Читать книгу Wilhelmstadt. Die Abenteuer der Johanne deJonker. Band 1 - Die Maschinen des Saladin Sansibar - Andreas Dresen - Страница 10
ОглавлениеBeunruhigende Nachrichten
Kurz darauf saßen Johanne und ihre Assistentin schweigend über einem Teller Kohl mit Kartoffeln und schlangen das Essen in sich hinein. Die Katze lag unter dem Tisch und dampfte schnurrend. So ein Anschlag auf das eigene Leben macht hungrig, dachte die junge Frau. Endlich kam sie dazu, ihre Gedanken zu ordnen und die Ereignisse Revue passieren zu lassen. Was war geschehen? Sie hatte mittels modernster Technik das gesunkene Boot gefunden, mit dem nicht nur der Neffe des Kaisers, sondern auch die Zukunft ihrer eigenen Familie untergegangen war. Und just in dem Moment, in dem sie den Grund für das Unglück gefunden hatte, schnitt ihr jemand die Luftzufuhr ab. Ihr erster Impuls war es gewesen, die verrückten Maschinenstürmer zu verdächtigen, die in der Stadt ihr Unwesen treiben. Ewig Gestrige, die lieber wieder so leben würden wie vor hundert Jahren. Auch in Wilhelmstadt gab es solche Revisionisten. Johanne fragte sich immer, warum diese Menschen ausgerechnet in der fortschrittlichsten Stadt des Reiches blieben und nicht einfach weggingen. Ihr öffentlicher Auftritt mit der riesigen Maschine war unter Umständen für zartbesaitete oder verwirrte Gemüter ein bisschen zu viel des Guten gewesen. Schon allein die Größe des Kompressors hatte mit Sicherheit Ressentiments seitens der Wilhelmstädter geweckt. Teufelsmaschine hatten die Gaffer sie genannt. Hinzu kam, dass sie von einer jungen Frau gebaut und bedient worden war. Während sie daran dachte, schnaufte Johanne einmal verächtlich und schüttelte verständnislos den Kopf.
Sie konnte die Reaktionen beim besten Willen nicht verstehen. Nur durch Technik würde die Menschheit aus dem Jammertal des Elends entkommen. Auch wenn Wilhelmstadt die wohl modernste Stadt des ganzen Reichs war, gab es auch hier noch Armut und Hunger. Wie überall im Land schufteten Menschen unter schlimmsten Bedingungen in Bergwerken und auf den Feldern. Und dabei waren sie so ineffizient, dachte Johanne. Maschinen und Technik wären in der Lage, die Arbeit der meisten Menschen besser und schneller zu erledigen. Was wiederum der Bevölkerung mehr Zeit für andere Dinge schenken würde. Aber dieser Traum konnte nur in Erfüllung gehen, wenn er nicht nur von Einzelnen geträumt würde. Fortschritt für alle war nur möglich, wenn sich alle daran beteiligten, davon war sie überzeugt.
Doch Johanne glaubte mittlerweile nicht mehr an die Maschinenstürmertheorie. Bereits als sie sich mit Miao auf den Heimweg gemacht hatte, waren ihr Zweifel an ihrer Vermutung gekommen. Maschinenstürmer wollten nicht einfach nur zerstören, sie wollten ein Zeichen setzen. Und ein solches Zeichen fehlte am Unglücksort. Nichts deutete auf einen solchen Anschlag hin. Jemand anderes hatte gezielt versucht, sie außer Gefecht zu setzen und wollte dabei unerkannt bleiben. Aber Miao war weder leicht zu überraschen noch leicht zu überwältigen. Wie konnte also jemand ungesehen an die Maschine kommen und den Schlauch durchtrennen? Eigentlich blieb nur eine Erklärung. Sie sah ihre Assistentin an.
„Hast du den Schlauch durchgeschnitten?“
Klirrend landete das Besteck auf dem Teller, als Miao sie entsetzt ansah.
„Herrin, beim Seelenheil meiner Ahnen, mögen sie zwischen den Wolken ruhen! Du hast mein Leben gerettet! Ich verdanke dir alles, was ich jetzt noch bin. Wieso sollte ich so etwas tun?“
„Du sollst mich nicht Herrin nennen, wenn wir alleine sind. Hast du oder hast du nicht?“ Johanne blickte ihr fest in die Augen, bis Miao den Blick senkte und auf den Teller starrte.
„Nein“, kam leise ihre Antwort. „Ich kann mich an nichts erinnern.“
„An gar nichts?“ Johanne konnte selber ihren ungeduldigen Tonfall hören und es tat ihr sofort leid.
„In einem Moment stand ich noch am Wagen und hatte die Kontrollanzeigen im Auge, so wie wir es wohl hundertmal geübt haben. Ich durfte mir keinen Fehler erlauben, das wusste ich, hing doch dein Leben von mir ab! Dann kamen immer mehr Leute. Sie drängten sich um den Wagen, schauten zu und begannen, zu tuscheln. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ein Photograph mit seinem Optoskop aufgetaucht ist. Er hat umständlich seine Apparatur aufgebaut und die Leute gebeten, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber ich habe das alles nur am Rande mitbekommen, denn ich musste ja auf den Druck und die Kesselleistung achtgeben. Der Kessel hatte plötzlich ganz schön zu kämpfen und ich war abgelenkt. Es gab einen Blitz, wahrscheinlich hat der Journalist eine Optoskopie gemacht – und danach war alles dunkel. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Erde und sah das abgeschnittene Ende des Schlauchs. Es rutsche über den Rasen und verschwand in den Fluten.“
Johanne konnte sehen, wie sich die Pupillen der Luftnomadin bei diesem Bericht weiteten. Miao hielt sich verkrampft am Besteck fest und hatte den Rücken fest durchgedrückt, gerade so, als wolle sie der Wahrheit damit mehr Rückhalt geben.
„Nach einer kurzen Schrecksekunde wollte ich mich aufrichten, fiel aber sofort wieder hin. Da bemerkte ich, dass mein Bein neben mir lag. Jemand muss mir dagegen getreten oder es mir abgerissen haben, um mich kampfunfähig zu machen. Ich wusste, dass jetzt jede Sekunde kostbar war, also habe ich mich zusammen gerissen und bin zum Ufer gekrochen.“
„Aber du hasst das Wasser!“
Miao ließ das Besteck fallen und lehnte sich über den Tisch.
„Herrin, du warst dabei zu ertrinken!“ Ihre Stimme wurde lauter und fester.
„Was geschah dann?“
„Den Rest kennst du. Ich bin ins Wasser und habe versucht, mich zu halten, als du schon nach oben geschossen kamst. Herrin, ich wollte dich nicht umbringen, ich habe es nicht getan!“ Miao sah Johanne fest in die Augen.
„Wer war es dann?“, fragte Johanne.
„Ich weiß es nicht“, sagte die junge Frau leise und senkte ihren Blick, der daraufhin unruhig über ihren Teller wanderte. Johanne lächelte die verunsicherte Miao plötzlich an und legte die Hand auf ihre. „Ich weiß. Ich wollte nur sicher sein.“
Miao zog ihre Hand zurück. Aber jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr weiter, dachte Johanne.
„Ich weiß, dass meinen Vater keine Schuld an dem Unglück der Juggernauth trifft“, dachte sie laut. „Den Beweis habe ich gesehen.“
„Was hast du gesehen, Herrin?“
„Du sollst mich nicht Herrin nennen, wenn wir alleine sind.“
„Ja, Herrin. Was hast du im Rhein entdeckt?“
Johannes Augen bekamen einen seltsamen Glanz.
„Es war ganz eindeutig, Miao. Der Rumpf des Schiffes war aufgerissen!“
„Die Juggernauth soll in der Dunkelheit auf einen Felsen aufgelaufen sein“, sagte Miao.
„Und das ist eine Lüge!“ Johanne sprang auf. „Ich habe es gesehen. Der Rumpf ist zerrissen, aber von innen! Die Außenwand ist nach außen gebogen, was sie nicht wäre, wenn ein Fels sie aufgeschnitten hätte. Es muss eine Explosion im Inneren des Schiffes gegeben haben.“
„Aber wer war das?“, fragte Miao. „Wer hätte Interesse an einer solch schändlichen Tat?“
Johanne ließ sich erschöpft auf den Stuhl fallen. „Wenn ich das wüsste, Miao, dann hätte ich den Mörder meines Vaters gefunden.“
„Und ich wüsste, wer dich eben umbringen wollte“, sagte Miao leise und ließ ihre Fingerknöchel knacken.
„Leider habe ich überhaupt keine Idee, nach wem oder was ich suchen soll.“ Johanne starrte gedankenverloren auf ihr Essen. Sie hatte sämtlichen Appetit verloren.
„Herrin?“
„Ja, Miao?“
„Du hast mir doch erzählt, dass der Geheime Kommerzienrat Oppenhoff versucht, die übrigen Stadtväter aufzukaufen. Ob er auch deinem Vater ein solches Angebot unterbreitet hat?“
Johanne sah Miao verständnislos an. „Meinst du …“
„Ja, oder dein Vater hatte eine neue technische Spielerei entwickelt, die der Kommerzienrat ihm abkaufen wollte. Ihm ein Angebot gemacht hat, dass er nicht ablehnen sollte. Wenn dein Vater aber auch nur halb so stur war, wie du es bist, dann …“
„Miao!“
„Entschuldigung, ich meinte, wenn er nur halb so selbstbewusst war wie du, Herrin, dann könnte ich mir vorstellen, dass er dem Ansinnen von Oppenhoff die Stirn geboten hat.“
Johanne schluckte, als ihr die Tragweite dieses Gedankens klar wurde.
Es klopfte und Joseph kam herein, ohne eine Antwort abzuwarten. Er war glattrasiert bis auf einen kleinen, elegant kurzen Backenbart. Unter seinem einfachen dunklen Frack trug er eine vornehme rote Weste und ein weißes Hemd mit Stehkragen. Die kurzen Hosen, die mit einem Knieband endeten, sowie die langen schwarzen Seidenstrümpfe, waren neu und gepflegt, ebenso wie seine glänzenden Lackschuhe. Joseph hatte ebenso wie Marianne bereits bei Julius deJonker seinen Dienst versehen, und es war für ihn selbstverständlich, dass er dem Haus die Treue hielt, auch wenn es im Moment nicht gerade rosig aussah.
„Gnädiges Fräulein, eine Taube ist für Euch gekommen.“ Mit ausdruckslosem Gesicht hielt er ihr ein Tablett entgegen, auf dem eine Taube saß und gurrte.
„Eine verschlüsselte Nachricht von Graf Eyth?“ Johanne sprang überrascht auf und nahm die Taube vom Tablett. „Ich frage mich, wieso er nicht dieses neumodische Telephon benutzt, dass er in all seinen Häusern hat einbauen lassen. Danke, Joseph“, sagte sie und der Diener verließ den Raum ebenso lautlos, wie er ihn betreten hatte.
Sie setzte die mechanische Taube auf den Esstisch. Miao sah interessiert zu, wie ihre Herrin elegant ihre Halskette löste, an der ein kleiner Messingschlüssel hing. Der Schlüssel hatte ihrem Vater gehört. Graf Eyth und Julius deJonker waren enge Freunde gewesen und so konnten sie auch über weite Entfernungen Nachrichten austauschen, die nicht für jedermann gedacht waren. Offenbar hatte ihr Vater schon früh Verrat und Industriespionage gewittert, dachte Johanne bei sich.
Sie nahm den Schlüssel und näherte sich der Taube, die interessiert den Kopf drehte. Sie hob einen Flügel an und steckte den Schlüssel dort in der Beuge in das dafür vorgesehene Loch. Die Taube gurrte leise, als es in ihrem Inneren klickte.
Johanne trat einen Schritt zurück und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Die Taube trippelte unruhig von einem Fuß auf den anderen, rupfte sich mit dem Schnabel kurz im Gefieder, das täuschend echt aussah. Man hörte ein paar Zahnräder ineinander greifen, ein schleifendes Geräusch im Körper des Vogels deutete darauf hin, dass etwas aufgezogen, eine Feder gespannt und ein komplexer Mechanismus vorbereitet wurde.
„Verdammt“, ertönte plötzlich eine tiefe Männerstimme. „Wo ist dieser verflixte Schalter? Und wieso hält dieser Vogel nicht einen Moment still? So, jetzt. Johanne?“ Die Stimme wurde etwas lauter. Die junge Frau musste schmunzeln, während sie sich den Freund ihres Vaters vorstellte, wie dieser die Taube anbrüllte, um eine Nachricht aufzunehmen. „Johanne, hier ist Graf Eyth. Der Mann deiner Patentante. Ach, verflixt, du weißt doch, wer ich bin. Ich habe von deinem …“ Ein Räuspern folgte. „Ich habe von deinem Abenteuer gehört. Bist du wirklich in diesen dreckigen Fluss gestiegen? Naja, du bist mal wieder das Stadtgespräch. So wie früher.“ Er kicherte belustigt, hatte seine Stimme aber umgehend wieder unter Kontrolle und klang sofort sehr ernst. „Ich möchte mit dir darüber reden. Komme morgen doch zu uns zum Mittagessen. Ich erwarte dich um Punkt halb Zwölf. Und bring deine Freundin mit. Ich habe lange keine Luftnomaden mehr gesehen und möchte deine neueste Entwicklung begutachten. Außerdem habe ich beunruhigende Neuigkeiten. Wir müssen uns wirklich dringend unterhalten. Ende. Halt still, du vermaledeiter Vo…“
Miao lächelte gequält, als die Nachricht mit einem knackenden Geräusch abbrach. „Ich schätze, morgen Mittag werden wir keinen Kohl essen, was?“ Die beiden lachten. Johanne war dankbar für Miaos trockenen Humor, die damit ihre Anspannung löste. Sie wusste nicht, was sie von der Einladung halten sollte und mochte es nicht, wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischte. Jedoch hatte Graf Eyth es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht, nach dem Verlust ihrer Eltern über sie zu wachen. Doch die Einladung ausschlagen konnte sie auch nicht, dazu stand sie viel zu tief in seiner Schuld. Alleine schon die kostenlose Überlassung des Hauses war Grund genug, morgen pünktlich und gut gelaunt auf Schloss Eyth zu erscheinen.
„Dann sollte ich mal anfangen, dein Bein zu reparieren“, sagte sie zu Miao. „Der Graf will es sich morgen ansehen. Am besten ziehst du dann keine Hosen an.“
Ein paar Stunden später lag Johanne in ihrem Bett und dachte nach. Das Licht war gelöscht und sie genoss die Dunkelheit. Gut geschlafen hatte sie bereits seit mehreren Nächten nicht mehr und so war sie es gewohnt, auf den Schlaf zu warten. Was wollte Graf Eyth von ihr? Ob er ihr endlich helfen konnte, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen? Schließlich war er doch ein Freund der Familie. Johanne war sich sicher, dass er ebenso dachte wie sie. Ihr Herz wurde schwer, als sie an den Mann dachte, den sie ihren Onkel nannte. So viele Monate wohnte sie nun schon in diesem Haus, doch einen Besuch auf dem Schloss hatte sie bisher vermieden. Zu unsicher war sie sich ihrer Gefühle gewesen. Warum hatte der Graf ihren Vater nicht beschützt? Es hieß, er habe gute Verbindungen zum Kaiser. Wieso hatte er nicht eingegriffen, als dieser ihre Familie enteignet hatte? Wieso musste sie nun in diesem Loch wohnen, anstatt im Haus Schamal leben zu dürfen, so wie es ihr zustand?
Unmittelbar nach ihrer Ankunft hatte sie sich um ein Gespräch bei Graf Eyth bemüht, doch man hatte ihr ausrichten lassen, dass ein Treffen im Moment nicht möglich sei, der Graf sei in dringenden Geschäften unterwegs. Danach hatte sie ihre Konzentration auf ihre Arbeit, den Bau der Tauchanlage, gelenkt. Obwohl der Platz beengt war, in dem sie hausen mussten, hatte Johanne es dennoch geschafft, sich im Hinterhof eine kleine Werkstatt und im Kohlenkeller ein Labor einzurichten. Sie hatte dazu einiges von dem, was Joseph und Marianne aus Haus Schamal hatten retten können, zu einem Schleuderpreis verkaufen müssen, aber wichtig war ihr nur gewesen, das Wrack der Juggernauth mit eigenen Augen zu sehen.
Doch trotz aller Ablenkung, in ihrem Hinterkopf hatte immer der Zweifel genagt. Warum? Warum hielt der Graf Abstand von ihr? Warum diese Absteige? Doch all das hatte nur ihren Willen gestärkt, sich aus dieser Situation zu befreien. Aber das ging nur, wenn sie den Mörder ihres Vaters finden würde.
Sie seufzte. Aber wenn Graf Eyth nichts mit ihr zu tun haben wollte, warum hatte er ihr überhaupt geholfen? Weil er der Freund ihres Vaters war und seine Frau ihre Patentante? Und warum lud er sie gerade jetzt zu sich ein? Johanne drehte sich in ihrem Bett rastlos auf die Seite. Sie konnte sich einfach keinen Reim auf all das bilden.
Plötzlich knarrten die Dielen auf dem Flur. Johanne versteifte sich. Wer war das? Sie rutschte unter die Decke und stellte sich schlafend, behielt aber in der Dunkelheit die Augen weit geöffnet, um sofort sehen zu können, falls jemand ihr Zimmer betrat. Ihre Hand glitt auf den Nachttischschrank, an den sie ihren Schirm gelehnt hatte. Sie hatte es sich angewöhnt, sich nicht mehr unbewaffnet ins Bett zu legen.
Leise quietschend öffnete sich die Tür. Etwas zischte. Ein Schatten schob sich in den Raum. Behutsam, Millimeter für Millimeter bewegte er sich, als wolle er um jeden Preis verhindern, ein Geräusch zu machen. Doch mit jeder Bewegung dampfte und zischte etwas.
Miao?, dachte Johanne verwundert. Sie erkannte die leisen Geräusche des Dampfbeins. Die junge Frau hatte nicht bemerkt, dass Johanne noch wach war, und schloss behutsam die Tür hinter sich. Auf Zehenspitzen und so geräuschlos wie möglich schlich sie durchs Zimmer.
Johanne packte den Griff des Schirm etwas fester. Ob sie sich in ihrer Freundin so getäuscht haben sollte? Ob sie kam, um sie hinterrücks zu meucheln? Ihr im Schlaf ein Kissen aufs Gesicht zu drücken? Hatten die Feinde ihres Vaters sie bezahlt, um sie zu töten? Oder hatte Miao absichtlich das Gespräch bei Tisch auf Oppenhoff gelenkt und war sogar von ihm bezahlt worden, um ihr den Garaus zu machen? Aber warum sollte sie das tun? Konnte Miao so undankbar sein? Schließlich hatte Johanne ihr das Leben gerettet.
Sie beobachtete durch halb geschlossene Augen, wie die Luftnomadin durch den Raum glitt und sich in einer Ecke auf einen Sessel setzte. Johanne hörte die junge Frau erleichtert ausatmen.
Dann war Miao still, ihren Kopf hielt sie gesenkt und ihr Atem ging leise und gleichmäßig.
Ist sie wirklich nur gekommen, um bei mir zu sein?, fragte sich Johanne überrascht. Dann nimmt sie ihren Schwur, mein Leben zu beschützen aber sehr ernst. Oder ob da etwas anderes im Spiel war? Den Luftnomaden wurde nachgesagt, dass sich bei ihnen nicht nur Mann und Frau ineinander verliebten, sondern auch Männer in Männer und Frauen in Frauen. Kein Wunder, dass dieses fliegende Volk bei ehrbaren Bürgern nicht gern gesehen war. Johanne dachte mit einer Mischung aus Faszination und Furcht an die Gestalten zurück, die sie auf ihren Reisen durch das südliche Europa und den vorderen Orient kennen gelernt hatte. Harte Burschen, kräftig, ernst und von ihrem entbehrungsreichen Lebensstil gezeichnet. Mit fremdartigen Tätowierungen, bunten Kleidern und riesigen Luftschiffen, in denen ganze Großfamilien lebten. Es war eine fremde Welt, in die man als Außenstehender nicht so leicht eindringen konnte. Und ganz sicher kam man nicht aus ihr heraus, wenn man in sie hineingeboren worden war. Johanne fragte sich, wie und wieso Miao ihr Volk verlassen hatte.
Langsam entspannte sie sich. Auch wenn sie sich der Nähe ihrer Leibwächterin in der Dunkelheit nur zu sehr bewusst war. Nun merkte sie, wie müde sie eigentlich war, und dass sie in den letzten Nächten oft aus Angst, dass jemand versuchen würde, sie aufzuhalten, wachgelegen hatte. Doch jetzt war Miao bei ihr und beschützte sie. Obwohl Johanne noch vor ein paar Augenblicken Angst vor ihr gehabt hatte, fühlte sie sich nun ihr ihrer Gegenwart vollkommen sicher. Miao würde ihr nichts antun wollen, davon war sie nun überzeugt. Alleine der Gedanke daran war absurd. Oder etwa nicht? Sie warf noch einen kurzen prüfenden Blick auf ihre Leibwächterin. Sie nahm sich vor, trotzdem diese Nacht noch wachsam zu sein und nur mal kurz die Augen zu schließen. Wenige Augenblicke später war Johanne tief und fest eingeschlafen.