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Tag 6

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Am nächsten Morgen blieb Jessica ziemlich lange im Bett liegen. Draussen war es windig und ziemlich dunkel – richtig ungemütlich. Der Wind war stark genug, um Teile des Hauses knarren und ächzen zu lassen.

Jessica fühlte eine schwere Mattigkeit, die es ihr beinahe unmöglich machte, aufzustehen. Am liebsten hätte sie den Kopf unter das Kissen gesteckt und weitergeschlafen. Alles tat ihr weh. Bei der Vorstellung, dass sie jetzt krank werden könnte, geriet sie in Panik. Wenn es einen schlechteren Zeitpunkt dafür gab, dann heute. Sie hatte sich für den heutigen Tag viel vorgenommen.

Als sie mitten in der Nacht von einem Wadenkrampf attackiert wurde und danach eine halbe Stunde lang nicht mehr einschlafen konnte, erinnerte sie sich daran, am Waldrand eine Blockhütte gesehen zu haben. Und diese Hütte wollte sie heute aufsuchen.

Sie war sich zwar nicht sicher, ob die Blockhütte Mr. Finch gehörte, aber schliesslich befand sie sich auf seinem Grundstück.

Falls Veronika tatsächlich ein und dieselbe Puppe war, die sie vor vierunddreissig Jahren in der Schweiz verloren hatte, musste es hier oben noch mehr Anhaltspunkte geben.

Und falls Mr. Finch etwas mit dem Verschwinden ihrer Puppe zu tun hatte, so musste sie es herausfinden.

Als sie an den Tag dachte, an dem sie ohne Veronika nach Hause kam, schossen ihr gleich Tränen in die Augen. Ihre Eltern hatten ihr damals gesagt, dass sie keine neue Puppe mehr bekommen würde, sie hätte eben besser auf sie aufpassen sollen. Jessica wollte damals an den Ort zurück, an dem sie Veronika verloren hatte. Aber sie hatte sich nicht mehr dorthin getraut.

Jessica stockte der Atem.

Diese Episode war ihr, gerade eben, ganz unvermittelt in Erinnerung gerufen worden.

Wohin zurück?

Wo hatte ich Veronika verloren?

Nur verzerrte Bilder spukten vor ihrem geistigen Auge herum. An mehr konnte sie sich im Moment beim besten Willen nicht erinnern.

Dafür war sie jetzt vollkommen wach. Sie stellte sich fast zwanzig Minuten unter die lauwarme Dusche, bevor sie sich anzog und hinunterging, um sich einen Kaffee zu machen.

Das Telefon klingelte, als sie die Küche betrat. Es war Michael, der sich trotz Rush Hour in der Praxis, kurz Zeit nahm, um seine Frau anzurufen. Er wollte wissen, wie es ihr geht und was sie vorhatte.

Jessica erzählte ihm, dass sie es hier oben in den Bergen sehr geniesse, viele Spaziergänge mache und stundenlang an ihrem Buch schreibe. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte, aber fast unmittelbar, nachdem sie es gesagt hatte, bereute sie es, gelogen zu haben.

Trotzdem fühlte sie sich jetzt wieder etwas besser. Sie wusste, dass sie jederzeit nach Hause fahren konnte. Schliesslich hing sie hier nicht fest.

Sie ging in die Küche und bereitete sich ein Frühstück zu. Dabei versuchte sie, nicht an den schmatzenden alten Mann zu denken. Sie bemühte sich die Bilder, wie Mr. Finch die Sahnenusstörtchen verdrückt hatte, aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Aber was sie mit Bestimmtheit nie mehr essen konnte, war ein Brotzopf.

Nachdem sie den Frühstückstisch abgeräumt hatte, schaltete sie die Waschmaschine ein, wischte Staub und saugte das Wohnzimmer.

Zufrieden mit sich, endlich wieder einmal etwas getan zu haben, sei es auch nur ein wenig Hausarbeit, nahm sie die warme Jacke vom Haken, zog ihre Stiefel an und verliess das Haus.

In der Zwischenzeit hatte sich der Wind schon lange gelegt und die Tannen waren ganz still geworden. Die Luft war für diese Jahreszeit immer noch mild.

Der Abstieg war beschwerlich. Sie folgte einem schmalen Fussweg, der durch die Fichten des Waldes hindurchführte. Nur langsam gelangte Jessica vorwärts. Plötzlich wurde ihr auf beunruhigende Art bewusst, wie abgelegen das Haus, das sie für einen Monat gemietet hatte, tatsächlich lag. Der nächste Nachbar – mal abgesehen von Mr. Finch – war mehrere Kilometer entfernt und die Umgebung war dicht bewaldet. Die Ruhe geradezu gespenstisch.

Warum tue ich mir das an?, fragte sie sich.

Schliesslich erreichte sie unbehelligt die Blockhütte. Still und offenbar völlig verlassen lag sie vor ihr. Das Grundstück war überwuchert, grosse Sträucher standen rund um die Blockhütte. Ein schmaler Pfad führte zur Haustür.

Zuerst umrundete sie die Hütte und stellte fest, dass sämtliche Fensterläden geschlossen waren.

Sie sah sich um – niemand da.

Dann klopfte sie an die Tür und wartete.

Was sollte sie sagen, falls ihr jemand aufmachte? Und was würde sie sagen, wenn Mr. Finch die Tür öffnete?

Was würde er wohl davon halten, dass sie vor dieser Blockhütte stand und an die Tür klopfte? Wahrscheinlich würde er sie gleich in das Haus hineinzerren und ihr wieder irgendetwas Ekliges zum Essen oder Trinken anbieten.

Sie klopfte erneut. Und noch einmal hielt sie lauschend den Atem an. Totenstille lag über der Gegend.

Dann drückte sie die Türklinke nieder. Was sie insgeheim für ausgeschlossen gehalten hatte, erwies sich als willkommene Wirklichkeit. Die Tür war nicht abgeschlossen. Jessica trat ein und zog die Tür hinter sich zu, was nicht sehr schlau war.

Jetzt stolperte sie nämlich in die stockfinstere Blockhütte hinein. Nach zwei Schritten hatte Jessicas Fuss den Kopf eines Tieres berührt. Sie schrie auf, zuckte zurück und holte erschreckt Luft.

Jessica tastete sich langsam vor. Ihre Hände berührten ein Fell.

Ein Bär!, schoss es ihr durch den Kopf.

Allerdings ein ausgestopfter Bär!

Mr. Finch fand es offenbar schick, seine Besitztümer mit toten Tieren auszustatten. Gehörte das hier eigentlich Mr. Finch?

Jessica hätte jetzt doch gerne einen Lichtschalter gefunden oder zumindest die Tür wieder aufgemacht. Aber sie musste sich erst einmal zur Wand zurückorientieren. Und das war gar nicht so einfach, denn sie hatte sich im Schreck über den Bären um die eigene Achse gedreht und deshalb keine Ahnung, wo sie sich jetzt befand.

Vielleicht gibt es hier drinnen gar kein Licht? Warum habe ich keine Taschenlampe mitgenommen? Und warum habe ich die Tür hinter mir zugemacht?

Schliesslich schaffte sie es, die Tür wieder zu öffnen. Und dann fand sie auch noch einen Lichtschalter.

Mit einem an Gewissheit grenzenden Grad von Wahrscheinlichkeit gehörte die Blockhütte dem Vermieter. Der schlechte Geschmack des alten Mannes war unverkennbar.

Der Raum, in den sie zuerst gelangt war, diente offenbar als Wohnzimmer und Küche. Darin befand sich eine Couch, ein Tisch, eine Truhe, eine Standuhr mit kaputtem Gehäuse, woraus ein geknickter Kuckuck hing, ein Schreibtisch und mehrere Stühle.

Durch eine Tür, die mit einem Holzriegel verschlossen war, betrat Jessica einen engen Gang, der den hinteren Teil der Hütte in zwei Räume teilte: ein kleines Schlafzimmer und ein noch kleineres Badezimmer.

Das Schlafzimmer war unbenutzt und stark verstaubt. An einer Wand, genau in der Mitte, stand ein Holzbett. Die Matratze war mit einem roten Laken bezogen. Darauf lagen mehrere rote Kissen. Ansonsten war der Raum, bis auf zwei schlichte Stühle, leer.

Nachdem Jessica das Bett untersucht hatte, befasste sie sich mit einem dunkelbraunen Lederkoffer, den sie unter dem Bett hervorgezogen hatte. Der Koffer enthielt allerlei ungewaschene Kleidungsstücke, hauptsächlich Damenbekleidung und verbreitete einen widerlichen Geruch. Jessica verspürte aufsteigenden Brechreiz und hielt den Atem an. Wahrscheinlich hatten diese Sachen Mr. Finchs verstorbener Frau gehört, überlegte sie. Aber warum hat er sie aufbewahrt? Und warum hier? Unter diesem Bett? Enttäuscht über den langweiligen Fund legte sie die Kleider zurück. Sie klappte den Deckel zu, schob den Koffer wieder unter das Bett und liess den Blick durch das Zimmer schweifen. Aber da gab es nichts mehr. Keinen Schrank, keine Kommode, keinen einzigen Gegenstand, nur noch diese zwei komischen Stühle.

Sie ging ins Bad. Da gab es auch nicht viel zu sehen: eine Toilette mit einem kaputten Klodeckel und ein Lavabo. Ein verschmierter fleckiger Spiegel war an die Wand über dem rissigen Waschbecken geklebt. Kein Abfallbehälter und kein Arzneischrank. Sie machte ein ziemlich missmutiges Gesicht und ging zurück ins Wohnzimmer.

»Ich muss doch irgendetwas finden, was mich auf die richtige Spur bringt und mir über die Vergangenheit von Mr. Finch Aufschluss gibt«, murmelte Jessica. »Vielleicht fange ich mit dieser Truhe an.« Sie zog einen Stuhl herbei, setzte sich vor das aus Holz angefertigte kastenförmige Möbelstück, hob den schweren Deckel und begann den Inhalt zu durchsuchen.

Alles was ihr unwichtig schien, legte sie rasch zur Seite. Endlich kam sie an ein schweres Bündel, das sie langsam entfaltete. Es enthielt Briefe, alle nach Datum geordnet und alle an Norbert Finch adressiert. »Wusste ich‘s doch. Diese Blockhütte gehört dem Vermieter.«

Dann zog sie ein Paket aus der Kiste. Es enthielt eine fein verarbeitete Kassette. Sie war verschlossen und es war kein Schlüssel zu finden. Jessica schaute sich in der Küche um, nahm kurzerhand einen Schraubenzieher und brach das einfache Schloss auf. Eine Pistole kam zum Vorschein. Mitnehmen oder liegen lassen? Jessica schob sie in ihre Handtasche. Dasselbe tat sie mit den gebündelten Briefen.

Sie schaute sich noch eine Weile um, fand aber nichts, das noch ihr Interesse geweckt hätte. Bevor sie den Raum verlassen wollte, fiel ihr auf, dass ein Läufer auf dem Boden etwas schief lag. Als sie den Teppich zur Seite schob, entdeckte sie einen Haltegriff auf dem Boden. Sie kämpfte mit dem Henkel, dann gab die Falltür mit einem ächzenden Laut nach.

Jessica wollte gerade nach unten steigen, da hielt sie einen Moment inne.

Ein seltsames Gefühl überkam sie.

Sie liess die Falltüre wieder zuklappen.

Was, wenn Mr. Finch plötzlich hier auftauchen und sie da unten einschliessen würde? Ausserdem war sie klaustrophobisch. Und höchst wahrscheinlich wimmelte es da unten nur so von Spinnen und Insekten.

Dann hatte Jessica plötzlich so etwas wie einen Atemstillstand. Kalter Schweiss bildete sich auf ihrer Stirn. Eine Erinnerung tauchte wieder auf. Sie war schon einmal eingesperrt gewesen! An dem Ort, wo sie Veronika verloren hatte!

Aber wo war das?

Sie hatte keine Ahnung, aber sie verspürte Panik und den Drang, schleunigst von hier zu verschwinden.

Jessica hatte ausnahmsweise einmal Glück. Mr. Finchs Mercedes stand nicht vor dem Haus, als sie oben wieder ankam. Trotzdem ging sie mit schnellen Schritten auf die Haustür zu, schloss auf und stolperte in den Korridor hinein.

Leider musste sie sich in der Küche gleich wieder ein Glas Wein einschenken und eine Zigarette anzünden. Es war offensichtlich kein guter Zeitpunkt, mit dem Rauchen aufzuhören. Aber der richtige Zeitpunkt, wieder mit dem Trinken anzufangen.

Sie kramte in ihrer Handtasche, nahm das Briefbündel und die Pistole heraus, und legte beides auf den Küchentisch. Sie hatte noch nie eine Waffe in der Hand gehabt und ihr war auch nicht ganz wohl dabei, jetzt eine zu besitzen. Deshalb brachte sie die Pistole schnell nach oben und verstaute sie in der Schreibtischschublade.

Zurück in der Küche machte sie sich ein Sandwich und setzte sich an den Tisch.

Da bin ich aber gespannt, was für wichtige Post Mr. Finch bekommen hat. Die Briefe mussten wichtig für ihn sein, sonst hätte er sie bestimmt nicht aufbewahrt.

Trotzdem wurde sie von einem leichten Skrupel geplagt, als sie mit einer Schere die grüne Packschnur durchtrennte, welche die Briefe zusammenhielt. Etwas sehr Persönliches hielt sie da in den Händen. Sie hob den Kopf und schaute sich im Zimmer um, als rechnete sie damit, plötzlich Mr. Finch im Raum stehen zu sehen, der sie dabei ertappte, wie sie heimlich seine Post öffnete.

Langsam zog sie den ersten Umschlag heraus. Als sie die Adresse las, klappte ihr gleich der Kinnladen herunter. Ihr wurde eiskalt. Das ist nicht möglich, dachte sie und spürte, wie ihr der Atem stockte.

Der Brief war an Norbert Finch adressiert, was sie ja erwartet hatte. Aber die Wohnadresse befand sich in der Schweiz! In Zürich!

Jessica hatte damals unweit von dieser Adresse gewohnt.

Ein Absender war nicht vermerkt, die Briefmarke jedoch stammte aus Kanada, genauso wie der Poststempel. Das genaue Datum war nicht lesbar. Aber ziemlich sicher entzifferte sie einen Jahrgang aus den Siebzigerjahren.

Jetzt brauchte sie gleich noch ein Glas Wein und mindestens eine Zigarette, ehe sie begann, zu lesen.

Mit zittrigen Fingern zog sie das Papier aus dem Umschlag und faltete es vor ihr auseinander. Darin stand:

Lieber Norbert,

Herzlichen Dank für Deinen Brief. Und danke für Deine Offenheit. Ich fühle mich jetzt schon besser, während ich dies niederschreibe. Ich weiss, dass ich in Dir einen Gleichgesinnten gefunden habe und ich Dir ebenfalls alles anvertrauen kann.

Jessica war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie wirklich wissen wollte, was dieser Jemand, der den Brief geschrieben hatte, Mr. Finch anvertrauen wollte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihr der Inhalt nicht gefallen würde. Aber sie durfte die Augen nicht länger davor verschliessen. Tapfer las sie weiter:

Vor einer Woche hat mich diese Schlampe aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgeschlossen, und ich weiss, diesmal ist es ihr ernst damit. Aber weisst Du was? Ich bin sogar froh darüber. Schon lange hatte sie mich angeekelt. Ihre schlaffen Brüste, die welke Haut, die Fleischwülste um Leib und Hüften, die hässlichen dunklen Adern wie Raupen an ihren Beinen. Aber was erzähle ich Dir da, lieber Norbert, Deinen Schilderungen konnte ich entnehmen, dass Du zu Hause auch nichts Besseres vor Dir liegen hast.

Jessica hatte das Sandwich längst wieder von sich geschoben. Ihr war der Appetit vergangen. Stattdessen rauchte sie eine Zigarette nach der anderen und trank Wein.

Aber vor drei Tagen erst habe ich etwas Frischeres gefunden. Ich habe es in der Bäckerei getroffen. Frisch gebacken wie ein Brotzopf, den Du doch so gerne magst. Ja, lieber Norbert, das ist kein Witz. Das frische Ding ist zwölf Jahre alt. Sie sah so kühl und frisch aus in ihrem engen hellen Rock und der am Hals offenen rosafarbenen Bluse. Sie trug keinen Büstenhalter, das hatte sie ja auch nicht nötig.

Ha, ha, ha. Bestimmt musst Du jetzt auch lachen, lieber Norbert. Und als sie sich bückte, um das Kleingeld aufzunehmen, das ihr heruntergefallen war, sah ich ihre straffen runden Brüste. Sie waren ebenso braun wie ihre Schultern und Arme, also muss sie wohl nackt baden. Ich wurde ihr Bild nicht mehr los. Dann habe ich das kleine Ding einfach mitgenommen. Es war ganz einfach. Jetzt gehört es mir alleine. Ich habe eine zusätzliche Wohnung gemietet. Da sind wir immer ungestört. Das nächste Mal schicke ich Dir ein Foto von dem niedlichen Ding. Bitte lasse mich auch wieder an Deinen Errungenschaften teilhaben. Ich freue mich jetzt schon.

Herzlichst Dein Greg

P.S. Die Belohnung für das Ding, das Du mir besorgt hast, ist schon unterwegs zu Deinem Konto. (Einem Schweizer Bankkonto! Ha, ha, ha)

Jessica wurde es plötzlich übel, sie musste vom Stuhl aufspringen. Im Badezimmer musste sie sich so heftig übergeben, dass ihr die Seiten wehtaten. Wieder und wieder krampfte sich ihr Magen zusammen. Es kam ihr vor, als versuchte ihr Körper all das Schreckliche loszuwerden, was sie gerade eben gelesen hatte. Sie schaufelte sich minutenlang kaltes Leitungswasser ins Gesicht, ehe sie wieder in die Küche zurückkehrte.

»Dieser Scheisskerl!«, rief sie laut. Dann drehte sie sich erschrocken um. Jessica hatte ein Motorengeräusch gehört. Der Mercedes kam langsam den Kiesweg entlang gerollt.

Jessica beobachtete, wie Mr. Finch aus dem Wagen stieg. Er trug einen völlig aus der Mode gekommenen Anzug mit extrem weiten Hosenbeinen. Er nahm einen abgenutzten Koffer vom Rücksitz und verschwand damit um die Hausecke.

Jessicas Puls beschleunigte sich ins Unermessliche, ihre Hände wurden schweissnass. Sie hatte panische Angst und rannte ins Arbeitszimmer. Dort setzte sie sich an den Schreibtisch, zog die Schublade auf und nahm die Pistole in die Hand. Mit zitternden Fingern berührte sie das kalte Eisen. Am liebsten hätte sie einen Schuss abgefeuert – aus dem Fenster, auf den Wagen von Mr. Finch. Stattdessen legte sie die Pistole wieder in die Schublade zurück.

Plötzlich fragte sie sich, ob die Waffe überhaupt geladen war? Was, wenn sie auf jemanden zielen würde, einen Schuss abfeuern wollte und dann kam da nichts raus?

Sie hoffte, dass sie nie in die Situation kommen würde, es auszuprobieren.

Jessica trat ans Fenster. Sie hatte Schritte auf dem Kiesweg gehört. Mr. Finch kam bereits zurück. Als er zu seinem Wagen gehen wollte, stutzte er und beugte seine kurzsichtigen Augen näher zu der Hecke, die den Besitz gegen die Strasse abschloss. Etwas Weisses hing an den Dornen der Hecke. Er nahm es mit spitzen Fingern.

Dann drehte er sich um und warf einen kurzen Blick nach oben, auf das im Schatten stehende Fenster.

Jessica zuckte vom Fenster zurück. Jetzt hatte sie definitiv Angst vor Mr. Finch. Für sie war er jetzt nicht mehr der nervige alte Mann, sondern ein Monster.

Nachdem der Mercedes weggefahren war, blieb Jessica noch lange am Fenster sitzen und schaute gedankenverloren in die Landschaft. Dann ging sie wieder in die Küche hinunter.

Sie stellte fest, dass sie sich bereits wieder zu nüchtern fühlte, um weitere Briefe zu lesen und schenkte sich ein Glas Whisky ein. Sie wartete eine Weile, bis der Drink Wirkung zeigte.

Als sie den nächsten Brief von diesem Greg aus dem Umschlag genommen hatte, lag da tatsächlich ein Foto von diesem niedlichen Ding, wie er das Kind nannte, dabei. Ein sehr hübsches Mädchen, mit grossen hellen Augen und einer kleinen Nase, umrahmt von lockigem, hellen Haar.

Jessica fragte sich, ob das Beweis genug war, um damit zur Polizei zu gehen. Wahrscheinlich nicht. Aber dann hatte sie eine Idee. Wenn dieser Greg Fotos von seinen Errungenschaften verschickt hat, dann hat das wohl auch Mr. Finch getan! Und bestimmt hat er nicht das Original verschickt. Und mit ziemlicher Sicherheit hat er die Negative fein säuberlich aufbewahrt. Die Frage war nur wo? Vielleicht in seinem Haus in der Stadt? Es wäre aber sehr gut möglich, dass er die Fotos hier oben versteckt hält. Hier, so denkt er zumindest, hat er nichts zu befürchten. Sonst würde er diese Briefe nicht in der Blockhütte aufbewahren, die nicht einmal verschlossen ist.

Vielleicht bewahrt er die Fotos im Atelier auf? Vielleicht ist es ebenso einfach, in das Atelier hineinzuspazieren wie in die Blockhütte!

Nachdenklich starrte Jessica vor sich hin. Dann kramte sie in den restlichen Briefen und fand einen Umschlag, der nicht die gleiche Handschrift aufwies wie die von diesem Greg. Ausserdem klebte darauf eine Briefmarke aus Deutschland. Der Umschlag wies aber ebenfalls keinen Absender auf. Sie zog den dünnen Bogen heraus und begann zu lesen:

Lieber Norbert,

Leider ist es mir in jeder Hinsicht nicht so gut ergangen wie Dir. Ein anderer hat den Posten bekommen, nicht ich. Ich war sogar gezwungen, ihn zu beglückwünschen und musste ihm die Hand schütteln. Man hat mich mit einer lächerlichen Gehaltserhöhung von 5 DM pro Woche abgespeist. Ich habe weder die äussere Erscheinung, noch die innere Kraft, noch die Fähigkeit, andere zu führen. Ich bin ein Nichts, eine Null. Alle lachen über mich. Alles, was ich anpacke, misslingt. Meine Arbeit, meine Ehe, meine Freundschaften. Aber zum Glück habe ich ja noch Dich, und das bedeutet mir sehr viel. Ich hielt meine Verabredung mit dieser Frau, von der ich Dir erzählt habe, nicht ein.

Ich hätte nicht einmal das Essen bezahlen können. Vielleicht ist sie ja gar nicht gekommen? Ich könnte es ihr nicht verübeln. Wer gibt sich denn schon mit einem Geschöpf wie mir ab? Ich ging also allein in eine Bar, trank eine Flasche Bier und bekam Kopfschmerzen davon. Auf dem Heimweg wurde ich von einer Prostituierten angesprochen. Ich dachte, unsere Gesetze hätten sie aus den Wohnbezirken vertrieben. Wozu ist unsere Polizei da? Kann sie nicht für die Einhaltung der Gesetze sorgen? Warum zahlen wir anständigen Bürger unsere Steuern, damit diese elenden Geschöpfe uns in der Dunkelheit ansprechen? Ich lehnte ihr Ansinnen barsch ab. Sie zuckte nur die Achseln und kehrte in die Dunkelheit zurück. Ein schmutziges Geschöpf, wahrscheinlich mit allerlei Krankheiten behaftet. Ich habe mich dann auch auf die Suche nach einem unschuldigen kleinen Ding, wie Du und die anderen es gefunden haben, gemacht. Es ist ein kleiner Junge. Ich durfte ihn aber nicht lange haben. Greg hat ihn mir weggenommen. Er ist dafür extra von Kanada nach Deutschland gereist. Wahrscheinlich wird er demnächst bei Dir aufkreuzen und Dir das kleine Mädchen ebenfalls wegnehmen. Pass besser auf! Gib ihm das Ding und verhalte Dich ruhig. Greg hat mir sehr wehgetan, als ich ihm den Jungen nicht gleich aushändigen wollte. Ich werde nun ein neues Ding suchen und hoffe, dass ich Dir auch bald so ein schönes Foto schicken kann, wie ich es von Dir bekommen habe.

Ich freue mich riesig auf Deinen nächsten Brief.

Mit herzlichem Gruss

Dein Harry

Jessicas Gesicht verzog sich wieder vor Ekel, denn diese Briefe liessen keinen Zweifel offen, dass Mr. Finch und die anderen Männer Kinderschänder waren. Sie schob das Papier zurück in den Umschlag und durchstöberte die restlichen Briefe. Dann fand sie tatsächlich noch vier Umschläge, die wiederum eine andere Handschrift aufwiesen, allerdings kamen diese Briefe wieder aus Kanada. Diese Briefe waren genau so fürchterlich und pervers, wie die Post von Greg und Harry, und sie trugen die Unterschrift »Vince«. Und dieser Vince hatte Fotos von zwei verschiedenen Mädchen beigelegt. Eines von ihnen war acht, das andere zehn Jahre alt.

Offensichtlich hatten die Männer eine Art Club gegründet. Aber das hier war nicht der Club der toten Dichter, sondern »der Club der lebenden Pädophilen.«

Jessicas Körper spannte sich – draussen vor dem Haus hörte sie wieder ein Auto über den Kiesweg rollen. Sie legte den Brief zurück auf den Tisch und ging in die Küche. Durchs Fenster beobachtete sie, wie Mr. Finch aus dem Mercedes kletterte.

Jessica erschrak.

Mr. Finch trug einen schwarzen Mantel, einen schwarzen Hut und hatte einen schwarzen Wollschal um den Hals geschlungen. Schwarze Handschuhe bedeckten seine von Altersflecken gespickten Hände.

Bei dem Anblick lief es ihr kalt über den Rücken. Jessica sah, wie er den Garten durchquerte und in seinem Haus verschwand. Sie bekam es wieder mit der Angst zu tun und fragte sich erneut, was er dort trieb. Wozu diese Aufmachung mit dem schwarzen Hut und Mantel? Stammten diese beiden Teile aus dem Holzschrank, die sie in der Scheune entdeckt hatte?

Zur Beruhigung machte sie sich einen weiteren Drink, rauchte eine Zigarette und überlegte krampfhaft, was sie als Nächstes tun würde.

Ich werde morgen nach Beweisen suchen, und wenn ich etwas gefunden habe, werde ich sofort meine Sachen packen und von hier verschwinden. In Calgary werde ich die Polizei aufsuchen und ihnen die Briefe und die Fotos übergeben.

Jessica zuckte zusammen, als sie Mr. Finch wieder zurückkommen sah. Er murmelte aufgeregt vor sich hin, während er über den Kiesweg zu seinem Auto lief. Dann ging er um den Wagen herum, stieg ein und knallte die Autotür zu. Er legte seinen Sicherheitsgurt an und fuhr los.

Jessica atmete auf, als sie sah, wie er wieder ins Tal hinunterfuhr. Immerhin hatte er nicht bei ihr geklingelt! Sie hätte ihm auch nie und nimmer aufgemacht! Wenn sie jetzt daran dachte, dass sie mit einem Pädophilen zusammen Kaffee getrunken hatte, wurde ihr gleich wieder übel.

Wer waren diese Männer? Greg, Harry und Vince? Wie könnte man herausfinden, wer sie sind, wo sie wohnen, und ob sie überhaupt noch lebten? War Mr. Finch der Einzige, der noch lebte? Gab es noch mehr Männer in diesem Club, die Fotos ausgetauscht hatten? Existierte dieser Club überhaupt noch? War er noch aktiv? Machten die Männer immer noch Jagd auf kleine Mädchen und Knaben? Jessica hatte noch tausend Fragen.

Nach dem Abendessen, das aus einem Erdnussbuttersandwich und einer Tüte Kartoffelchips bestand, ging Jessica früh zu Bett. Sie wollte für ihr morgiges Vorhaben ausgeschlafen sein.

Die Nacht war ungewöhnlich warm, dunkle Gewitterwolken hingen über den Bergen. Nach Mitternacht begann es leise zu grollen, dann aber wurde es wieder ruhig.

Jessicas Schlaf war leicht und unruhig. Plötzlich fuhr sie hoch, setzte sich im Bett auf und rieb sich verschlafen die Augen. Sie nahm an, das heraufziehende Gewitter habe sie geweckt.

Gähnend schaute sie auf die Leuchtziffern ihres digitalen Weckers auf dem Nachttisch: Es war zehn nach zwei Uhr morgens. Jessica bückte sich, um die zu Boden gefallene Decke aufzuheben und erstarrte mitten in der Bewegung. Erschreckt lauschte sie.

Sie hörte dumpfe Geräusche, konnte aber weder sagen, was es war, noch woher sie kamen. Ihr Puls beschleunigte sich. War jemand im Haus? Dann grollte der Donner, ein fahler Blitz zuckte über den Himmel und erhellte das Schlafzimmer schwach.

Es ist das Gewitter, das mich nervös macht, dachte sie und wollte sich wieder hinlegen. Da hörte sie es wieder.

Diesmal klang es wie Schritte, die durch das Haus gingen.

Jessica war plötzlich hellwach. Sie schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und tappte zur Tür, die zum Korridor führte. Sie hatte schon die Hand auf der Klinke, als sie ein lautes Husten vernahm, das definitiv aus dem Hausinneren heraufdröhnte.

Ihr Herz klopfte, sie spürte es bis in die Schläfen hinauf. Sie neigte sich vor und presste das Ohr gegen die Tür. Sie horchte, aber alles blieb still.

Jessica beruhigte sich ein wenig. Sie redete sich selbst ein, dass das Husten von der Strasse gekommen sei. Sie öffnete die Tür ganz vorsichtig und ging hinaus auf den Korridor.

Moment mal, dachte sie. Wer sollte mitten in der Nacht auf der Strasse herumhusten? Ich bin ganz alleine in den Bergen. Oder treibt sich Mr. Finch da draussen herum?

Sekundenlang war sie vor Schrecken wie gelähmt, und erst als sie hörte, dass jemand quer durch das Wohnzimmer ging, schrie sie leise auf, schlich zurück ins Schlafzimmer und verschloss lautlos die Tür. Sie stand wie angewurzelt im Dunklen und horchte gespannt. Als Nächstes waren wieder Schritte zu hören.

Dann ein lautes Krachen, als ob jemand gegen ein Möbelstück gedonnert wäre. Ihr blieb fast das Herz stehen. Da war definitiv jemand im Haus. Direkt unter ihr.

Jessica griff nach dem Baseballschläger, den sie im Supermarkt gekauft hatte. Keuchend vor Angst und Aufregung stand sie da. Sie zitterte am ganzen Körper. Warum nur hatte sie die Pistole im Arbeitszimmer in die Schreibtischschublade gelegt? Sie traute sich jetzt nicht, das Schlafzimmer zu verlassen, um die Waffe zu holen.

Plötzlich wurde es still.

Ein paar Minuten später hörte sie, wie ein Motor ansprang und das sich entfernende Geräusch. Sie wusste jetzt mit Sicherheit, dass sie nicht geträumt hatte. Sie wusste, sie musste etwas unternehmen, aber sie stand da wie eingefroren und konnte sich nicht rühren. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie spürte, wie ihr der Schweiss ausbrach.

Ein schwerer Donnerschlag erschütterte die Luft, und in der nächsten Minute öffnete sich der Himmel und der Regen prasselte herunter. Immer wieder zuckten Blitze auf und schufen eine gespenstische Atmosphäre.

Jessica stolperte zum Fenster, riss es auf und beugte sich vor. Sie spürte nicht, dass ihr Haar klatschnass wurde, während sie auf den Kiesweg hinunterspähte. Sie konnte vom Schlafzimmerfenster aus nicht den ganzen Vorplatz überblicken. Wieder ergriff die Angst Besitz von ihr, wieder überkam sie das Zittern. Was sollte sie nur tun?

Jetzt wurde ihr klar, dass es eine unsagbar dämliche Entscheidung gewesen war, noch eine weitere Nacht in diesem Haus zu verbringen.

Sie brachte es nicht über sich, zur Tür hinaus in den dunklen Korridor zu gehen, hinunter über die Treppe, in die Küche, in das Wohnzimmer, wo vielleicht etwas Schreckliches auf sie wartete.

War Mr. Finch da unten? Oder Greg? Oder Harry? Oder Vince? Alle zusammen?

Sie blieb, wo sie war – und wartete.

Minuten vergingen, bis sie es schliesslich nicht mehr aushielt, die Schlafzimmertür öffnete und vorsichtig in den Flur hinaustrat. Besser der Gefahr offen ins Auge sehen, sagte sie sich, als in Ungewissheit zu schweben. Der Korridor war finster, aber von unten drang ein Lichtschein durchs Fenster. Sie schaute über das Treppengeländer. Dann stieg sie zögernd die knarrende Treppe hinunter.

Unten angekommen drückte sie den Lichtschalter.

Sie fuhr vor Schreck zusammen.

Auf dem Boden lag etwas. Noch bevor sie wusste, was es war, fing ihr Puls an zu rasen. Jessica bückte sich und hob ein kleines Taschentuch aus Seide auf, das auf dem Bodendielen lag. Es hatte Initialen eingestickt und musste ziemlich teuer gewesen sein. Sie runzelte die Stirn und betrachtete die Buchstaben JM.

Jessica stockte der Atem. Ihre Lippen zitterten. Jasmin Müller!

Das Taschentuch gehörte ihr. Es war ein Geschenk von ihrem Patenonkel gewesen.

Jessica ging ins Wohnzimmer und machte dort ebenfalls das Licht an. Die Fenster waren geschlossen, die dicken Vorhänge zugezogen. Mit offenem Mund blieb sie stehen.

Sämtliche Möbel waren verrückt worden. Die Couch, der Sessel, der Teppich, alles war nicht an seinem Platz. Sie trat einen Schritt vor, dann blieb sie wieder stehen und sah verwirrt von einem Möbelstück auf das andere.

Allmählich erkannte sie, was sie so seltsam berührte. Es war so aussergewöhnlich und entsetzlich, dass sie es kaum glauben wollte.

Sie war schon einmal in diesem Wohnzimmer gewesen. Aber nicht in diesem Haus. All die Möbel, so wie sie jetzt platziert waren, standen in dem Haus, wo sie vor vierunddreissig Jahren eingesperrt war.

Jessica packte die Angst, wie sie sie zuvor noch nie erlebte hatte. Voller Panik rannte sie die Treppe hinauf, raste ins Arbeitszimmer und holte die Pistole aus der Schreibtischschublade. Dann eilte sie ins Schlafzimmer und schloss sich darin ein. Sicherheitshalber nahm sie den Stuhl, trug ihn an die Tür und stellte ihn mit der Lehne gegen den Griff. Immer noch wackelig auf den Beinen, setzte sie sich aufs Bett und umklammerte die Waffe in der schweissnassen Hand.

Plötzlich erinnerte sie sich an den Tag, als sie im Supermarkt die Regale nach Backpulver durchforstete. Zu dem Mann im schwarzen Mantel hatte sie gesagt: »Nein, ich brauche Ihre Hilfe nicht.« Dann fand sie das Backpulver, rannte damit an die Kasse und stellte sich in die Reihe. Aber dann stand der Mann wieder hinter ihr und berührte sie.

Jessica konnte jetzt alles so deutlich vor sich sehen, als ob es erst gestern passiert wäre. Die kleine Jasmin Müller, die sie einmal war. Sie konnte die Angst der kleinen Jasmin spüren. Die Erinnerung kehrte mit erschreckender Intensität zurück. Es war so, als ob sie diesen Tag jetzt noch einmal erleben würde:

Es war an einem frühen, schulfreien Nachmittag. Nachdem der Mann Jasmin in der Warteschlange angefasst hatte, liess sie das Backpulver liegen, ohne es zu kaufen und verliess den Supermarkt auf schnellstem Weg. Weil sie Angst hatte, ohne das gewünschte Backpulver nach Hause zu kommen, ging sie anschliessend in einen kleinen Lebensmittelladen, in der Hoffnung, dort das Gewünschte besorgen zu können. Kaum dass sie den Laden betreten hatte, stand auch dieser Mann wieder hinter ihr.

»Kann ich dir behilflich sein?«, fragte der Mann im schwarzen Mantel erneut.

Ohne zu antworten und ohne Backpulver gekauft zu haben, verliess Jessica rasch den Laden.

Auf dem Gehsteig bewegte sie sich mit schnellen Schritten vorwärts und trat den Nachhauseweg an.

Ihre Puppe Veronika umklammerte sie dabei mit festem Griff.

Nach wenigen Metern hörte sie Schritte ganz dicht hinter ihr. Sie drehte sich nicht um, lief noch schneller.

»Nicht so schnell!«, rief der Mann hinter Jasmin. Er streckte seine behandschuhte Hand nach ihr aus. Jasmin drehte sich nur kurz um und der Mann packte sie fest am Arm.

»Komm doch mit«, sagte der Mann im schwarzen Mantel. »Ich habe Backpulver zu Hause. Wir können zusammen einen Kuchen backen.«

»Nein!«, schrie Jasmin. »Ich will nicht!«

»Einen Schokoladenkuchen«, sagte der Mann und lächelte. »Du magst doch Schokoladenkuchen?«

»Nein! Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet.«

»Gut«, sagte der Mann, »du kannst es auch anders haben.« Er verstärkte den Griff an Jasmins Arm und zerrte sie über den Bürgersteig bis zu den Parkplätzen. Ihre Schuhe schleiften über das Pflaster, als sie hinter dem Mann herstolperte.

Verzweifelt schaute sie sich nach Hilfe um und schrie: »Nein! Ich will nicht mitgehen!«

»Es ist völlig unwichtig, was du willst«, erwiderte der Mann wütend. »Begreifst du das nicht?« Seine feuchten Lippen berührten ihr Ohr.

Bei seinem roten Renault angekommen, riss er die Wagentür auf und zerrte das Mädchen in das Auto. Jasmin versuchte sich zu befreien, aber sein Griff war so fest, dass er ihr damit die Knochen hätte brechen können. »Hinein mit dir!«, befahl er mit rauer Stimme. »Gib keinen Laut von dir, oder es passiert etwas ganz Schlimmes!«

Jasmins Augen wurden gross und starr vor Schreck. Sie sah den Jähzorn im Gesicht des Mannes. Trotz der brutalen Drohung schrie Jasmin hoch und schrill: »Nein! Nicht!«

Sie wehrte sich mit Händen und Füssen gegen den Mann, aber ihre Kraft reichte nicht aus, um ihr Handgelenk aus der Umklammerung zu reissen.

Der Mann drängte sie in das Innere des Wagens und dann hörte sie, wie eine Frau aufschrie. »Was machen Sie mit dem Mädchen?«

Der Mann knallte die Wagentür zu. Jasmin schob ihr kleines, schreckerstarrtes Gesicht in die Höhe des Seitenfensters, und die Frau schrie etwas zu dem Mann, was Jasmin nicht hören konnte. Sie versuchte die Tür zu öffnen, aber sie ging nicht auf. Jasmin begann wieder zu schreien, so laut sie konnte.

Dann stieg der Mann ins Auto und sagte mit einem Grinsen im Gesicht. »Die Frau hat mir geglaubt, dass du ein ganz ungezogenes Mädchen bist.«

Er liess den Motor an und fuhr los. Es dauerte keine fünf Minuten, bis der Mann den Renault in einer Garage parkte.

Als er Jasmin aus dem Wagen zerrte, fing sie wieder laut an zu schreien.

»Hier hört dich niemand, du kannst schreien, soviel du willst, kleines Mädchen«, sagte der Mann, während er sie ins Haus hineinzerrte.

Als sie drinnen waren, machte der Mann die Tür hinter sich zu. Das leise Klicken des Schlosses jagte Jasmin einen Schauer über den Rücken.

»Du fürchtest dich, nicht wahr?«, sagte der Mann.

Jasmin nickte.

Der Mann ging ans Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Angestrengt und voller Aufmerksamkeit blickte er nach draussen. Er wollte sich vergewissern, dass niemand das Kindergeschrei gehört hatte.

»Du brauchst keine Angst zu haben.« Der Mann lächelte. »Du bist mir schon einmal aufgefallen. Du gehst öfters einkaufen?«

Jasmin nickte mechanisch. Sie hatte grosse Mühe, den Mann zu verstehen. Er sprach so komisch.

»Ich habe mir gleich gedacht«, fuhr der Mann fort, »was für ein hübsches kleines Mädchen, das wäre ideal!«

»Ideal für was?«, fragte Jasmin voller Panik.

»Du bist ein schönes Geschenk für einen guten Bekannten.«

Jasmin wurde klar, dass sie in der Falle sass. Sie hatte riesengrosse Angst und sah sich panisch um. Vielleicht könnte ich ja aus dem Fenster springen, überlegte sie.

Der Mann griff in eine Schublade und holte ein Päckchen heraus, das in rosa Papier eingewickelt und mit einer pinkfarbenen Schleife zugebunden war.

»Ich habe ein kleines Geschenk für dich. Bevor ich dich weggeben muss, wollen wir zusammen noch ein wenig Spass haben.«

»Ich will kein Geschenk«, krächzte Jasmin. »Ich will nach Hause.« Sie hatte so grosse Angst, dass ihr beinahe die Worte im Hals stecken blieben.

»Unsinn«, sagte der Mann. »Bist du nicht gespannt, was in dem Päckchen ist? Rate mal.«

Jasmin wusste nicht, was sich darin befinden könnte, und sie wollte es auch gar nicht wissen. »Wenn Sie mich gehen lassen, verspreche ich Ihnen, dass ich niemandem etwas davon sagen werde. Bitte lassen Sie mich nach Hause gehen!«, flehte Jasmin.

Der Mann lachte heiser auf. Dann wurde er wieder ernst. »Öffne das Päckchen!«, befahl er.

Jessica lief der Schweiss von der Stirn, das Atmen bereitete ihr grosse Mühe. Weshalb kann ich mich jetzt plötzlich wieder daran erinnern? Und wieso erkenne ich die Möbelstücke im Wohnzimmer erst jetzt, wo sie anders dastehen?

Wem gehören diese Möbel unten im Wohnzimmer? Hat sie Mr. Finch jemandem abgekauft? Vielleicht diesem Mann? Dem Mann aus der Schweiz, bei dem ich eingesperrt war? Kannten sich die beiden? Und zu welchem Zweck ist heute Nacht jemand bei mir eingebrochen und hat die Möbel umgestellt?

Will jemand, dass ich mich erinnere? Oder will mich jemand in den Wahnsinn treiben?

Und wie ist dieser Jemand ins Haus gekommen? Der Schlüssel hatte doch von innen gesteckt. Allerdings hatte sie ziemlich viel getrunken und konnte sich nicht mit Sicherheit daran erinnern, abgeschlossen zu haben. Und jetzt wagte sie es nicht mehr, hinunterzugehen, um nachzusehen.

Mr. Finch hat bestimmt einen Zweitschlüssel, dachte sie. War er hier drinnen? Hat er die Möbel verstellt? Wenn ja, warum?

Was für ein Spiel spielte er mit ihr?

Jessica legte sich hin und während ihr diese Gedanken noch im Kopf herumspukten, fiel sie schliesslich in einen unruhigen Schlaf.

Der Vermieter

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