigen Scharnieren, daneben stapelten sich verschiedene Werkzeuge in einem Holzregal.

Jessica kratzte sich hinter dem Ohr. Sie hätte sich den Baseballschläger schenken können, in dieser Scheune gab es unzählige Waffen. Nebst dem üblichen Handwerkzeug fand sie eine Elektroheckenschere, eine Benzinkettensäge und eine Schlagbohrmaschine.

Sie ging ein paar Schritte weiter in die Scheune hinein.

Ein Schrank, der neben dem Regal stand, hatte ihr Interesse geweckt. Zielstrebig ging sie auf das Möbelstück zu. Die dünne Lattentür leistete keinen Widerstand, das einfache Schloss sprang unter dem ersten stärkeren Druck auf. Jessica wusste nicht, was sie zu finden erwartete, was sie aber fand, entlockte ihr den Ruf grösster Überraschung.

An einem Kleiderbügel, an der Stange, hing ein langer schwarzer Mantel. Der leichte Sommermantel war ein teures Stück aus Seide. Im Futter der Innentasche fand sie eine verblasste Quittung. Das einzig Lesbare darauf waren die Zahl acht und der Buchstabe Z. Darüber, auf dem einzigen Tablar, lag ein schwarzer Hut. Der Hut bestand aus schwarzem, sehr feinem Filz, das Schweissband trug die gelochten Initialen NF.

»Norbert Finch«, sagte sie laut. Lange betrachtete sie die beiden Teile, während sich auf ihrer Stirn immer mehr Schweiss bildete. Irgendwie hatte sie ein Aha-Erlebnis, das sie nicht so richtig einordnen konnte. Nachdenklich starrte sie vor sich hin.

Was sollte daran ungewöhnlich sein?, fragte sie sich. Ein Mantel und ein Hut, die Mr. Finch gehören! Ausserdem habe ich hier drinnen absolut nichts verloren!

Gerade als sie die Scheune verlassen wollte, fiel ihr Blick auf eine Schubkarre, die mit Erde gefüllt war. Immer noch neugierig schob sie das unhandliche Teil ein Stück nach vorne und sah, dass hier die Erde mit Schuhen festgestampft worden war.

Entschlossen griff sie nach dem Spaten, der an der Wand lehnte, und stiess ihn in den Boden. Das Stichblatt traf auf Widerstand. Sie fing an zu graben. Etwa zwanzig Zentimeter unter dem Boden trat etwas Weisses zum Vorschein. Sie kniete nieder und buddelte schliesslich mit den Händen weiter, wie ein Hund der seinen selbst vergrabenen Knochen wieder haben wollte.

Eine Pappschachtel kam zum Vorschein. Vorsichtig hob sie die Schachtel aus der Grube und betrachtete sie neugierig von allen Seiten. Was fällt mir eigentlich ein? Ich grabe in einer fremden Scheune private Sachen aus! Vielleicht hat hier jemand sein totes Haustier vergraben. Eine Katze oder eine Ratte!

Die Schachtel war mit Klebeband verschlossen. Als sie mit den Fingernägeln am Klebeband kratzte, brach ihr dabei ein Nagel ab und sie hatte wie immer keine Feile zur Hand.

»Nein! Das glaube ich jetzt aber nicht!« Einen Fingernagel abzubrechen, ist so ziemlich das Schlimmste, was einer Frau widerfahren kann.

Das ist die Strafe, wenn man in fremden Sachen herumschnüffelt, sagte sie sich. Aber sie konnte es einfach nicht lassen. Sie erhob sich und suchte im Werkzeugregal nach einem spitzen Gegenstand. Ihr Augenmerk richtete sich dabei auf ein Messer mit einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge – offenbar ein Sammlerstück, das einen apfelgrünen Jadegriff und eine schmale beidseitige Schneide hatte.

Sachte durchtrennte sie damit das Klebeband.

Meine nächste Strafe wird sein, dachte sie, dass sich in dieser Schachtel eine Bombe befindet.

Sie hob ganz vorsichtig – in Bereitschaft in Deckung zu gehen, falls der Sprengstoff hochging – den Deckel ab.

Erschrocken starrte sie auf den kleinen Körper, der vor ihr in der Schachtel lag – auf den Körper einer Puppe! Sie trug ein rotes Kleid, hatte blonde Haare und ihre blauen Augen waren weit geöffnet.

Warum macht sich jemand die Mühe, eine Puppe unter der Erde zu vergaben?, wunderte sie sich. Sehr merkwürdig!

Dann sah sie, dass daneben noch eine Schachtel vergraben war. Sie hob sie aus. Wieder eine Puppe!

Sie entdeckte weitere Pappkartons. In jeder davon kam eine Puppe zum Vorschein. Sie sahen unterschiedlich aus, aber alle waren alt und abgenutzt. Sie schätzte, dass die Puppen aus den Siebzigerjahren stammten. Was war das hier?, fragte sie sich. Ein Puppenfriedhof?

Sie öffnete die fünfte und letzte Schachtel und wurde leichenblass. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den Pappkarton.

Da lag Veronika! Jessicas Puppe!

Mit zitternden Fingern nahm sie die Puppe aus der Schachtel und hob sie hoch.

Jessica war fassungslos. Es war eindeutig ihre Puppe! Sie hatte braunes, langes Haar, trug ein dunkelblaues Wollkleid, welches ihre Mutter selbst gestrickt hatte, dazu weisse Strumpfhosen und schwarze Lackschuhe. Als Veronika ihre blauen Augen aufklappte, drückte Jessica sie ganz fest an sich.

Dann plötzlich liess sie die Puppe los. Nein, das konnte unmöglich Veronika sein! Nie im Leben! Schliesslich sahen doch alle Puppen ähnlich aus und ihre war ja schliesslich kein Unikat.

Aber das dunkelblaue Wollkleid musste ein Einzelstück sein. Oder?

Sie konnte sich noch gut daran erinnern, an den Tag, an dem sie ihre Puppe bekommen hatte. Sie war fünf Jahre alt. Es war kurz nachdem sie im Schwimmbecken beinahe ertrunken und anschliessend wiederbelebt worden war – wahrscheinlich eine Freudsche Fehlleistung – denn das Wasser war nur knietief. Irgendwie war ihre Mutter damals schon ein wenig geschockt, als Jessica, das heisst natürlich als Jasmin, fast gestorben wäre.

Sie und ihre Puppe waren seither unzertrennlich. Sie sah es nun ganz deutlich vor sich: Jasmin mit Veronika auf dem Arm, wie sie sie pflegte und bemutterte, ihr den schönen Pyjama anzog und sie zu Bett brachte, sie überall mit herumschleppte, an die sie ihr ganzes Herz gehängt hatte.

Und jetzt war sie wieder da! Nach all den Jahren! Aber wie war das möglich? Wie konnte ihre Puppe aus Zürich nach Kanada gelangt sein? Wann hatte sie Veronika überhaupt verloren?

Ich verstehe gar nichts mehr! Wie lange bin ich eigentlich schon in dieser Scheune? Sie merkte plötzlich, dass sie grossen Durst hatte.

Sie blickte auf die Puppen hinab, die wie Kinder in ihren Särgen lagen.

Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte doch nicht alle Puppen mitnehmen. Sie beschloss fürs Erste, die Puppen wieder an ihren Platz zu legen. Sie verschloss sämtliche Pappschachteln und legte sie behutsam in die Grube zurück. Ausser Veronika – ihre Puppe wollte sie nie mehr hergeben. Dann schaufelte sie das Massengrab wieder zu.

Sie erhob sich aus ihrer knienden Haltung und klopfte sich mit beiden Händen die Erde von ihrer Jogginghose. Zusammen mit Veronika, und dem Messer mit dem Jadegriff, verliess sie die Scheune und ging den gleichen Weg zurück zum Haus.

Die Sonne schien immer noch und eine kühle Brise brachte die Baumwipfel zum Rauschen. Am wolkenlosen Himmel zog ein Bussard stolz seine Kreise. Als Jessica oben angekommen war, blieb sie abrupt stehen, als sie den Mercedes auf dem Kiesweg stehen sah.

Angesichts all dessen, was sie eben in der Scheune gefunden hatte, durchfuhr sie ein eisiger Schreck und sie überlegte, wie sie nun am besten reagieren sollte.

Als sie weiterging, erkannte sie, dass Mr. Finch im Wagen sass. Offensichtlich war er schon länger hier und bereits im Begriff, wieder abzufahren. Sie versteckte ihre Puppe und das Messer hinter ihrem Rücken, als das Fahrerfenster geräuschlos hinunterglitt und Mr. Finch sagte: »Schön Sie zu sehen, Mrs. Greene. Wie ich sehe, haben Sie einen Spaziergang gemacht bei diesem schönen Wetter.«

»Ja«, erwiderte Jessica bemüht freundlich. »Ich war joggen.«

»Sind Sie gestürzt?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Auf Ihrer Kleidung befindet sich Erde.«

Jessica lachte übernatürlich auf. »Ja, stimmt. Ich bin tatsächlich hingefallen, es geht ja auch sehr steil bergab.«

Mr. Finch begann ebenfalls zu lachen. »Ja, da muss man schon aufpassen. Gefällt es Ihnen hier oben in den Bergen?«

»Ja, es gefällt mir sehr gut«, antwortete Jessica.

»Die Luft ist gut«, sagte Mr. Finch. »Ich hatte eine Lungenentzündung, und davon blieb ein Geräusch in der Lunge zurück. Nichts allzu Schlimmes, aber der Arzt meinte, das Beste für mich wäre die frische Luft in den Bergen. Ich bin inzwischen zweimal geröntgt worden, und das Geräusch ist fast verschwunden. Nicht mehr lange und ich brauche mir wegen meiner Gesundheit keine Sorgen mehr zu machen.«

Jessica verdrehte innerlich die Augen und sagte: »Bestimmt nicht.«

»Ich bin so gesund wie ein Fisch im Wasser«, fuhr der alte Mann fort. »Frische Eier und Milch, das ist es, was ich brauche! Im Sommer werde ich schon so dick sein, dass ich kaum mehr durch die Tür komme.« Mr. Finch brach in ein schallendes Gelächter aus.

Jessica bemühte sich mitzulachen. Künstlicher und aufgesetzter hätte ihr Lachen nicht sein können.

»Ich muss jetzt leider wieder los«, krächzte Mr. Finch, als er sich von seinem Lachanfall wieder erholt hatte. »Trinken wir wieder mal einen Kaffee zusammen?«

Jessica hatte einen Krampf im rechten Arm. Mr. Finch durfte ihre Puppe, deren Arme und Beine leblos herabbaumelten und die schöne Waffe, die sie in der Scheune gefunden hatte, auf gar keinen Fall sehen. Im Moment hätte sie ihm alles zugesagt. Sie wollte einfach so schnell wie möglich ins Haus. Deshalb sagte sie schnell: »Klar doch, jederzeit.«

»Ich freue mich jetzt schon«, sagte Mr. Finch. »Geniessen Sie den Tag.« Er liess den Motor an und rollte über den Kies davon.

Jessica hob zum Abschied die freie Hand und wartete, bis sein Auto ausser Sichtweite war, bevor sie sich hastig zur Haustür begab. Als sie die Tür mit dem grossen Schlüssel aufschloss und die Türklinke niederdrückte, stutzte sie einen Moment. Die Türklinke fühlte sich ganz klebrig an.

Ein ungutes Gefühl beschlich sie. War Mr. Finch während ihrer Abwesenheit in das Haus hineingegangen? Hatte er zuerst wieder geklingelt, dann an die Tür gepoltert und durchs Schlüsselloch hindurch ihren Namen geschrien?

Als Jessica ins Haus ging, zog sie die Tür zu und schaute sich im Wohnzimmer um, ob irgendetwas fehlte. Sie hatte keine Ahnung, was das hätte sein können. Das Zimmer war eigentlich genauso, wie sie es vor einer guten Stunde verlassen hatte. Trotzdem wurde sie das unangenehme Gefühl nicht los und ihre Gedanken begannen, sich zu überschlagen.

Aber weder im Schlafzimmer noch im Arbeitszimmer fand Jessica etwas Ungewöhnliches. In der Küche jedoch entdeckte sie einen roten Fleck auf dem Boden. Sie kniete nieder und roch daran. Es war Himbeermarmelade. Das war ja nun wirklich nichts Aussergewöhnliches. Die Marmelade stammte von ihrem Frühstück und schliesslich kleckerte sie ständig.

Im Wohnzimmer stellte sie dem Hirsch ihre Puppe Veronika vor. Dann ging sie nach oben, duschte, schlüpfte in eine bequeme Jeans und zog sich einen grossen lilafarbenen Pullover über. Gewöhnlich zog sie sich besser an, doch heute war ihr nicht danach.

Sie holte eine Nagelfeile aus ihrer Handtasche, setzte sich zu Veronika auf die Couch und fing an, sich den abgebrochenen Fingernagel zu feilen.

Während sie ihre Nägel betrachtete, dachte sie an die vielen Puppen und an den schwarzen Mantel, den sie im Schrank gefunden hatte.

Was hatte das alles zu bedeuten? Wem gehörte dieser Mantel? Wem gehörten diese Puppen? Und die Frage aller Fragen lautete: Was machte ihre Puppe, die sie im Alter von sechs Jahren in Zürich verloren hatte, in einer Pappschachtel, in einer Scheune, in den Bergen, in Kanada?

»Sechs Jahre?«, sagte sie laut. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich war damals sechs Jahre alt.« Aber sie konnte sich nicht erinnern, wo genau sie ihre Puppe verloren hatte.

Plötzlich fiel ihr ein, dass sie immer noch nichts getrunken hatte und ging in die Küche. Anstelle eines Glas Wassers schenkte sie sich Wein ein. Aber dann hielt sie es doch nicht für so eine gute Idee und schüttete den Wein in die Flasche zurück. Dabei glitt ihr das Glas aus der Hand und zerbarst klirrend auf dem Boden.

Ist das jetzt die Strafe dafür, dass ich wieder mit dem Trinken aufhören wollte?, fragte sie sich, während sie die Scherben einsammelte, sich dabei in den Finger schnitt, und das Blut auf ihren Pullover tropfte.

Nachdem sie ihre Wunde verarztet hatte, setzte sie sich wieder zu Veronika ins Wohnzimmer. Sie schloss die Augen und sah ein kleines Mädchen vor sich, mit roten Pausbacken, grossen braunen Augen und mit ein paar Sommersprossen um das feine Näschen. Jasmin hatte ein weisses Taschentuch um ihr haselnussbraunes Haar gebunden. Sie kniete an einem Puppenbettchen, hatte ein winzig kleines Löffelchen in der Hand, hob mit der anderen Veronikas Köpfchen sorgsam empor und schob ganz vorsichtig ein Löffelchen imaginären Brei nach dem anderen in den winzigen Puppenmund. Dann kam die Mutter ins Kinderzimmer gerollt und sagte, dass es kein Backpulver mehr habe, und Jasmin sofort einkaufen gehen müsse.

Diese Erinnerung löste irgendetwas in ihr aus. Und während sie immer mehr Gestalt annahm, versuchte ein anderer Teil ihres Bewusstseins, sie zu unterdrücken, bevor sie Schaden anrichten konnte. Jessica öffnete die Augen und schüttelte den Kopf so heftig, dass es schmerzte. Sie wollte nicht länger an ihre Mutter denken.

Der Tag hatte, mal abgesehen von dem Anruf des Vermieters, so gut angefangen und jetzt war ihre Stimmung schon wieder auf dem Tiefpunkt angelangt. Ausserdem hatte sie der Gedanke an den Vermieter wieder nervös werden lassen. Sie fühlte sich erneut unwohl bei der Vorstellung, der alte Mann könnte während ihrer Abwesenheit in ihren Sachen herumstöbern.

Nachdem sie etwa eine Stunde einfach nur dagesessen und in den leeren Kamin gestarrt hatte, zog sie das Telefon heran. Sie musste ganz dringend mit jemandem reden und beschloss ihre Freundin anzurufen. Als sie mit dem Zeigefinger die Wählscheibe drehte, brach ihr dabei fast wieder ein Nagel ab.

»Hola«, meldete sich schliesslich eine Männerstimme, als Jessica – nach gefühlten hundert Klingeltönen – gerade wieder auflegen wollte.

Na grossartig, dachte Jessica. Der feurige Spanier ist wieder zu Besuch. Sie konnte Natalies Toy Boy geradezu vor sich sehen, wie er mit braun gebranntem, nacktem Oberkörper in Natalies Wohnzimmer stand, seine langen schwarzen Haare in den Nacken warf und mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck in die Hörmuschel sprach.

»Hola. Ich bin es, Jessica. Kann ich mit Natalie sprechen?«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Jessica wartete geduldig. Doch dann riss ihr der Geduldsfaden und sie schrie in die Sprechmuschel: »Hallo! Oder hola! Bist du noch da?«

»Si«, kam es zurück.

»Kannst du bitte Natalie ans Telefon holen?«

»Si, momentito.«

»Gracias«, murmelte Jessica, lief im Wohnzimmer auf und ab, und schleppte das altmodische Telefon mit sich herum.

Nach etwa drei Minuten ertönte das Freizeichen.

»Das glaub ich jetzt aber nicht!« Frustriert knallte Jessica den Hörer auf die Gabel und setzte sich wieder auf die Couch.

Was ist bloss los mit mir? Zuerst kann ich es nicht erwarten, bis ich endlich meine Ruhe habe, flippe sogar aus, wenn der Vermieter an der Tür läutet und zum Kaffeekränzchen hereinschneit.

Und jetzt fühle ich mich total einsam. Ich spreche mit meiner Puppe und einem ausgestopften Hirschkopf, als ob sie lebendige Wesen wären.

Ich bin nicht ganz normal.

Wieder starrte sie mit leerem Blick in den Kamin. Ich habe hier weder einen Fernseher noch eine Zeitung und somit keine Ahnung, was in der Welt gerade vor sich geht. Vielleicht herrscht da draussen ein Atomkrieg, vielleicht ist der Vulkan im Yellowstone Nationalpark ausgebrochen, oder gar die Lungenpest!

So kann es nicht weitergehen, sagte sie sich. Und mit einem Mal fiel ihr etwas ein, womit sie ihre trüben Gedanken vertreiben konnte. Zu ohrenbetäubender Musik im Zimmer herumzutanzen, das würde Glückshormone in ihrem Körper freisetzen und dann würde sie sich gleich besser fühlen.

Sie verliess das Wohnzimmer und ging die Treppe hoch. Das Knarren der hölzernen Treppenstufen nervte genauso wie die quietschenden Türen. Ihr Haus in Calgary war brandneu gewesen, als sie es vor fünf Jahren gekauft hatten. Deswegen fiel es ihr schwer, sich an all die unheimlichen Geräusche in diesem alten Haus zu gewöhnen.

Im Arbeitszimmer holte sie den transportablen CD-Player, immer noch in der Originalverpackung, den sie eigens für ihren Aufenthalt in den Bergen gekauft hatte und eine Plastiktüte, vollgestopft mit CDs.

Zurück im Wohnzimmer packte sie den CD-Player aus, wühlte in der Plastiktüte und entschied sich für KC and the Sunshine Band. Sie legte die CD ein, drehte den Lautstärkeregler bis zum Anschlag, schlüpfte aus ihren Pantoffeln und fing an, mitzutanzen und mitzusingen.

Track drei war vorbei. Die Musik war wie Doping für sie. Ihre Stimmung schoss zunehmend in die Höhe. Es gab eine kurze Pause, dann kam Track vier. Wieder sang Jessica lauthals mit und tanzte wie wild dazu.

Nach einer Weile hörte Jessica in der Musik etwas, das sie irritierte. Sie konnte es nicht gleich zuordnen. Dann verschwand es wieder und sie hörte auf, darüber nachzudenken. Sie tanzte weiter und sang aus voller Kehle mit: »I‘m your Boogie Man!«

Ein paar Takte später war es wieder soweit. Ein unbestimmtes Gefühl, über dessen Ursprung sie sich nicht klar war, bedrückte sie. Irgendetwas in der Melodie löste in ihrem Kopf Bilder aus. Bilder von dem Schrank in der Scheune. Bilder vom schwarzen Mantel.

Sie hielt inne mit dem Gesang, tanzte aber weiter von einer Seite auf die andere. Dann blieb sie abrupt stehen und drückte die Pausetaste. Es war nicht die Melodie, die ihr Angst machte, es war der Text: I‘m your Boogie Man.

Eine Erinnerung blitzte in ihrem Gedächtnis auf. Boogie Man! Das Wort war ihr in einem anderen Zusammenhang untergekommen.

Aber weshalb sollte sie Angst vor dem schwarzen Mann haben? Während ihrer Kindheit in der Schweiz hatte man sich keine Geschichten vom schwarzen Mann erzählt.

Jessica setzte sich hin. Sie fühlte sich elend und verängstigt.

Ihr fiel die Hypnosesitzung wieder ein.

Es muss etwas mit meinem Gehirn passiert sein, dachte sie, dass Discomusik für mich jetzt so klingt, wie der Soundtrack zu einem Horrorstreifen.

Sie erwog einen Moment lang, ihren Psychiater anzurufen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Was sollte sie ihm denn sagen?

Hallo Dr. Goldsmith. Ich höre gerade KC and the Sunshine Band und ängstige mich dabei zu Tode. Oder, was haben Sie mit meinem Gehirn angestellt? Seit der Hypnosesitzung ticke ich nicht mehr richtig!

Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, meine Gedanken aufzuschreiben, überlegte sie und ging hinauf ins Arbeitszimmer.

Jessica setzte sich an den Schreibtisch und rückte den Sessel zurecht. Sie schaltete den Computer ein und starrte in den leeren Bildschirm. Der Cursor blinkte ungeduldig.

Dann kamen ihr Erinnerungen ungehindert in den Sinn und sie schrieb:

ICH MUSSTE DEN GANZEN HAUSHALT MACHEN, PUTZEN UND WASCHEN. ICH MUSSTE SOGAR AUF DEM BODEN HERUMKRIECHEN UND JEDEN TAG MEHRMALS DIE TEPPICHFRANSEN KÄMMEN. OBWOHL ICH MIR SEHR GROSSE MÜHE GAB, HATTE MEINE MUTTER STÄNDIG ETWAS ZU MECKERN. MEINE MUTTER WAR AUTORITÄR UND SCHROFF, LIESS KAUM EINE ANDERE MEINUNG ALS IHRE EIGENE GELTEN.

Jessica streckte sich und bewegte vorsichtig ihren Nacken, atmete tief durch und liess die Schultern kreisen. Dann fuhr sie fort:

AN DEN SCHULFREIEN NACHMITTAGEN MUSSTE ICH DIE GESAMTE WÄSCHE BÜGELN. DAS FIEL MIR VOR ALLEM IM SOMMER SCHWER. DA WAR ES SEHR HEISS UND ICH WUSSTE, DASS MEINE SCHULKAMERADEN JETZT IM FREIBAD HERUMPLANSCHTEN UND IHREN SPASS HATTEN.

Jessica starrte auf den Bildschirm und las, was sie geschrieben hatte. Beim Lesen verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen zu einem seltsamen Muster. Sie blinzelte immer wieder, bis die Buchstaben aufhörten zu verschwimmen. Dann schrieb sie weiter:

MEINE MUTTER SCHICKTE MICH STÄNDIG ZUM EINKAUFEN. KAUM WAR ICH WIEDER ZU HAUSE, FIEL IHR NOCH ETWAS EIN, DAS SIE VERGESSEN HATTE, MIR AUFZUSCHREIBEN UND SCHICKTE MICH GLEICH WIEDER LOS.

AUCH AN DIESEM TAG, ALS ICH MIT VERONIKA IN DEN SUPERMARKT GING UND DIESER ...

Jessicas Hände fingen plötzlich an zu zittern. Auf ihrer Stirn entstanden Schweissperlen und das Atmen bereitete ihr grosse Mühe.

Sie schaute auf die Uhr auf dem Bildschirm und konnte nicht glauben, dass es schon acht Uhr war.

Jetzt habe ich wieder einen Tag verschwendet.

Morgen fange ich noch einmal neu an. Morgen wird alles gut. Am besten gehe ich früh ins Bett und schlafe meine Depression aus, dachte sie und schaltete den Computer aus.

Im Badezimmer putzte sie sich die Zähne, starrte dabei in den Spiegel und erschrak über das totenbleiche Gesicht mit den dunklen Ringen unter den Augen, das ihr entgegenblickte.

Was passierte vor vierunddreissig Jahren?

Ganz bestimmt war es hier zu seltsam, um länger zu bleiben. Dieses Haus, ja die ganze Umgebung war ihr unheimlich.

Obwohl, sie war doch gerade dabei, sich an alles zu erinnern, überlegte Jessica im nächsten Moment. Sie durfte noch nicht aufgeben. Sie musste der Sache auf den Grund gehen, egal, wie hart und hässlich die Wahrheit werden würde.

Jessica verliess das Badezimmer.

Im Schlafzimmer streifte sie sich mit den Füssen die Pantoffeln ab und ging zur Kommode. Sie zog die oberste Schublade auf, um einen frischen Schlafanzug herauszuholen. Doch dann machte sie die Schublade schnell wieder zu.

Hatte sich jetzt da gerade etwas bewegt?

Nein! Ich habe Halluzinationen, beruhigte sie sich.

Sie machte die Schublade wieder auf und blickte lange auf ihre Schlafanzüge. »Habe ich es doch gewusst, ich bin verrückt. Da hat sich nichts bewegt!«, sagte sie laut und griff mit ihren Fingern nach ihrem rosa Lieblingsschlafanzug. Doch ihre Finger fühlten etwas Kaltes.

Schnell zog sie ihre Finger heraus und schloss die Schublade wieder.

Was war das? Das hat sich eindeutig nicht wie Stoff angefühlt. Es war kalt und glitschig.

Ich bin doch nicht wahnsinnig!

Immerhin habe ich keine Haare gespürt, also kann es keine Vogelspinne sein, dachte sie erleichtert.

Erneut öffnete sie die Schublade.

Ihr Herz klopfte, das Zimmer drehte sich vor ihren Augen, als sie in die Schublade starrte. Zwischen ihren Schlafanzügen hockte ein Frosch.

Sie machte die Schublade schnell wieder zu und drückte mit beiden Händen dagegen. Sie hatte panische Angst vor Fröschen.

Aber wie ist der Frosch da rein gekommen?, fragte sie sich. Gibt es überhaupt Frösche in den Bergen Kanadas?

Jessicas Arme, mit denen sie mit aller Kraft und ihrem ganzen Gewicht die Schublade zuhielt, taten ihr jetzt von den Handgelenken bis zu den Schultern weh.

Hat ihr jemand absichtlich diesen Frosch in die Schublade gesetzt?

Aber warum würde sich jemand die Mühe machen, einen Frosch in ihrer Schublade zu verstecken?

Es sei denn, der Frosch ist giftig. Ihr stockte der Atem. Ein Pfeilgiftfrosch?

Wollte sie jemand umbringen?

Scheisssituation!

Giftig hin oder her. Sie konnte kein Tier töten. Vielleicht ist es ein ganz lieber Engmaulfrosch, überlegte sie. Eine vorbildliche Mutter oder ein Vater, der die Eier mit den Vorderbeinen so lange umklammert, bis die kleinen Kaulquappen zum Ausschlüpfen bereit sind! Oder ein südamerikanischer Nasenfrosch, ein fürsorglicher Vater, der die von der Mutter gelegten Eier in seinen aufgeblasenen Kehlsack schluckt, wo sich die Jungen ungestört entwickeln können.

Ich würde somit eine ganze Familie ausrotten, wenn ich den Frosch umbringen würde.

Aber was mache ich jetzt mit dem Frosch?

Wohin mit ihm?

Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass es in der Schublade womöglich ein Loch hatte, wo der Frosch beliebig ein- und ausgehen konnte.

Als Jessica die rechte Hand von der Schublade zurückzog, sah sie, dass der Schubladengriff in dem weichen Ballen unterhalb der Finger einen Abdruck gebildet hatte und die rote Kerbe in der Haut tat jetzt so weh, als hätte man ihr ein Brandzeichen verpasst. Sie zog auch die linke Hand zurück und versuchte einen Blick hinter die Kommode zu werfen. Aber sie stand zu dicht an der Wand.

Sie rückte das schwere Möbelstück ein wenig zur Seite, konnte aber keine Öffnung finden. Gar nichts. Keine Chance für den Frosch, in die Schublade hinein- oder hinauszuhüpfen.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Frosch aus der Schublade herauszunehmen. Sie holte die leere Schachtel, worin sich zuvor der transportable CD-Player befunden hatte, dann noch Handschuhe, Topflappen und eine Taschenlampe.

Sie zog sich die Wollhandschuhe über die Hände und öffnete ganz vorsichtig die Schublade. Ein kalter, heftiger Schauder durchlief ihren Körper. »Igitt!« Hastig zog sie ihre Hand zurück. »Tut mir leid Frosch, aber ich finde dich richtig eklig.«

Der Frosch schien beleidigt und hüpfte über Jessicas Hand hinweg aus der Schublade und Jessica sprang mit einem grossen Satz aus dem Schlafzimmer und knallte die Türe zu.

Zitternd und nach Luft ringend, setzte sie sich auf den Boden.

Das kann doch alles nicht wahr sein! Ich glaube, ich fantasiere! Ich sitze doch nicht wirklich in einem düsteren Haus in den Bergen und rätsle darüber, wie ich einen Frosch aus einer wurmstichigen Kommode herausbekomme?

Sie dachte sehnsüchtig an ihr luxuriöses Haus in Calgary. Welch herrliches Leben könnte sie dort führen, wäre ihre Seele nicht so kaputt.

In Wahrheit wusste sie nicht mehr, was sie eigentlich wollte. Was ihr vor ein paar Tagen noch wichtig vorkam, schien jetzt völlig unbedeutend. Sie hatte ihre Familie seit drei Tagen nicht gesehen, und das kam ihr sehr lange vor.

Während sie nachdachte, wurde ihr klar, dass sie einen schlimmen Fehler begangen hatte. Sie hätte ihr Buch genauso gut zu Hause schreiben können. Warum um alles in der Welt war sie in diese gottverlassene Gegend gekommen?

Nach einer Weile rappelte sich Jessica vom Boden auf. Ihr war ein bisschen übel, aber sie ignorierte das Gefühl. Sie war jetzt bereit, wieder in das Schlafzimmer zu gehen.

Jessica betrat den Raum und registrierte auf der Digitaluhr drei Minuten nach neun. Einmal mehr hatte sie wertvolle Zeit verschwendet!

»Hallo Frosch! Wo hast du dich versteckt? Komm raus, komm raus, wo auch immer du bist!«

Als ob der Frosch verstanden hätte, quakte er unter dem Bett hervor.

»Grossartig! Unter dem Bett versteckst du dich also!«

Jessica fiel auf die Knie und kroch auf allen vieren zum Bett und riskierte einen Blick darunter. Es war stockfinster unter dem Bett.

War das ein gutes Zeichen? Würde ein giftiger Frosch im Dunklen leuchten? Sozusagen fluoreszieren?

Lautlos und vorsichtig rutschte sie, mit der Taschenlampe und der leeren Schachtel bewaffnet, wie eine Schlange unter das Bett. Nicht einmal die Bodendielen knarrten unter ihr, während sie sich langsam vorwärts schob.

Sie knipste die Taschenlampe an und dann sah sie den Frosch. Wie ein kleiner Star hockte er in der Ecke, beleuchtet, wie auf einer grossen Bühne.

Vielleicht hat er die schwarze Spinne gefressen, dachte Jessica. Damit hätte er mir einen grossen Gefallen getan.

Kurz entschlossen kroch sie noch ein Stückchen weiter nach vorne, stülpte die Schachtel über den Frosch und schaffte es irgendwie, wieder zurückzukriechen, ohne sich dabei den Kopf zu stossen.

Nach einem kurzen Stossgebet verschloss sie die Schachtel und ging damit die Holztreppe hinunter.

Sie trug den Karton auf die Veranda hinaus, in der Absicht, den Frosch freizulassen und in der Hoffnung, dass ihr Kopf in der kalten Luft klarer werden würde.

Jessica atmete tief durch. Der Nachthimmel war sternenklar. Ein Quaken aus dem Inneren der Schachtel bestätigte, dass der Frosch wohlauf war.

Jessica öffnete die Schachtel, worauf der Frosch gleich heraushüpfte.

»Mach‘s gut Frosch! Tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennengelernt haben.«

Mit der leeren Schachtel unter dem Arm ging Jessica zurück ins Haus und verriegelte die Tür.

Hoffentlich erfriert er nicht, dachte Jessica. Aber er wird an diese Temperaturen schon gewöhnt sein.

Erst als sie wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte, wurde ihr bewusst, dass auch in den übrigen Schubladen irgendwelche unliebsame Gäste untergebracht sein könnten. Sie bückte sich hinunter zu der untersten Schublade, konnte sich aber nicht gleich überwinden, sie zu öffnen. Sie schaffte es nicht einmal, den Griff anzufassen, fürchtete sich vor dieser harmlosen Schublade und vor den sich darin befindenden Socken.

Als sie endlich genügend Mut gefasst hatte, zog sie die Schublade mit einem Ruck auf und knallte sie in der gleichen Sekunde wieder zu, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben. Absonderliche Bilder zogen vor ihrem geistigen Auge vorbei: Schlangen, Skorpione, Tausendfüssler, Hirschkäfer, bis hin zu Komodowaranen, alles wild durcheinander, in einer Schublade.

Wahrscheinlich bin ich jetzt wirklich am Durchdrehen. Ein Waran zwischen der Unterwäsche!

Vollkommen erledigt ging sie in die Küche, öffnete eine Flasche Rotwein, holte ein Glas aus dem Küchenschrank, füllte es bis zum Rand und nahm einen grossen Schluck.

Zur Feier des Tages zündete sie sich noch eine Zigarette an. So hatte sie sich ihren Urlaub eigentlich nicht vorgestellt. Sie wollte gesund leben, sich entspannen, sich das Rauchen abgewöhnen, und was sie schon gar nicht wollte, war, wieder mit Alkohol anzufangen.

Sie trank weiter, bis die Flasche leer war. Wenn sie die Augen schloss, wurde ihr sofort schwindlig, so dass sie angestrengt versuchte, sie offen zu halten, obwohl sie todmüde war.

Nach einer Weile wankte sie ins Wohnzimmer und warf sich auf die Couch. Sie hatte keine Kraft mehr, die Treppe hinauf ins Schlafzimmer zu gehen.

Um drei Uhr morgens allerdings hatte sie keine andere Wahl. Irgendwie schaffte sie es, die Treppe hochzukommen und ins Badezimmer zu stolpern, bevor sie sich übergeben musste. Während sie, über die Kloschüssel gebeugt, vor sich hinwürgte, wurde ihr bewusst, dass sie es innert vier Tagen geschafft hatte, sich das zweite Mal, nach übermässigem Alkoholkonsum, zu übergeben.

Hut ab!

Mit tränenden Augen, schmerzendem Hals und pochendem Schädel, bewegte sie sich vorsichtig in das Schlafzimmer, liess sich aufs Bett fallen und schlief wieder ein.

Der Vermieter

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