Читать книгу Wie der kleine Muck erwachsen wurde - Andreas A.F. Tröbs - Страница 10

Die Treibsandfalle

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Der große Sandsturm hatte sich gelegt, und die Sonne schien wieder mit ihrer vollen, gnadenlosen Kraft auf das kleine Dorf inmitten der Oase. Die kleine Siedlung war über und über mit einer zentimeterdicken Sandschicht bedeckt und glich der Miniaturlandschaft in einer wassergefüllten Schneekugel, bei deren Schütteln ein heftiger Flockenwirbel ausgelöst wird. Nur war diese Ansiedlung nicht im Schnee, sondern im feinen, weißgelblichen Sand versunken und es schwebte auch keine Riesenhand zum Schütteln am Himmel. Trotzdem schien das gewohnte Bild irgendwie gespenstisch, fremd und anders zu sein.

Endlich wagte Mukhtar, nach diesem schrecklichen Sandsturm aus der Hütte seines Vaters herauszutreten. Er betrachtete neugierig seine Oase, die völlig unwirklich, ja fast feindlich und irgendwie grotesk wirkte. Da erblickte er einen seltsamen, korbähnlichen Gegenstand, der nun wirklich fremd an dieser Stelle war, und staunte nicht schlecht. Er richtete ihn auf und mühte sich redlich, seinen Deckel zu öffnen. Jedoch, so sehr er sich auch anstrengte, der Korb ließ sich nicht öffnen! „Was mag nur in diesem seltsamen Korb stecken?“, murmelte er und wollte gerade nach einem geeigneten Hilfsmittel Ausschau halten, um den Korb mit Gewalt zu öffnen, da ertönte von fern eine leise, aber befehlende Stimme: „Lass den Deckel zu, hörst du, versuche nicht, ihn zu öffnen! Komm mir lieber zu Hilfe, hörst du, hilf mir hier aus dem Sand raus!“

Mukhtar stutzte, und seine Augen forschten angstvoll nach der Herkunft der Stimme. Und wirklich, nur wenige Meter entfernt, am Rande der Oase, steckte ein menschlicher Kopf umwickelt mit einem Turban, in einem Sandtrichter, und er sah die dazugehörigen Arme, die verzweifelt herumfuchtelten. Da schossen ihm vergangene Erlebnisse und Erfahrungen durch den Kopf, und er zählte eins und eins zusammen: „Sand, Sandsturm, Treibsand? Natürlich, da steckt ein Mann im Treibsand fest, der braucht jetzt meine Hilfe!“

Er rief: „Halte noch einen Augenblick durch, ich hole schnell Hilfe!“ Der Mann im Sand konnte nicht mehr fuchteln. Man sah nur noch zwei Hände bewegungslos aus dem Sand ragen. Jetzt, das wusste der beherzte Bursche, war höchste Eile geboten. Er rief zwei gleichaltrigen Jungen, die gerade des Wegs kamen, zu: „Arif, Achmed, fragt nicht, schnappt euch ein Seil, da braucht jemand dringend unsere Hilfe!“ Die Jungen begriffen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Sie hatten schnell ein Seil bei der Hand und folgten Mukhtar. Mukhtar hatte sich das Seil fest um den Leib gebunden, sich auf den Bauch geworfen und schrie den beiden Jungen zu, indem er eine Hand des Verunglückten fasste: „Los, zieht, zieht, als wenn es um euer Leben ginge!“ Arif und Achmed zogen aus Leibeskräften und hatten bald, gemeinsam mit Mukhtar, den Mann aus der tödlichen Falle gerettet. Der Mann, ein Typ von beachtlicher Körpergröße und mit einem assyrischen Backenbart, war über und über mit Sand bedeckt.

Er atmete stoßweise, keuchend, hustete heftig und kam schließlich zu sich. Er prustete jede Menge Sand aus dem Mund, hustete noch immer heftig und musste fortwährend niesen. Dabei schoss ihn das Wasser aus den Augen und bildete zwei kleine Sturzbäche, die über die Wangen liefen, aber bald im Sand auf diesen Wangen versiegten. Er wischte sich die Augen, schüttelte, klopfte und nestelte an sich herum, erblickte seine Befreier und lachte endlich: „So sehen also meine Retter aus? Ohne euch wäre ich jetzt schon bei Allah!“ Sie lachten gemeinsam laut und befreit, und die Jungen begriffen, dass sie eben ein Menschenleben gerettet hatten. Mukhtar rief spitzbübisch: „Bei Allah soll es doch auch nicht schlecht sein; schließlich wohnt der im Paradies, und dort ist es allemal besser als in der Wüste!“ Arif und Achmed schauten ihren kessen Altersgenossen kritisch von der Seite an, aber der Fremde hatte verstanden und erklärte: „Da wirst du wohl recht haben, mein buckliger Freund, aber meine Zeit fürs Paradies scheint noch nicht gekommen!“ Er lachte erneut und fuhr fort: „Aber lasst mich euch erst einmal vorstellen: Ich bin Mustafa N’Atter, der Schlangenbeschwörer. Dort drüben steht mein Korb, gefüllt mit den giftigsten Schlangen der Wüste, und hier in meinem Gürtel steckt meine magische Schlangenflöte. Sie ist zwar noch etwas sandig, aber ich will ihr die richtigen Flötentöne schon wieder beibringen.“

„Au, da hatte ich ja richtig Glück, dass sich dein Schlangenkorb nicht öffnen ließ!“ erschreckte sich Mukhtar. „Vielleicht war es auch die Vorsehung?“, mutmaßte Mustafa. „Aber jetzt mal im Ernst: Mein Schlangenkorb besitzt einen geheimen Mechanismus, den keiner außer mir kennt und öffnen kann.“ Der Schlangenbeschwörer lachte, wurde aber schnell wieder ernst und tätschelte den Jungen die Wangen, die sich daraufhin fragend ansahen. „Habt tausend Dank! Ihr habt mir das Leben gerettet, und ich werde nun ewig in eurer Schuld stehen!“ Er unterstrich seine Worte mit einer tiefen Verbeugung. Dann plapperte er weiter munter drauflos. „Was glaubt ihr, wie schnell das ging? Von einem Kameltritt zum nächsten: buff! Und weg! Nur meine Schlangen und ich konnten sich gerade so retten, mein Kamel versank unter mir wie im Gelben Meer!“ Er deutete auf einen überwehten Sandtrichter hinter sich und fuhr fort: „In diesem Krater da steckt es, mein Kamel und Reisegefährte! Da nutzt es auch nichts, dass mir die Agentur „RENT A CAMEL“ das Kamel als Mittelklassekamel mit geregeltem Kat, hohen Reisequalitäten und günstigem Verbrauch angepriesen hat. Nun hat es alle seine Qualitäten mit in sein sandiges Grab genommen. Wenn das die Leute von „RENT A CAMEL“ gewusst hätten! Aber sie werden es erfahren, wenn ich diesen Verlust anzeige und trotzdem noch Schmerzensgeld und meinen entgangenen Gewinn einklage. Das wird nicht so einfach werden. Bei aller Tragik, da müssen die einfach durch! Ich trage keine Schuld! Ein typischer Fall von höherer Gewalt. Und da sich Allah, dem es in seiner unendlichen Güte gefiel, mir diesen Sandsturm zu schicken, nicht verklagen lässt …“ Er nickte wie zur Bekräftigung seiner Worte, dass der Sand nur so aus dem Turban rieselte, und fuhr redselig fort: „… wird mich RENT A CAMEL wohl schadlos halten müssen, außerdem habe ich euch als Zeugen, wenn es hart auf hart kommt.“

Mustafa N’Atter kratzte sich den Kopf und plapperte weiter: „Aber, wir reden hier über den schnöden Mammon, und das arme Tier wird wohl schon im Kamelhimmel sein, so es einen gibt. So schnell kann es gehen! Aber meine Schlangen, die natürlich auch versichert sind, sind glücklicherweise gerettet, Allah und euch sei Dank!“ Mustafa N’Atter erzählte mit allem, was er besaß, mit Händen, Füßen, Ohren und mit kugelrunden Kinderaugen, eben mit allem, was man am menschlichen Körper so bewegen, verstellen oder verändern kann und natürlich auch mit dem Mund, aus dem es sprudelte wie aus einem der Brunnen in der Oase. Seine Kinderaugen schienen etwas im Widerspruch zu seiner hochgewachsenen Erscheinung zu stehen, jedoch zerstörten sie bei Mukhtar und seinen Freunden nicht den Eindruck, einen sympathischen Zeitgenossen gerettet zu haben.

„Eigentlich war ich auf dem Weg zum Sultanspalast, um dem Sultan dort meine Referenz zu erweisen und meine Schlangenkünste vorzuführen. Aber, wie war es wieder einmal? Entweder mein Kamel war ein Trampeltier und hat versagt, oder die dreimal verwünschte GPS-Bord-Navigation, die in dem Sattelzeug raffiniert integriert war, hat ihren Geist und damit ihren Dienst aufgegeben. Plötzlich schien dieses Hightech-Gerät kein „Kamelisch“ mehr zu verstehen. Ich habe sämtliche kamelische Dialekte programmiert, geschaltet, gedrückt, getan und gemacht, um an mein Ziel zu gelangen. Nichts, das Tier reagierte nicht! Da nützte es auch nichts, zwischen den beiden Airbags so sicher wie in Allahs Schoß zu sitzen. Bei allem, was mir heilig ist: Ich habe alles versucht, mit der Navigation klar zu kommen! Ich habe wirklich alles versucht: wie ein Blöder gekurbelt, getan und gemacht! Am Ende verlor ich in diesem allgemeinen Tohuwabohu auch noch meinen Sextanten, der auf jedem Wüstenschiff unverzichtbar ist, und alles schien direkt beim Scheitan!“ Er kraulte sich den Bart, räusperte sich laut und begann zur Verwunderung der Freunde einen Monolog, wobei seine Augen starr und seltsam entrückt blickten: „Sagte der Typ von „RENT A CAMEL“ nicht, dass er zwei seiner besten Kamele zur freien Auswahl hätte? Ich machte mir noch einen Spaß draus und erklärte, dass ein Kamel vollkommen ausreichend sei. Daraufhin legte der Verleiher die Stirn in Falten und erklärte, dass das Kamelpaar noch einen kleinen Haken hätte. Als ich ihn fragte, warum, erklärte er, dass die Kamele schwul seien und Dromme und Dar hießen und eigentlich untrennbar wären. Diese Tatsache ließ mich zuerst aufhorchen und dann nachdenklich werden. Sollte ich nun deswegen mit zwei statt mit einem Kamel reisen? Soweit käme das noch! Zwar wäre der Preis günstig, der Agent sprach in diesem Fall von einem ersprießlichen Doppelpack-Preis, aber, da ich die Wasserpreise an den Zapfstellen der Wüste kenne, schlug ich die Warnung des Verleihers in den Wüstenwind, nahm das Kamel Dromme, schwang mich drauf und versuchte mich zielgerichtet auf meine Reise zu begeben. Aber: Was musste ich zu meinem Erschrecken schon nach kurzer Zeit feststellen?“

Die Jungen starrten Mustafa wie den Mann aus dem Mond an, zuckten ratlos mit den Schultern und hingen an seinen Lippen. „Na, dass diese Warnung nicht aus der Luft gegriffen, sondern gerechtfertigt war! Dromme, das Kamel, lief nicht los, sondern bockte nach allen Regeln der Kunst. Bald schien es mir, ich säße auf keinem komfortablen Kamel, sondern auf einem störrischen Esel. Jedoch, weil Großmut mein zweiter Vorname ist, ließ ich dem Tier zahlreiche Liebkosungen angedeihen und es begann sich dann auch wirklich langsam in Bewegung zu setzen. Als ich aber zufällig meine pinkfarbene Decke hervorholte, um mich damit gegen die Ungemache der Wüste zu schützen, begann es plötzlich, allein Allah war mein Zeuge und weiß warum, wie ein Wüstenhase zu sprinten. Ich sah zwar noch das Schild mit der Dreißig drauf, konnte das Tier aber nicht mehr abbremsen. Dem grellen Blitz folgte ein Officer der Wüstenpatrouille, der hinter dem einzigen Stein der gesamten Strecke hockte. Normalerweise versuche ich immer gesetzeskonform zu leben, aber mit diesem Viech? Der Officer war natürlich sauer, weil ihm das Kamel nicht nur die Show gestohlen, sondern ihn auch noch mächtig mit Sand beworfen hatte. Er strich sich pikiert über die Uniform und stellte empört fest: ‚Das hast du extra gemacht!’

"Ich schwieg weise und gab den reumütigen Verkehrssünder. Ob das was geholfen hat, kann ich nicht sagen. Eins ist sicher: Der hat mein Foto und ich kann mich auf eine Vorladung wegen überhöhter Geschwindigkeit in einer 30er-Zone und eine saftige Klage wegen ‚Besudelung im Dienst’ besonders freuen. Aber nun ist mir das auch egal! Jetzt mal was andres. Habt ihr schon mal die neuen Uniformen von diesen Sheriffs gesehen? Dieses Leder, das sich wie eine zweite Haut über diese muskulösen Körper schmiegt! Dann diese extreme Passung der Beinkleider! Dieser besondere Schnitt des Turbans! Und dann, ja dann, diese verspiegelten Sonnenbrillen! Da bleibt einem fast der Atem weg! Das nenne ich eine Dienstkleidung, die endlich auch mal dem Bürger gefällt!“

Die Freunde schauten Mustafa mit Kopfschütteln, Staunen und offenen Mündern an. „Glaubt ja nicht, dass das alles war!“, ereiferte sich der Schlangenbändiger, der plötzlich wie aus einem Traum erwachte. „Denn nun kamen Dromme und ich, immer noch in diesem Affentempo, zur Mautstelle, die als extra Geldquelle für den Sultan an jeder Grenze Maons steht. Bei Allah! Ich kenne wirklich alle Tricks und Kniffe und bin ein erfahrener Reiter, aber das Tier kam erst hinter der Mautstelle zum Stehen. Es durchbrach die Schranke mit einem furchtbar lauten Getöse, und ich bekam nicht nur Sand und Holz zu fressen, sondern noch jede Menge Stress mit dem Zöllner! Schließlich klebte er Dromme (unter großem Palaver und zu einem völlig überteuerten Preis) doch noch die Vignette auf den Hintern, was sich dieses Tier auf seltsame Art und Weise geduldig gefallen ließ. Danach folgte die bereits geschilderte GPS-Panne und gleich darauf brach dieser vermaledeite Sandsturm los, der mich vollends von meinem rechten Weg abbrachte. Übrigens: Glaubt ja nicht, dass sich in solchen schlimmen Notfällen irgendwo eine Notrufsäule findet! Denkste! Kein Gedanke an Hilfe! Schon gar nicht von der viel gepriesenen Wüstenpatrouille! Schnieke Uniform haben die ja und blitzen können die wie die Teufel, aber wenn man die wirklich mal braucht … Nichts, weder ein Heli noch ein Offroader oder sonst was. Von den bereits erwähnten Beamten, diesen Wüsten-Models, ganz zu schweigen, da ließ sich nichts und niemand sehen!“ Er spuckte verächtlich in den Sand und wiederholte: „Wenn man die Typen in ihrem Lederdressing (oder wie das Zeug heißt) und ihren hohen, blanken Springerstiefeln schon mal braucht! Shit!“ Er überlegte, so als ob er nichts vergessen wollte zu erzählen, bewegte beide Arme plötzlich von oben nach unten und schwadronierte weiter: „Dann tat sich, wie schon gesagt, der Boden auf und es ging direkt in diese Treibsandfalle. So, als ob ich sie als Zielpunkt eingegeben und ausgewählt hätte. Wer weiß: Vielleicht hatten sich die Koordinaten auch soweit verstellt, dass es doch der Zielpunkt war? Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich wünsche mir nur noch, dass Allah diesen abscheulichen Sandsturm mit einer großen Windstille strafen möge! Weiter weiß ich, dass mir so ein Ungemach nicht noch mal unterkommen wird. Nie wieder GPS oder ein schwules Kamel – bei Allah! Beim nächsten Sandsturm verlasse ich mich nur noch auf meinen gesunden Menschenverstand und bewege mich keinen Zoll mehr vom Fleck! Bei Allah, das ist eine Lektion, die ich gelernt habe!“

Er schwieg einen kurzen Augenblick und erzählte munter weiter: „Ach, ich bin ja so froh, dass ihr mich aus dieser Misere gerettet habt und ich noch lebe. Zur Belohnung werde ich euch und den Bewohnern eures Dorfes heute Abend ein kleines Schlangensondergastspiel geben …“ Er endete abrupt, so als sei ihm plötzlich etwas eingefallen. Er schaute plötzlich nach seinem Korb und lief ohne ein weiteres Wort eilig hin. Achmed blickte dem Schlangenbändiger kopfschüttelnd nach, grinste die beiden Altersgenossen an und flüsterte: „Ich wusste noch gar nicht, dass SCHWUL eine ansteckende Krankheit ist!“ „Schwul sein, das ist doch keine ansteckende Krankheit! Entweder man ist schwul oder man ist es nicht!“ Achmed achtete nicht auf Mukhtars Worte und stichelte weiter: „Was glaubt ihr, wer von den beiden diese Krankheit zuerst besaß?“ Achmed schaute provozierend in die Runde. „Ich glaube, da haben sich zwei getroffen, die beide stockschwul sind und darum auch prima zusammengepasst haben!“, erklärte Arif altklug.

„Ist doch eigentlich auch egal. Fakt ist, dass ihn die pinkfarbene Decke und die Geschichte mit dem Bullen verraten haben! Wie da seine Augen geleuchtet haben! Jetzt wissen wir, was das für einer ist! Aber“, er kicherte leise, „sich über ein schwules Kamel entrüsten! An die Story mit dem GPS glaube ich jedenfalls nicht!“, ereiferte sich Achmed. „Da hat er ganz schön dick auftragen! Oder hast du schon jemals davon gehört, dass ein Navigationssystem kein Kamelisch versteht?“ Die Jungen schüttelten stumm die Köpfe und beobachteten Mustafa, wie er eifrig seinen Schlangenkorb nach Beschädigungen untersuchte. Er machte schließlich ein zufriedenes Gesicht, schulterte den Korb und lief, mit der freien Hand heftig gestikulierend, zurück zu den Jungen.

Wie der kleine Muck erwachsen wurde

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