Читать книгу Wie der kleine Muck erwachsen wurde - Andreas A.F. Tröbs - Страница 11

Der besondere Lohn

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Achmed hatte als erster sein Wettbüro errichtet. „Endlich kann ich auch mal das große Geld machen!“, freute er sich, und die Dorfbewohner stauten sich bereits vor seinem Schalter, als Hassan Ibn Odd Set, der Dorfälteste, erschien. „Seit wann darf denn ein Kind oder Jugendlicher ein Wettbüro leiten? Das ist doch erst ab dem 18. Lebensjahr gestattet!“ Er schnaubte wie ein wütender Stier und befahl dem Jungen ungehalten und ungeduldig, diesen Platz zu räumen. „Aber im Reglement steht keine Altersbegrenzung, von wegen ab 18 Jahren! Jedenfalls ist mir da nichts bekannt! Und außerdem habe ich Mustafa N’Atter das Leben gerettet! Ich war der Erste!“, versuchte Achmed zaghaft, dem Dorfältesten zu widersprechen.

Hassan Ibn Odd Set schien jedes Mittel recht, Achmed von diesem Platz zu vertreiben, von dem er, der Dorfälteste, ahnte, dass er zur Goldgrube werden könnte. So griff er zu dem letzten Mittel, das ihm zur Verfügung stand und rief mit zorngerötetem Gesicht: „Ha, ha, Leben gerettet! Nun gut, jetzt empfehle ich dir aber, dein eigenes Leben zu retten!“ Er zückte seine neunschwänzige Katze und peitschte den Jungen, der vor Schmerzen laut aufschrie, aus dem Wettbüro, dann nahm er selbst, mit dem freundlichsten Gesicht der Welt, ganz so, als sei überhaupt nichts geschehen, den Platz hinter dem Wettschalter ein. Der Dorfälteste wusste, dass die Wetten so günstig wie noch nie standen. Die Bewohner des Dorfes kannten keine Schlangenbeschwörer. Sie hatten so einen fragwürdigen Menschen noch nie im Leben zu Gesicht bekommen. Sie wussten zwar um die Gefährlichkeit der Reptilien, aber sie kannten weder die Tricks noch die Kniffe eines Schlangenbeschwörers und schon gar nicht dessen magische Flöte, mit der er die Schlangen im Zaume und bei Laune hielt. Aber er, Hassan Ibn Odd Set, der kluge Dorfälteste, kannte diese Kniffs. Er kannte sie alle. Still lächelte er in sich hinein. Er würde als einziger auf Mustafa N’Atter als Sieger setzen, da war er sich sicher. Er hatte nämlich sehr schnell, klug und knallhart kalkuliert. Wenn Mustafa N’Atter wider Erwarten doch gebissen werden würde – halb so wild! Er, Hassan Ibn Odd Set, würde es schaffen, eine zweite Wette zu erfinden, dieses Mal nicht eine Wette auf Leben oder Tod des Schlangenbändigers, sondern eines Zuschauers. So würden unter Umständen gleich zwei Wettverhältnisse entstehen, die ihn, Hassan Ibn Odd Set, den Dorfältesten, in jedem Fall begünstigen und reich machen würden. Er würde gewinnen, in jedem Fall gewinnen. Dieser Gedanke wärmte ihm das Herz, sodass er vor lauter Freude fast wie einer der frechen Dorfjungen gehüpft wäre. Er war der Klügste, die anderen dumm und einfältig. Glaubte er. Diese einfachen Wüstenmenschen besaßen nicht seinen Scharfsinn, seine Schläue oder gar seine Hinterlist. Sie glaubten nur das, was sie sahen oder wussten, und das hielt er für sein Kapital.

Achmed rieb sich die schmerzenden Gliedmaßen, sagte aber trotzdem träumerisch: „Ach, es wäre doch zu schön gewesen, aber der Dorfälteste …“, seine Stirn verfinsterte sich, er ballte die Faust und schaute hasserfüllt in Richtung des Wettbüros, „…wird seine Strafe auch noch bekommen!“ Dann drehte er sich brüsk ab und erklärte gleichmütig: „Wisst ihr was, ich habe keinen Bock mehr auf Schlangen und schon gar nicht auf Wetten! Aber, was könnten wir stattdessen nur anfangen?“ In diesem Augenblick ging ein Raunen durch die Menge. Hassan Ibn Odd Set hatte eben seinen letzten Wettkandidaten bedient, sein Wettbüro geschlossen und das Zeichen zum Beginn der Vorstellung gegeben. Mustafa N’Atter stand vor seinem Schlangenkorb, hob beschwörend beide Arme, ließ dann schnell einen Arm sinken, der streifte nur den Deckel und dieser sprang wie durch Zauberhand auf. Asad, der gleich neben Achmed stand und für jeden Streich zu haben war, flüsterte ihm ins Ohr: „Wir könnten doch heimlich die Schlangen vom Schlangenbeschwörer freilassen!“ Da erschallte eine anrührende und wehmütige Melodie, die alle gleichermaßen erfasste und verstummen ließ. Die Melodie kam aus Mustafa N’Atters magischer Flöte, und eine Königskobra, die sich plötzlich aus dem Korb erhob, ließ allen den Atem stocken. Die Schlange, die sofort ihre typische Drohhaltung mit dem gespreizten Halsschild zeigte, die Schlange, die Mustafa N’Atter im Schneidersitz vor seinem Korb sitzend mit dieser bezaubernden Melodie entzückte, diese Schlange wand und wogte sich immer weiter aus dem Korb empor. Das sah wie ein betörender Tanz aus. Die gesamte Zuschauerschar, die dieses Schauspiel andächtig verfolgte, schaukelte plötzlich genau wie die Schlange und ihr Bändiger, wie in einer vorübergehenden Bewusstseinstrübung, nach den Klängen der sonderbaren Melodie hin und her. Sie schienen alle wie verzaubert von den Künsten Mustafas und schauten mit geweiteten, sensationslüsternen Augen dem geschmeidigen Tanz der Schlange zu. Wann würde sie zustoßen und dem Schauspiel ein jähes Ende bereiten? Gäbe es ein Opfer? Wenn ja: Würde es den Schlangenbiss überleben? Doch die Schlange, die sich wie im Rausch bewegte, dachte nicht an Angriff, sondern nur an Tanz, den sie von den rhythmischen Bewegungen ihres Herrn und Meisters kopierte.

Mustafa N’Atter hatte zu Beginn der Veranstaltung erklärt, dass die Schlangen durch den Sandsturm und die Wärme etwas gereizt seien und es keine lauten Geräusche seitens des Publikums oder sonstwoher geben dürfe, da er sonst für nichts garantieren könne. Jedoch Hassan Ibn Odd Set, der Dorfälteste, hatte sich, ungeachtet der Gefahr und auch, um besser sehen zu können, ganz nach vorn in die erste Reihe gedrängt. Er ging durch die Menge, sah in die sensationsgeweiteten Augen der Menschen und rieb sich inbrünstig, das gute Geschäft witternd, beide Hände. Alle sahen nur das Spiel der Schlange und keiner den falschen Glanz in den Augen des Dorfältesten und keiner seine Hände, die er sich geschäftstüchtig rieb, weil er wusste, dass Mustafa N’Atter ein erfahrener Schlangenbeschwörer ist. Solche Fakire und Lebenskünstler hatte er, während eines Einkaufbummels mit seinem Weib, schon mehrmals in den gläsernen Kolonnaden des Sultans erlebt. Nie taten die Schlangen etwas anderes als ihnen ihr Herr befahl. Mit diesem Wissen schaute Hassan Ibn Odd Set dem schaurig-schönen Tanz des giftigen Reptils mit glitzernden Augen weiter zu. Arif, dem die Aufregung der vormittäglichen Rettungsaktion Mustafa N’Atters noch in den Knochen gesteckt hatte, rief, wie eben zu sich gekommen, erbost aus: „Schlangen befreien? Bist du blöd? Ich habe keine Lust, von einer Schlange gebissen zu werden, um dann für alle ein jämmerliches Schauspiel und Grund für eine weitere Wette zu geben!“

Alle schauten auf Achmed, der Arifs Einwand gar nicht so unbegründet fand. Doch plötzlich begannen Achmeds Augen zu leuchten: „Bei den Giftzähnen aller Schlangen, Arif hat recht! Aber dort steht Mukhtar. Passt mal auf, da ist mir doch in diesem Augenblick etwas eingefallen! Gleich gibt es was zu lachen!“ Und ohne eine Antwort von seinen Freunden abzuwarten, begann er sich an den buckligen Jungen heranzuschleichen. Arif rief noch leise und warnend: „Mit Mukhtar ist nicht gut Kirschen essen. Ich kenne da eine Geschichte ...!“ Asad, der von dem Unmut Achmeds angesteckt schien, erklärte so gleichmütig wie Achmed: „Bleib mir ja mit deinen Geschichten vom Leibe! Alles ist besser als dieser Schlangentanz hier!“ Dabei verdrehte Asad gekonnt die Augen, wog sich in den Hüften und ahmte die Bewegung Mustafa N’Atters nach, warf sich in den Sand und ließ ihn durch die Finger rinnen: „Es ist sooo stinklangweilig, los, Achmed, du hast doch immer die besten Ideen, trau dich!“ Achmed, der von allen unbemerkt begonnen hatte, sich an Mukhtar heran zu schleichen, schaute Asad entgeistert an und flüsterte: „Was glaubst du, was ich hier gerade mache? Hä? Wonach sieht es denn aus?“

Kopfschüttelnd erreichte Achmed Mukhtar, der wie gebannt dem Spiel mit der Schlange zusah, von hinten. Langsam richtete sich Achmed auf, spannte sich wie eine Schlange vorm Zustoßen, sprang Mukhtar auf den Rücken und rief laut: „He, du König aller Maulwürfe und Wanderratten, ich will auf dir reiten! Bleib einfach, wie du bist, wir werden beide einen kleinen Ausritt zum Sultan unternehmen.“ Was nun folgte, geschah im Bruchteil einer Sekunde, es währte gerade so lange wie ein Augenaufschlag. Achmeds hinterhältiger Anschlag und Mukhtars erschrockener Aufschrei kamen gerade in dem Augenblick, als sich die tanzende Schlange auf Augenhöhe und im Blickkontakt mit Hassan Ibn Odd Set, dem Dorfältesten, befand. Mustafa N’Atter stand dem Geschehen vollkommen ohnmächtig gegenüber: Er konnte die Schlange weder packen noch von ihrer Schockreaktion abhalten. Es geschah wie durch Allahs Fügung. Die Schreie der Jungen, das Innehalten der Schlange und ihr Zustoßen schienen in ihrer logischen Abfolge wie aus einem Guss. Die Schlange hatte ihre langen Giftzähne pfeilschnell durch die Halsschlagader von Hassan Ibn Odd Set geschlagen und sich ebenso schnell wieder zurückgezogen. Der Dorfälteste griff sich reflexartig mit beiden Händen an den Hals, sein Gesicht lief blau an, die Augen traten aus ihren Höhlen. Er sank auf die Knie und fiel bäuchlings in den Sand, wo er am ganzen Leib zuckend und laut röchelnd liegen blieb, um sich nach wenigen Minuten überhaupt nicht mehr zu bewegen.

Mustafa N’Atter hatte seine Schlangen geistesgegenwärtig und schnell im Korb verstaut und starrte fassungslos auf den leblosen Körper des Dorfältesten. Die Zuschauer waren, nachdem sie ihren ersten Schock verwunden hatten, laut schreiend wie ein vom Habicht bedrohter Hühnerhaufen auseinander gestoben. Das junge Weib des Dorfältesten stand zuerst wie zu einer Salzsäule erstarrt, kniete gleich darauf laut jammernd vor ihrem toten Mann nieder, warf sich immer wieder Sand aufs Haupt, verdrehte schrecklich die Augen und stieß laute Gebetsformeln in den Himmel.

Die beteiligten Jungen standen noch wie ein steinernes Denkmal an der Stelle ihrer Untat: Achmed auf Mukhtars Rücken und Arif und Arad daneben, zu Tode erschrocken und schweigend.

Wie der kleine Muck erwachsen wurde

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