Читать книгу Wie der kleine Muck erwachsen wurde - Andreas A.F. Tröbs - Страница 6
Die Wette
ОглавлениеDie stille Ortsmitte füllte sich rasch mit Menschen, die das laute Spektakel mitleidig oder sensationslüstern betrachteten. „Wetten, dass der das nicht mehr lange macht!“, hört man einen rufen. „Ich halte dagegen“, meinte ein anderer, „der Stich eines Skorpions ist zwar heimtückisch, aber nicht immer tödlich!“, und glotzte wie ein stupider Komodowaran.
Es dauerte nicht lange, da ertönte von hinten eine herrische Stimme: „Platz da, aus dem Weg!“ Der Besitzer der Stimme, Hassan Ibn Odd Set, ein mittelgroßer, fetter Mann mit faltigem Bulldoggengesicht, stechendem Blick, wehendem Gewand und breitem Leibgürtel, bahnte sich resolut einen Weg durch die gaffende Menge: „Oh Omar, konntest du nicht aufpassen? Weißt du nicht, dass der Stich eines Skorpions tödlich ist?“, begann er ohne Umschweife und mit täuschend echtem Mitleidsgesicht. „Du weißt, was das Reglement in solch einem Fall vorsieht?“ Er betrachtete Omar lauernd und mit kalten Augen. Als dieser nicht antwortete, setzte er nach: „Nein? Macht nichts, ich sag’s dir besser noch einmal! Also: Begib dich direkt in deine Hütte, beschleunige deinen Schritt, gehe nicht über Umwege und ziehe bei mir noch keine 400 Sultanos ein!“ Danach heulte er mit falschem Mitleid wieder: „Ach, Omar, ich hörte, was dir widerfuhr. Wie konnte das nur geschehen? Allah ist mein Zeuge, das wir alle mit dir fühlen. Sei unbesorgt, ab jetzt geht alles seinen geregelten und oasischen Gang. Jetzt im Augenblick errichten meine Sklaven beispielsweise gerade das mobile Wettbüro vor deiner Hütte. Das ist wichtig! Du weißt doch, wie sehr die gesamte Dorfbevölkerung darauf erpicht ist, mit dir ‚mitzufiebern’ und deine Genesung mit einer Wette zu unterstützen. Sag nun frei heraus, was ich noch für euch tun kann!“ Ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, setzte er nach: „Armer Teufel! Tut es denn sehr weh?“ Dann näherte er sein faltiges Doggengesicht an Omars Ohr und sabbelte: „Stirb mir ja nicht hier auf der Straße, hörst du! Bei mir steht noch keine einzige Wette zu Buche. Du weißt doch, zehn Prozent von allem gehört dir oder deiner Witwe!“ Er lachte verächtlich und zischte: „Nichts für ungut! War nur’n Scherz! Also los, ab! Husch, husch, ab in die Hütte!“ Er rieb sich hinter ihrem Rücken die Hände und rief ihnen mit lauter und aufgeräumter Stimme nach: „Und die Hütte darfst du keinem anderen außer mir öffnen! Denk an das Reglement! Hörst du?“
Dann überließ er die beiden ihrem Schicksal und eilte davon, um sein Wettbüro, das auch an diesem Tag wieder Wetten auf Leben oder Tod annahm, so schnell wie möglich zu öffnen. Die Luft in dem einzigen Raum der winzigen Hütte, die sich Omar und Latifa mit ihren drei Kindern und einer Ziege teilten, war heiß und stickig. Latifa hatte die ganze Nacht an Omars Lager gewacht. Diese Nacht hatte alle Spottlust von ihr genommen, denn Omars Arm war zu einem unförmigen Klumpen angeschwollen, und sein Zustand hatten ihr tiefe Falten in die Stirn gegraben. Er redete im Fieber und warf sich unter lautem Stöhnen hin und her. Der Morgen graute. Mit dem Geschrei der Kinder erhob sich auch ein lautes Meckern der Ziege, deren Euter voll und deren Magen leer war. Rastlos wechselte Latifa die kühlenden Tücher auf Omars Arm. Das Feuer unter dem gusseisernen Wasserkessel drohte zu verlöschen und musste mit frischem Brennmaterial versorgt werden. Als erstes nahm Latifa die Ziege aus dem Verschlag, schob sie unsanft zur Tür hinaus und rief: „Mach, dass du rauskommst! Such dir im Hain was zu fressen!“ Dann wandte sie sich um und sah nach den Kindern. Den beiden größeren gab sie die Reste vom Baba Ghanush in je eine Holzschüssel und hieß sie, es zu essen. Das jüngste nahm sie auf den Arm, legte es an und setzte sich mit lautem Schnaufen an Omars Lager. Omar war erwacht und sah sein Weib mit liebevollem Blick an: „Gut, dass ich in den vergangenen Tagen für genügend Brennmaterial gesorgt habe!“, und schaute zu dem großen Haufen getrockneten Kamelmist, der etwas entfernt in einer Ecke lag. Sie lächelte schwach und strich Omar sorgenvoll über die Stirn: „Dass dir dieser verwünschte Skorpion so arg zusetzen würde, hätte ich auch nicht gedacht!“ „Aber, Latifa, daran stirbt man doch nicht!“ Er versucht ein zaghaftes Lächeln: „Das habe ich jedenfalls nicht vor. Zwar wird es schwer für dich, da du jetzt statt drei plötzlich vier Kinder hast. Aber“, er versuchte, Zuversicht und Hoffnung in seine Stimme zu legen, „du wirst sehen, in ein paar Tagen bin ich wieder auf den Beinen!“ Seine Stimme klang rau und kratzig. Er räusperte sich: „Ich werde leben und denen etwas husten!“ „Du hast recht, ich will alles tun, damit es dir bald wieder besser geht! Aber unser Gewinn wird einmalig sein. Schau dir Hassan Ibn Odd Set an, beim Propheten! Der gewinnt immer! Und was der alles besitzt: drei große Felder mit je einem Brunnen, ein richtiges Haus, sogar Sklaven, viele Kamele, Ochsen, Ziegen und Frauen und was weiß ich nicht noch alles!“
„Hassan Ibn Odd Set!“ Omar lachte bitter. „Der hat sich doch dem Scheitan verschrieben, irgendwann wird der kommen, um ihn zu holen. Das ist keiner, an dem man sich ein Beispiel nehmen kann. Hörst du, Weib!“ Er schnaufte vor Anstrengung, der Schweiß brach ihm aus. „Das ist kein Beispiel für uns! Wir wissen, was er mit dem gewonnenen Vieh anstellt. Jawohl! Er treibt es auf den Basar von Sultanstadt und wandelt es dort in klingende Münze um. Er ist der Einzige hier im Dorf, der Sultanos oder gar Gold besitzt. Bei Allah, der Scheitan soll ihn holen, diesen dreimal verfluchten Halsabschneider, der mit unsereinem seine miesen Geschäfte macht!“
Im selben Augenblick ertönte draußen vor der Hütte die laute und markante Stimme Hassan Ibn Odd Sets, lockend und geschäftstüchtig. „Leute, eilt herbei und wettet! Keiner weiß, wie Omars Chancen stehen! Wir alle fühlen mit ihm, aber ihr kennt das Reglement! Bei Gewinn verdoppelt sich euer Wetteinsatz, und bei Niederlage verliert ihr euren Wetteinsatz. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Zögert nicht länger! Nie war es einfacher, neuen Reichtum zu erlangen!“ Er zeigte sich leutselig und aufgeräumt: „Ah, Achmed! Guten Morgen! Was bringst du mir? Oh, einen Ochsen!“, dann rief er laut: „Leute, schaut Achmed an: Den Tüchtigen und den Mutigen hat Allah lieb! Ihm ist das Glück hold!“ Dabei klopfte er dem schüchternen Mann auf die Schulter und flötete: „So, Achmed, geh nun wieder an deine Arbeit! Ich werde dich im Gewinnfalle informieren, Allah sei mit dir und deiner Familie! So, der nächste!“ Das Scharren und Murmeln der Leute, die sich bereits seit einiger Zeit vor dem Wettbüro drängten, erhob sich wie Aasgeierrufe in die Luft und vermischte sich mit dem Meckern und Muhen ihrer Tiere. Die Tiere waren ihr Wetteinsatz, sie waren die Träger ihrer Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. An etwas anderes dachten sie nicht, zu groß war ihre Hoffnung auf einen Gewinn.
„Wie geht es Omar?“, erkundigte sich ein kleines, dürres Männchen mit großen Augen. „Bei Allah, Laeith, du weißt doch genau, dass das Reglement verbietet, Auskünfte über betroffene Personen zu erteilen!“ Hassan Ibn Odd Set, der das sagte, blitzte Laeith aus listigen Schlitzaugen an. „Ich wollte dich doch nur fragen! Schließlich ist das meine letzte Ziege, die ich besitze. Sie ist zwar alt und dürr, aber sie gibt immer noch jeden Tag, den Allah werden lässt, ein bisschen Milch!“ Hassan Ibn Odd Set winkte den Alten nah zu sich heran und flüsterte verschwörerisch hinter vorgehaltener Hand: „Eigentlich dürfte ich es dir nicht sagen!“, er rollte Angst einflößend mit den Augen. „Du weißt doch: das Reglement!“ Hassan Ibn Odd Set machte eine gezielte Pause, ehe er weiterflüsterte: „Omar soll es gar nicht gut gehen!“ Er setzte eine mitfühlende Miene auf, die der Alte, ohne es zu bemerken, kopierte und dabei sehr ernst blickte und heftig nickte.