Читать книгу Der Vermieter - Andrea Sauter - Страница 7
Tag 5
ОглавлениеJessica verschlief den ganzen Morgen. Als sie ihre bleischweren Lider öffnete, wurde sie von grellem Sonnenlicht geblendet.
Mit zusammengekniffenen Augen richtete sie sich auf, legte sich aber gleich wieder hin. Sie hatte rasende Kopfschmerzen, so als hätte ihr jemand mit der Schaufel auf den Kopf geschlagen und ihr klebte vor Durst die Zunge am Gaumen.
Dabei fiel Jessica unweigerlich ein Friseurbesuch ein, den sie und Natalie, nach einer durchzechten Nacht, wahrgenommen hatten. Eine dreieinhalbstündige saure Dauerwelle!
Während Natalie auf dem Friseurstuhl in einen komatösen Schlaf gefallen war, hatte Jessica gegen einen qualvollen Durst angekämpft, indem sie hintereinander drei brühend heisse Espresso heruntergekippt und dann während des Haarspülens mehr oder weniger erfolglos nach der Brause geschnappt hatte.
Der Friseurbesuch wurde zum wahrhaftigen Höllentrip und das künstlich gekrauste Haar sackte nach wenigen Stunden wieder in sich zusammen. Darüber hatten sich die beiden Freundinnen später halb kaputt gelacht.
Jetzt war Jessica das Lachen vergangen. Wahrscheinlich für immer.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, was am gestrigen Abend vorgefallen war. Da war ein Frosch zwischen ihren Schlafanzügen gewesen! Oder hatte sie das nur geträumt?
Hatte sie auch geträumt, dass ihre Puppe Veronika, die sie vor vierunddreissig Jahren verloren hatte, wieder aufgetaucht ist?
Sie hatte keine Ahnung.
Schliesslich schälte sie sich langsam aus dem Bett und schleppte sich die Treppe hinunter in die Küche. Sie zog die Kühlschranktür auf und nahm eine Packung Orangensaft heraus. Gierig setzte sie sich den Karton an die Lippen. Die Hälfte davon tropfte auf ihren lilafarbenen Pullover. Sie hatte das Gefühl, dass die Flüssigkeit von ihrer ausgedörrten Schleimhaut gar nicht aufgenommen wurde.
Sie riss das Fenster auf und sog die kühle Luft tief in ihre Lungen. Rund um das ganze Haus herum lag der funkelnde Sonnenschein, während Jessica schwer verkatert in der Küche stand.
Ich muss mich jetzt endlich zusammenreissen!
Aspirin und eine kalte Dusche hatten Jessicas Zustand tatsächlich ein wenig gebessert. Und die Existenz von Veronika auf der Couch im Wohnzimmer bewies zumindest, dass sie den Verstand noch nicht völlig verloren hatte.
Im Schlafzimmer schaute Jessica sicherheitshalber in der Kommode nach, ob sich keine weiteren Frösche darin verirrt hatten. Sie zog die oberste Schublade auf und hob einen Stapel Schlafanzüge hoch, aber von Fröschen keine Spur. Das Gleiche tat sie mit den anderen Schubladen, aber in keiner davon befanden sich Frösche.
Sie hob die Matratze an, warf einen Blick darunter, schaute im Schrank nach und fand weder Frösche noch Spinnen.
Erleichtert ging sie ins Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein. Als sie las, was sie gestern Abend geschrieben hatte, fiel ihr plötzlich ein Erlebnis aus den späten Siebzigerjahren ein. Ein trüber Tag im November. Sie trug einen dunkelblauen Mantel, schwarze Lackschuhe und ein weisses seidenes Taschentuch in ihren langen dunkelbraunen Haaren. Sie sah sich als kleines Mädchen im Supermarkt stehen und erinnerte sich deutlich, wie sie in einem Regal nach Backpulver suchte. Ein grosser Mann, er trug einen langen schwarzen Mantel, war ganz nah an sie herangetreten und fragte sie: »Kann ich dir behilflich sein?«
Jessica hielt plötzlich inne. Ihr stockte der Atem.
Der schwarze Mann! The Boogie Man!
Ihr Mund fühlte sich plötzlich noch trockener an als nach dem Aufwachen. Sie stand auf und ging in die Küche hinunter, um ein Glas Wasser zu trinken.
Zurück im Arbeitszimmer gelang es ihr nicht, irgendein Bild von diesem Mann heraufzubeschwören, keins aus der Vergangenheit und keins aus der Zukunft.
Vielleicht fällt es mir ein, wenn ich weiterschreibe, dachte sie, während sie auf den Bildschirm starrte und die letzten beiden Worte las: UND DIESER ...
Sie schrieb weiter:
MANN AN MICH HERANTRAT UND MICH FRAGTE, OB ER MIR BEHILFLICH SEIN KANN. DER MANN TRUG EINEN LANGEN SCHWARZEN MANTEL UND EINEN SCHWARZEN HUT. ER MACHTE MIR ANGST. ICH WOLLTE NICHT, DASS ER MIR HILFT. SEIN GESICHT ...
Die Haustürklingel schellte.
Jessica versuchte es zu ignorieren. Doch es klingelte weiter – rücksichtslos und unerträglich.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie Jessica, schlug mit der Faust auf den Schreibtisch und stürzte aus dem Zimmer. Noch ehe sie die Hälfte der Stufen genommen hatte, ertönte die Klingel abermals.
»Eine Unverschämtheit!«, ärgerte sich Jessica.
Unten angekommen öffnete sie mürrisch die Tür. Das Geräusch der quietschenden Türangel ging ihr durch Mark und Bein.
Jessica warf Mr. Finch, der vor ihr stand, einen bösen Blick zu. Einen Moment lang war sie versucht, ihm einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen und abzusperren.
Das grosse Gesicht von Mr. Finch sah verblüfft aus. »Ich habe Sie doch nicht geweckt?«, fragte er und warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist schon halb drei.«
»Natürlich nicht, ...«
»Da habe ich ja Glück gehabt«, unterbrach sie Mr. Finch. »Ich wollte Sie nämlich zu dem Kaffee einladen, den ich Ihnen neulich versprochen hatte.«
Unwillig runzelte Jessica die Stirn, fest entschlossen, dem Störenfried gründlich die Meinung zu sagen: Wie können Sie es wagen, ständig an meiner Tür zu klingeln, Sie vertrottelter alter Knacker! Dafür bin ich zwei Stunden in die Berge gefahren? Dafür, dass ich ständig von Ihnen belästigt werde? Und obendrein auch noch eine immense Miete dafür bezahle? Ein elender Abzocker sind Sie, jawohl!
Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, beschloss sie aber, die Einladung anzunehmen, um ihm dann schonend beizubringen, dass sie künftig nie mehr gestört werden möchte. Schliesslich wollte sie sich mit dem Vermieter nicht zerstreiten.
»Gerne«, sagte Jessica und versuchte krampfhaft zu lächeln. »Und wann?«
»Um fünf Uhr«, schlug Mr. Finch vor.
»Heute?«
»Passt es Ihnen nicht?«
»Doch, schon. Und wohin soll ich kommen? Ins Atelier?«
»Nein, kommen Sie ins Haus«, antwortete Mr. Finch hocherfreut.
»Aber Sie wohnen nicht in diesem Haus?«, wollte sich Jessica vergewissern.
»Nein«, erwiderte der alte Mann. »Aber ich habe mich dort schon ein bisschen eingerichtet.«
»Also gut. Um fünf Uhr.«
Mr. Finch versuchte sich noch mit ihr zu unterhalten, sie antwortete ihm kaum. Als er eine Schmeichelei über ihre Figur machen wollte, wies sie ihn rasch und in einem schneidenden Ton zurück.
Der alte Mann liess sich nicht beirren. »Ich freue mich sehr. Wie wäre es, wenn ich uns etwas kochen würde? Vielleicht eine Bohnensuppe?
»Eine was?«
»Bohnensuppe.«
»Nein, danke!«, antwortete Jessica gereizt und verabschiedete sich.
Nachdem sich Mr. Finch entfernt hatte, schloss Jessica die Haustür ab. Sie bereute ihre Entscheidung jetzt schon.
Bin ich blöd oder was? Warum konnte ich ihm nicht zwischen Tür und Angel, in höflichem Ton, klarmachen, dass ich unter gar keinen Umständen gestört werden möchte?
Jessica schnaubte vor Wut. Sie ging quer durchs Haus, kickte in die Wand und schrie laut auf, als es in ihrem Fuss knackte.
Sie humpelte in die Küche und legte Eis auf die schmerzende Stelle. Während sie so da sass, dachte sie wieder an den Tag, als sie im Supermarkt von diesem Mann angesprochen wurde. Die Beklommenheit, die sie jetzt spürte, ging tiefer als die Sorge über den bevorstehenden Besuch bei Mr. Finch.
Vielleicht ist es besser, wenn ich mich im Moment nicht weiter damit beschäftige. Vielleicht bin ich noch nicht dazu bereit, die Wahrheit herauszufinden.
Schritt für Schritt, hatte Dr. Goldsmith gesagt. Nicht zu viel auf einmal.
Jessica ging ins Bad und legte ein wenig Make-up auf. Allzu sehr aufhübschen wollte sie sich nicht. Nicht für diesen alten Mann. Sie hasste es, wenn er sie zu lange ansah. Vielleicht sollte sie das Messer, das sie in der Scheune gefunden hatte, mitnehmen, nur für den Fall, dass er ihr zu nahe kommen sollte.
Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Als Norbert Finch ihr mit erwartungsvollem Gesicht die Haustür öffnete, realisierte Jessica, dass es zu spät war, um noch einen Rückzieher zu machen.
»Ich bin höchst erfreut, dass Sie mich besuchen, Mrs. Greene.« Mr. Finch trug einen grauen Rollkragenpullover und eine schlabberige dunkelbraune Cordhose. Die weissen Haare standen fast senkrecht vom Kopf ab und Schuppen verteilten sich auf dem Pullover. »Bitte kommen Sie doch herein!«
Jessica verzog ihr Gesicht zu einem zaghaften Lächeln, als sie über die Schwelle trat.
Kalte und verbrauchte Luft kam ihr entgegen. Der Eingang war mit Müll übersät.
»Kommen Sie mit in die Küche«, sagte Mr. Finch augenzwinkernd. »Ich bin gerade dabei einen Brotzopf zu machen. Haben Sie schon einmal einen Zopf gemacht?«
Nicht seit meine Haare kurz sind, dachte Jessica. Und dann fiel ihr ein, dass ein Brotzopf eigentlich eine Schweizertradition war. Oder lag sie da falsch? »Nein«, antwortete sie schliesslich.
»Eine Spezialität aus der Schweiz«, erklärte Mr. Finch und blinzelte Jessica zu.
Warum zum Teufel musste er die Schweiz schon wieder erwähnen? Wusste er darüber Bescheid, dass sie ursprünglich aus der Schweiz kam? Warum sollte er?, beruhigte sich Jessica wieder. Schliesslich musste sie, um dieses Haus zu mieten, keinen Pass vorlegen. Ausserdem hatte sie ja einen kanadischen Pass. Nachdem sie Michael geheiratet hatte, bekam sie die Permanent Resident Card, so etwas wie die Greencard, und hiess dann ab sofort Greene!
Die Küche war auch nicht sehr einladend. Schmutziges Geschirr und leere Weinflaschen so weit das Auge reichte. Ein widerlicher Geruch von Alkohol und gedünsteten Zwiebeln legte sich beklemmend auf Jessicas Atemwege und reizte ihre Magennerven. Leise angeekelt schaute sie zu, wie der alte Mann den Teig durchknetete und mit seinen schweissnassen Händen versuchte, daraus einen Zopf zu flechten.
Jetzt fehlte nur noch, dass er den Zopf mit seinen Schuppen garnierte. Jessica verspürte Brechreiz.
»Wie geht es Ihrer Tochter? Konnten Sie das Missverständnis aufklären?«, fragte er, während er mit der Faust auf dem unförmigen Stück Teig herumklopfte.
»Es geht ihr gut, und ja, wir haben das Missverständnis aufgeklärt.«
»Wie heisst Ihre Tochter eigentlich?«
»Alice.«
»Ally«, wiederholte Mr. Finch. »Ein schöner Name.«
»Alice«, korrigierte Jessica und fügte hinzu: »Wie Alice im Wunderland.«
»Oh, Alice!« Der alte Mann lachte kollernd. »Das ist ja noch schöner!«
Nachdem Mr. Finch den unappetitlichen Teigklumpen in den Ofen geschoben hatte, wischte er sich die Hände an der Cordhose ab.
Jessica überlegte einen Moment, sich zu dem Teig in dem Ofen zu gesellen.
»Möchten Sie eine Tasse heisse Schokolade?«, fragte Mr. Finch, als er Jessica in sein verstaubtes Wohnzimmer mit altmodischen Möbeln führte.
Jessica blieb der Mund offen stehen. Das Wohnzimmer sah schlimmer aus, als der Eingang und die Küche zusammen. Ein dunkelbraunes Sofa, aus dem die Füllung herausquoll, ein zerlederter Sessel, eine antike Kredenz, verstaubte Teppiche, ein paar ramponierte Holzstühle, ein Couchtisch voller Tassenränder und auf dem Boden neben dem Esstisch stapelten sich zusammengelegte Pappkartons und zugeknotete Müllsäcke. Der durchdringende Gestank verstärkte noch den Gedanken, dass sie sich auf eine Müllkippe verirrt hatte.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz!«, sagte Mr. Finch und ging wieder in die Küche.
Jessica sehnte sich jetzt schon nach frischer Luft, so dass sie am liebsten an ihm vorbei aus dem Haus gerannt wäre, stattdessen platzierte sie sich auf dem Sofa. Auf einem Beistelltisch lagen haufenweise Kreuzworträtsel und alte Comics.
Was mache ich eigentlich hier?, fragte sie sich. Warum habe ich die Einladung nicht abgelehnt?
Warum? Warum? Warum?
Mr. Finch kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem zwei dampfende Tassen, eine Flasche grüner Likör, ein riesiger Kuchen und vier Törtchen standen. »Die beste heisse Schokolade weit und breit!«, verkündete er fröhlich. Vorsichtig stellte er das Tablett auf dem Couchtisch ab, schnalzte mit der Zunge und deponierte eine Tasse in bequemer Reichweite vor dem Sofa, wo Jessica sass.
Mr. Finch liess sich ächzend in dem alten Ledersessel nieder und forderte Jessica auf, sich von dem Kuchen zu bedienen.
Jessica wäre eher vor Hunger gestorben, als auch nur einen Bissen davon zu essen.
Aber Mr. Finch machte sich über die Sahnenusstörtchen her wie ein Vieh. Kleine Sahneflöckchen blieben ihm in den Mundwinkeln hängen. Als er zwischendurch mit schmatzendem Geräusch die grüne Flüssigkeit zu sich nahm, spürte Jessica grosse Übelkeit in sich hochsteigen.
»Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie nicht hungrig sind! Sie machen doch keine Diät?«
»Nein, ich mache keine Diät«, antwortete Jessica. Und täglich grüsst das Murmeltier, dachte Jessica. Das hatten wir doch schon mal. Irgendwie lag ihr der Geschmack von den verfaulten Eierbroten immer noch auf der Zunge.
Der alte Mann wälzte sich schwer auf seinem Sessel herum. Der mit Sahne vollgeschaufelte Löffel blieb zwischen Teller und Mund in der Luft hängen. Aus kleinen wässrigen Augen fühlte sich Jessica ungeniert gemustert. »Gut, das haben Sie auch nicht nötig«, sagte Mr. Finch. Er ass schweigend weiter, mit unappetitlicher Gier.
»Probieren Sie die heisse Schokolade!«, sagte er schliesslich im Befehlston.
Warum besteht er darauf, dass ich die heisse Schokolade trinke?, überlegte Jessica. Bestimmt hat er ein Betäubungsmittel hineingemischt. Jessicas Gesicht war noch immer gelassen, aber es war nicht zu übersehen, wie sich ihre Hände um die Handtasche krallten. Bestimmt gehört das Messer Mr. Finch, dachte Jessica. Was würde er wohl denken, wenn er es in meiner Tasche finden würde?
Schliesslich griff sie nach der Tasse. Jetzt denkt er bestimmt, dass ich davon trinken werde, und gibt endlich Ruhe.
»Den Kuchen habe ich selbst gebacken«, warf Mr. Finch stolz ein. Dann streifte er sich die Schuhe ab und streckte seine fetten Beine weit aus. »Die Sahnetörtchen habe ich allerdings in der besten Konditorei in der Stadt gekauft.«
Jessica sass steif da, die Knie aneinander gepresst und nippte an ihrem Kakao. Zumindest tat sie so, als würde sie eine klitzekleine Menge der heissen Schokolade aufnehmen.
Mr. Finch wartete darauf, dass sie etwas erwiderte. Jessica schwieg weiterhin. Als sie die Tasse auf den Couchtisch zurückstellen wollte, fiel ihr Blick auf das Motiv, das auf die Tasse gemalt war. Ein Frosch mit einer Krone. Und als sie die Tasse wendete, stand auf der Rückseite, in goldenen Buchstaben, das Wort Prinzessin.
»Kennen Sie die Geschichte vom Froschkönig?«, wollte Mr. Finch wissen.
Jessica spürte, wie ihr das Blut in den Ohren pochte. Sie fragte sich kurz, ob sie ohnmächtig werden würde.
»Die Geschichte von der Prinzessin«, fuhr Mr. Finch fort, »die den Frosch küsst, woraufhin der sich in einen Prinzen verwandelt?«
Jessica nickte geistesabwesend. Sie sass über den Tisch gebeugt und drehte die Tasse langsam zwischen ihren Händen hin und her.
»Haben Sie schon einmal einen Frosch geküsst?«, fragte Mr. Finch.
Jessica blickte auf und sah den alten Mann entgeistert an. Es war weniger der Wortlaut der Frage als die Sprechweise, die Jessica befremdete. »Wie käme ich dazu?«
»Nur so«, kicherte Mr. Finch.
»Gibt es denn Frösche in dieser Gegend?«, erkundigte sich Jessica und schaute wieder auf die Tasse, die sie in ihren Händen nervös hin und her rollte.
»Nein, bestimmt nicht. Es ist viel zu kalt hier oben.«
Dann ist der arme Frosch bestimmt erfroren, dachte Jessica. Aber wie ist der Frosch denn in das Haus gekommen? Sie riss sich von der Betrachtung ihrer Tasse los und schaute in Mr. Finchs Gesicht. Hat der alte Mann den Frosch in die Schublade gesetzt? Wenn ja, warum? Was wollte er ihr damit sagen?
»Wie geht es mit Ihrem Buch voran?« Mr. Finch beugte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und blickte Jessica durchdringend an.
Jessica zuckte mit den Schultern. »Es geht so.« Sie versuchte seinem Blick auszuweichen, aber er liess nicht locker.
Dann fing Mr. Finch an, die ältesten Witze zu erzählen und belachte sich selbst.
Irgendwann wurde es Jessica zu bunt. »Kann ich mal schnell ins Bad?«, fragte sie.
»Aber sicher, die zweite Tür rechts.«
Jessica erhob sich schnell, die Handtasche fest umklammert, und verliess das Wohnzimmer.
Das Bad befand sich in der Mitte des Flurs. Es hatte schwarze Vorhänge und roch nach Kanalisation. Die Kloschüssel war fleckig vor Alter und unsagbarem Dreck. Direkt über dem Wasserspiegel war ein brauner Schmutzrand. Es kostete sie jede Menge Selbstbeherrschung, sich nicht gleich zu übergeben.
Sie war ins Bad gegangen, um kurz nachzudenken. Irgendetwas stimmte mit dem alten Mann nicht. Sie bekam in seiner Gegenwart jedes Mal eine Gänsehaut. Und das mit dem Frosch! Warum hatte er vorhin einen Frosch erwähnt? War das ein Zufall?
Sie hatte gar nicht darauf geachtet, ob Mr. Finch auch eine Tasse mit einem Froschkönigmotiv hatte. Vielleicht hat er ja einen ganzen Tafelservice davon?, überlegte Jessica. Vielleicht hat er ihn geschenkt bekommen? Oder vielleicht hatte er seiner krebskranken Frau gehört? Vielleicht ist alles ganz harmlos und hat nichts zu bedeuten.
Und weil er beobachtet hat, wie ich auf die Tasse gestarrt habe, wollte er wissen, ob ich die Geschichte vom Froschkönig kenne. Und die Frage: Haben Sie schon einmal einen Frosch geküsst?, war einfach ein kleiner Scherz. Nicht besonders lustig, aber eben nur der Versuch, einen Witz zu machen.
Also steigere ich mich wieder einmal in etwas hinein!
Trotzdem hatte sie jetzt Angst das Badezimmer, egal wie ekelerregend es hier drinnen war, zu verlassen. Vielleicht würde ihr Mr. Finch vor der Tür auflauern. Ausserdem hatte er jetzt erst recht Gelegenheit gehabt, ihr ein Betäubungsmittel in die heisse Schokolade, die zwar bestimmt schon lange kalt geworden war, hineinzumischen.
Und was konnte sie in einer solchen Situation mit einem Messer ausrichten?
Jessica öffnete die Badezimmerschränke und durchforstete sie nach der Vergewaltigungsdroge Rohypnol, oder sonst irgendeinem Betäubungsmittel, aber sie konnte nichts finden. Bestimmt hat er die Droge vorher schon herausgenommen, dachte sie.
Ihr fiel ein, dass Mr. Finch erwähnt hatte, dass er Diabetiker sei. Ausserdem war ihr vorher, als er die Schuhe ausgezogen hatte, aufgefallen, dass er antibakteriell ausgerüstete Diabetikersocken trug.
Er musste sich bestimmt Insulin spritzen, sonst könnte er wohl kaum vier Sahnetörtchen in sich hineinstopfen und dazu eine halbe Flasche süssen Likör konsumieren.
Sie könnte ihm also eine Insulinspritze verpassen, wenn er versuchen würde, sie anzugreifen. Mit einer Überdosis Insulin würde er in ein diabetisches Koma fallen.
Erneut durchsuchte sie die Badschränke. Dabei erschrak sie, als sie zufällig in den Spiegel blickte. Ihr Gesicht war ganz weiss.
Es fällt bestimmt auf, dachte sie, dass ich schon so lange im Badezimmer bin. Zur Tarnung drückte sie die Klospülung. In der rauschenden Geräuschkulisse, die daraufhin eintrat, glaubte Jessica ein Kind weinen zu hören.
Schnell verliess sie das Bad.
»Ist hier irgendwo ein Kind?«, wollte Jessica wissen, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte.
»Was für ein Kind?«, fragte Mr. Finch. »Meinen Sie etwa ein Kind im Ohr?« Ein schallendes Gelächter brach aus ihm heraus und übertönte das Kindergeschrei, das sich Jessica offensichtlich nur eingebildet hatte.
Jessica schluckte leer. Sie setzte sich wieder hin und starrte erneut auf die Tasse. Dann sah sie, dass die Tasse von Mr. Finch ebenfalls mit einem Froschkönig versehen war.
»Ich muss jetzt auch mal schnell austreten. Aber nicht für kleine Mädchen, sondern für kleine Jungs«, sagte Mr. Finch, der aufgestanden und hinter sie getreten war, ohne dass sie es gemerkt hatte.
Jessica lächelte schwach. Meine Nerven sind wirklich nicht mehr die besten, dachte sie. Ich bilde mir immer mehr Dinge ein. Ich vermute eine Verschwörung hinter einer harmlosen Tasse, die mit einem Frosch bemalt ist. Ich höre schreiende Kinder, wo keine sind.
Sie drehte sich um. Irgendwie spürte sie, dass Mr. Finch sie beobachtete. Und tatsächlich, er hatte den Raum noch gar nicht verlassen. Er stand im Türrahmen und lächelte amüsiert.
»Ich glaube, der Zopf war lange genug im Ofen«, sagte er.
Jessica nickte nur müde.
Vielleicht bewahrt Mr. Finch das Insulin im Kühlschrank auf, schoss es ihr durch den Kopf, als der alte Mann doch noch im Badezimmer verschwand.
Rasch erhob sich Jessica und eilte in die Küche. Dort öffnete sie den Kühlschrank und inspizierte den Inhalt. Eine Flasche Ahornsirup, zwei Joghurtbecher, eine Schachtel mit Eiern, ein verschimmelter Käse, eine angebrochene Packung Schokolade und vertrocknete Radieschen. Keine Medikamente, die Mr. Finchs Leben retten oder ihn umbringen könnten.
Als die Klospülung ertönte, raste sie ins Wohnzimmer zurück und schaffte es knapp, auf der Couch Platz zu nehmen, bevor Mr. Finch eintrat.
Der alte Mann liess sich ächzend in den Sessel fallen. »Was rein geht, das muss auch wieder raus«, sagte er und schenkte sich ein weiteres Glas Likör ein.
Jessica machte ein angewidertes Gesicht.
Mehr um die Stille zu unterbrechen, als aus wirklichem Interesse, fragte Jessica: »Wie geht es Ihrem Diabetes?« Jessica wollte fröhlich und unbesorgt klingen, schien es aber nicht zustande zu bringen. Sie merkte, wie ihre Stimme zitterte.
»Den habe ich ganz gut im Griff«, antwortete Mr. Finch. »Ich muss viel Insulin spritzen«, fuhr er plötzlich im Flüsterton fort, »damit ich mir die vielen Süssigkeiten, die ich so gerne mag, leisten kann.« Er machte eine wegwischende Handbewegung. »Wenn das mein Arzt wüsste!«
Jessica nickte nur. Sie war ja nicht um das Wohl des alten Mannes besorgt. Es war ihr völlig egal, wie viel Süsses er in sich hineinstopfte. Je mehr, desto besser.
Mr. Finch hatte sich wieder zu Jessica hinübergebeugt. Sein Gesicht war gespannt und erwartungsvoll, wie das eines kleinen Jungen. Jessica roch den süsslichen Likör, von dem die wulstigen Lippen noch feucht waren.
Dann fragte er unvermittelt: »Wo sind Sie eigentlich aufgewachsen?«
Jessica wäre fast auf den Boden gerutscht, so sehr erschrak sie über die Frage.
»In ..., in Texas«, log sie.
Mr. Finchs buschige Augenbrauen hoben sich. »Sie haben aber gar keinen texanischen Akzent«, stellte er fest.
»Den habe ich mir abgewöhnt«, sagte Jessica schnell, »nachdem meine Eltern nach Los Angeles gezogen sind. Vor allem deshalb, weil ich in der Schule wegen meines starken Akzents gehänselt wurde. Die Mitschüler haben mich ständig nachgeäfft.«
Jessica war beim Lügen in Fahrt gekommen. Sie erzählte Mr. Finch ihren familiären Hintergrund. Ihr Vater habe ein eigenes Orchester gehabt, was zufällig sogar stimmte, ihre Mutter wäre mit Begeisterung jeden Marathon mitgelaufen, was selbstverständlich nicht stimmte. Ihre Mutter war, nach Jessicas sechstem Lebensjahr, nie wieder neben ihr gestanden, geschweige denn gelaufen.
Ihre Grossmutter stamme aus Neuseeland, mit ihr zusammen habe sie die halbe Welt bereist. Das war absolut gelogen. Ihre Grossmutter litt an Agoraphobie, sie hätte ihre Wohnung unter keinen Umständen verlassen.
Alles andere, was folgte, war ebenfalls blanker Unsinn. Sie sammle seit ihrer Kindheit Weinetiketten, sie habe damals ihr ganzes Kinderzimmer damit tapeziert.
Mr. Finchs Gesichtsausdruck veränderte sich. Er kniff die Augen zusammen und sah Jessica misstrauisch an.
»Das ist sehr interessant.« Mr. Finch hielt inne, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. Dann sagte er: »Ich glaube, jetzt muss ich den Zopf endlich aus dem Ofen holen. Was mögen Sie lieber, Marmelade oder Honig?«
Ich muss ihm endlich sagen, fiel Jessica ein, dass er mich künftig nicht mehr belästigen soll. Er solle weder an meiner Tür läuten, geschweige denn mich um sechs Uhr morgens anrufen.
Aber als sie den Mund öffnete, um ihr Anliegen kundzutun, schrak sie zusammen. Die Pendeluhr, die hinter ihr an der Wand hing, schlug sechsmal. Ihr verrostetes Laufwerk klang wie das Scheppern von Kochtöpfen. Jessica erlitt dabei fast einen Hörschaden.
Noch zitterte der letzte Ton des letzten Schlages durch das Wohnzimmer, als Jessica sich erhob und einen Schwall erfundener Pflichten aufzählte, denen sie sofort nachgehen müsse.
Sie hielt es keine Minute länger in diesem Haus aus und verwarf den Gedanken, dem Vermieter ihre Meinung zu sagen. Stattdessen schnappte sie sich die Handtasche und ging in schnellen Schritten zur Tür. »Danke für den Kakao, Mr. Finch«, rief sie über ihre Schulter nach hinten.
Der sonst so träge wirkende alte Mann holte sie aber sofort ein und umklammerte Jessicas Arm.
»Sie wollen schon gehen?«, fragte er mit vorwurfsvollem Unterton.
»Ja, leider«, sagte Jessica schnell.
»Aber für ein Stück Brotzopf haben Sie doch bestimmt noch Zeit«, sagte Mr. Finch.
»Nein, glauben Sie mir, ich kann nicht länger bleiben! Es war ein ganz reizender Abend und die heisse Schokolade war wirklich köstlich.«
»Das finde ich auch«, stimmte Mr. Finch zu. »So ein Kaffeekränzchen müssen wir öfters veranstalten.« Mit seinen kühlen Fingern berührte er ihre linke Wange und sagte: »Gute Nacht, Prinzessin.«
Ein Schauer lief Jessica über den Rücken. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie Angst vor Mr. Finch hatte.
Als sie draussen war, schaute sie noch einmal kurz hinauf zu den Fenstern von Mr. Finchs Haus. Der Vorhang bewegte sich. Der Vermieter stand dort und starrte ihr nach. Jessica zuckte zusammen. Dann begann sie zu rennen, bis sie schliesslich nach Luft schnappend vor ihrer Haustür stand. Mit zittrigen Fingern zog sie den Schlüssel aus der Handtasche und liess ihn fallen. Jessica fluchte und bückte sich, um ihn aufzuheben. Dann schloss sie auf, trat ins Haus und verriegelte hastig die Tür.
In der Küche schenkte sie sich zuerst ein halbes Glas Whisky ein und zündete eine Zigarette an.
Sie setzte sich an den Küchentisch und inhalierte gierig den Tabak.
Was hatte das eben zu bedeuten? Gute Nacht Prinzessin! Jessica hasste es, wenn jemand sie so nannte. Michael hatte einmal Prinzessin zu ihr gesagt, woraufhin sie gleich ausgerastet war.
Und warum überkommt mich bloss immer dieses beängstigende Gefühl, wenn ich Mr. Finch sehe? Warum habe ich das Bedürfnis, vor ihm wegzulaufen?
Jessica stützte den Kopf in die Hände und starrte vor sich hin. Es war still im Haus, nur das Brummen des Kühlschranks war zu hören.
Sie schenkte sich ein weiteres Glas Whisky ein und die Müdigkeit überkam sie. Sie legte den Kopf auf die Tischplatte und verfiel in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen – ihre Gedanken arbeiteten nur noch träge.
Das Gespräch, das sie mit Mr. Finch geführt hatte, spukte in ihrem Kopf herum. Jetzt im Halbschlaf gab ihr alles, was der alte Mann gesagt hatte, viel weniger zu bedenken als vor einer halben Stunde. Sie war zu müde, um sich darüber zu ärgern.
Dennoch versuchte sie sich über den Zweck seiner Anspielungen, zum Beispiel, dass er die Schweiz immer erwähnte, oder sie nach ihrer Herkunft ausgefragt hatte, ein Bild zu machen, aber gerade, als es ihr schien, eine brauchbare Lösung gefunden zu haben, übermannte sie der Schlaf wirklich.
Jessica schreckte aus ihrer unbequemen Stellung auf, als ein Motor aufheulte. Sie blickte erstaunt um sich. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Gähnend erhob sie sich, ging ans Fenster und sah, wie der Mercedes auf dem schmalen Weg ins Tal raste.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Was hat Mr. Finch in seinem Haus so lange noch gemacht? Wahrscheinlich hat er den ganzen Brotzopf verzehrt, dick mit Honig und Marmelade bestrichen!, dachte sie kopfschüttelnd und ging nach oben.
Im Badezimmer liess sie sich noch schnell ein Bad ein. Während sie in der Wanne lag, dachte sie an ihr gemütliches Haus in Calgary und fragte sich, was ihr Mann und ihre Kinder wohl gerade machten. Plötzlich wurde ihr bewusst, in welch seltsamer Situation sie sich befand, in diesem Haus, in der verrosteten Badewanne zu liegen. Dieser Ort war schrecklich und so anders als ihr zu Hause. Die Landschaft war zwar traumhaft und idyllisch, aber was hatte sie davon, wenn sie von dem Vermieter ständig belästigt wurde? Sie kam zu dem Schluss, dass es eigentlich nicht allzu viel bringen würde, noch länger hier oben in den Bergen zu versauern.
Ich werde morgen meine Sachen packen und von hier verschwinden!
Doch sie war nicht sicher, ob sie wirklich daran glauben sollte.
Sie war ziemlich nahe dran, sich endlich an das zu erinnern, was vor vierunddreissig Jahren geschehen war. Die Lösung schien zum Greifen nah.
Nachdem sie aus der Wanne gestiegen war, wischte sie das Kondenswasser vom Spiegel und musterte sich eingehend. Wenn die dunklen Augenringe nicht wären, dachte sie, dann würde ich nicht mal so schlecht aussehen. Ich wollte mich hier oben doch erholen, etwas für meine Fitness und meine Gesundheit tun. Stattdessen verschwende ich Zeit mit diesem alten Mann, trinke und rauche wieder, und sehe von Tag zu Tag müder aus. Aber ich werde noch nicht aufgeben. Ich bleibe noch ein bis zwei Tage. Es kann nur noch besser werden.
Nach dem Bad putzte sie sich noch die Zähne wieder einmal richtig gründlich und benutzte anschliessend Zahnseide und Zahnhölzer.
Dann lachte sie in den Spiegel und sagte: »Alles wird gut.«
Nachdem sie den Schlafanzug angezogen hatte, trat sie ans Fenster und schaute in die Nacht hinaus, wo gleich oberhalb der dunklen Baumwipfel die Sterne am Himmel blinkten.
Und doch gelang es Jessica nicht, das hartnäckige Gefühl abzuschütteln, dass hinter dieser malerischen Kulisse eine andere dunklere Wirklichkeit lauerte – ein grosses Geheimnis.
Aber Jessica hatte keine Ahnung, wo sie nach Hinweisen darauf suchen sollte.
Etwas jedoch war ihr klar.
Dieser Abend gehörte zu den Tiefpunkten ihres Lebens.