Читать книгу Wilhelmstadt. Die Abenteuer der Johanne deJonker. Band 1 - Die Maschinen des Saladin Sansibar - Andreas Dresen - Страница 9

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Jedes Heim braucht eine Katze

Wilhelmstadt – kein anderer Name verkörperte den Fortschrittsglauben im Kaiserreich der bevorstehenden Jahrhundertwende so sehr wie diese Stadt. Die Zukunft schien strahlend und Wachstum ungehemmt möglich. Die qualmenden Schlote der Fabriken und das ewige Stampfen der Dampfmaschinen zeugten von der Vision des neuen Zeitalters. Wilhelmstadt war in den letzten zweiundzwanzig Jahren wie aus dem Nichts entstanden. Als Ingenieure und Geologen 1876 in der umliegenden Gegend Braunkohle entdeckt hatten, kam es zu einem richtiggehenden „Gold“rausch. Unternehmen wurden gegründet, Spieler, Arbeiter und Glücksritter strömten in den Ort. Geschäfte wurden abgeschlossen, die einem ehrgeizigen Mann an einem Tag ein Vermögen einbringen konnten. Nur um es vielleicht am nächsten Tag wieder zu verlieren. Alles war möglich.

Wie aus den amerikanischen Goldgräbersiedlungen hatte sich auch hier aus einer kleinen Ansammlung von Baracken in Windeseile eine pulsierende große und fortschrittliche Stadt entwickelt. Die Braunkohle, die mit großen Maschinen aus der Erde gerissen wurde, hatte ihre magische Anziehungskraft auf all jene Menschen und Unternehmer ausgeübt, die mutig und fortschrittsgläubig waren. In Scharen waren sie gekommen und hatten Wilhelmstadt innerhalb weniger Jahre in das verwandelt, was es heute war: eine immer noch wachsende Metropole, in der die Räder niemals stillstanden.

1877 war Wilhelmstadt offiziell vom Kaiser gegründet worden. Acht herausragende Ingenieure waren beteiligt gewesen, als die Stadt innerhalb kürzester Zeit auf dem Reißbrett entstanden war: Die Herren deJonker, Oppenhoff, Vandenvries, von Eyth, Barabas, Motte, Pilow und Hesse hatten ihre Vision eines modernen Lebens konstruiert und nach ihrem Kaiser Wilhelm, dem Großvater des heutigen Kaisers, benannt.

Zum Dank hatte man diese Ingenieure auch auf dem Stadtwappen verewigt. Acht Sterne prangten um das große „W“ im linken unteren Viertel des Schilds. Die anderen Viertel zeigten den Reichsadler, den Rhein mit dem Schloß Eyth, das schon lange vor der Errichtung Wilhelmstadts auf der Grafenhöhe gestanden hatte, sowie ein Zahnrad, das den ewigen Fortschritt in der Stadt symbolisierte.

Die ganze gewaltige Stadt, all ihre Wohnhäuser und Geschäftsgebäude und sogar die riesigen Fabriken und Manufakturen, all das ruhte auf massiven Stahlstützen. Kein Haus und keine Straße war auf den Boden der Rheinebene gebaut worden. Alles in dieser Stadt stand auf einer gigantischen Stahlplatte, die, in einzelne Segmente unterteilt, den Untergrund von Wilhelmstadt bildete. Die Konstruktion sollte dafür sorgen, dass Wilhelmstadt mobil blieb. Einzelne Segmente konnten ausgetauscht werden, ganze Stadtviertel verschoben und an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden. Entstand eine neue Fabrik, wurde daneben innerhalb weniger Tage eine ganze Arbeitersiedlung gesetzt, die man einfach aus einem anderen Teil der Stadt gerissen hatte, in dem vielleicht kurz zuvor eine andere Fabrik geschlossen worden war, weil sich ihr Inhaber verspekuliert oder seinen Besitz beim Glücksspiel verloren hatte. Und eines Tages, wenn das Braunkohlevorkommen aufgebraucht ist, werden kräftige Hebemaschinen Wilhelmstadt Stück für Stück forttragen, mit seinen Häusern, seinen Fabriken und seinen Menschen, dorthin, wo ein neues Flöz auf die Maschinen wartete und ein neues riesiges Geschäft gemacht werden kann. Außerdem wäre es im Kriegsfalle so viel einfacher, den verfeindeten Franzosen keine Infrastruktur zu hinterlassen, sollten sie mal wieder in das Kaiserreich einfallen. Schließlich waren sie nur einen Steinwurf voneinander entfernt.

Wilhelmstadt, das Venedig Mitteldeutschlands, ein Venedig ohne Wasser. Denn statt Wasser kochten Feuer und flüssiger Stahl in den Lebensadern dieser Metropole.

Das höchste Bauwerk von Wilhelmstadt, der Oppenhoffsche Turm, ragte hinauf in die Nacht, wie ein mahnender Zeigefinger, der die Bürger daran erinnern sollte, wer in dieser Stadt wirklich das Sagen hatte. Wie eine spindeldürre Pyramide aus Stahl, Nieten und Sandstein ragte dieser schimmernde Pylon über die anderen Gebäude. Oppenhoff hatte in den vergangenen Jahren die Segmente der Ingenieure Barabas, Pilow und Hesse übernommen. Ihre Paläste hatte er überbaut und zum Fundament dieses gewaltigen Bauwerks gemacht. Gekrönt wurde der Turm von der so genannten Nadel, einer Spitze, die einzig dazu konzipiert war, seinen Zeppelin zu halten, der es ihm ermöglichte, aus der luftigen Höhe heraus zu starten, ohne seinen Turm verlassen zu müssen.

An den Rändern der Stadt, nahe bei den riesigen Maschinen, die die Kohle aus der Erde rissen und sie an die gewaltigen Förderanlagen weitergaben, drängten sich die Mietskasernen der Arbeiter. Lange Straßenreihen voll gleichartiger, ursprünglich roter, doch nun bereits rußschwarzer Backsteinbauten fanden sich in perfekt ausgemessenen Quadraten wieder. Weiter innen, näher am Zentrum änderten sich die Fassaden, wurden abgelöst durch Kaufmannshäuser, die zur Straße hin mit Stuck verziert waren, in den trostlosen Hinterhöfen jedoch ihr hässliches graues Gesicht zeigten. Am Markt allerdings standen die Paläste der Ingenieure, die Wilhelmstadt gebaut hatten. Acht Stadtväter hatte Wilhelmstadt, acht Stadtpalais waren einst am Markt von Wilhelmstadt zu sehen gewesen. Das Haus Schamal der Familie deJonker stand noch. Graf Eyth hatte ein schmuckes Haus, das aussah wie eine kleinere Variante seines Schlosses. Vandenvries hatte sich den Traum einer römischen Villa erfüllt, umgeben von Zypressen und einem kleinen Bach, der aus dem Haus auf den Markt floss und dort in einem Brunnen mündete. Der Ingenieur, dem man im Volk den Namen der irre Motte gegeben hatte, war in seiner Jugend zu oft mit den Genüssen des Orients und den Giften der Kolonien in Berührung gekommen. Sein Stadthaus war ein unpassender Alptraum aus gedrehten Türmen aus schwarzem Glas, in dem sich die Sonne fing und verwirrende Muster auf die umliegenden Häuser und den angrenzenden Markt warf. Ein Haus ohne Haus, nur aus Türmchen und Drehungen, aus Glas und dunklen Farben bestehend, das war das Haus des irren Motte. Die Herren Barabas, Pilow und Hesse hatten ihre Stadtbezirke und damit ihre Häuser entweder durch Spekulationen verloren, oder sie waren, nachdem einige ihrer technischen Errungenschaften unvorhersehbare Nebenwirkungen zeigten, bis aufs letzte Hemd verklagt worden. Der Geheime Kommerzienrat Oppenhoff, dessen Nadel zu Beginn auch nur auf seiner eigenen Parzelle stand, hatte die Grundstücke der Bankrotteure gekauft und seinen Palast auf diese Bereiche ausgedehnt. Im Moment stand der Oppenhoffsche Turm also auf vier Füßen, die Bürger munkelten jedoch, das der Kommerzienrat nicht ruhen würde, bis alle Häuser am Markt diesem wachsenden Koloss einverleibt worden wären. Es hieß, er habe dem Kaiser bereits ein Angebot gemacht für das Haus Schamal, dass nun unter kaiserlicher Protektion stand, doch wollte dieser sich erst bei seinem nächsten Besuch in Wilhelmstadt dazu äußern, wie mit dem Anwesen verfahren werden soll. Da Johanne nun nicht mehr in ihr Elternhaus zurück konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit der Droschke zu dem einfachen Haus im Randbezirk zu fahren, in dem sie untergekommen war. Laut schnaufend ruckelte der Wagen, als Johanne ungeschickt den Antrieb abwürgte. Die Pferde tänzelten kurz zur Seite, dann blieben sie ruhig stehen, dampften aber stetig vor sich hin.

„Das nächste Mal fährst du wieder, Miao. Das ist einfach nichts für mich“, stöhnte sie.

„Ja, Herrin. Ich lasse mich auch nicht gerne kutschieren. Sobald ich mein Bein wieder habe, übernehme ich das Steuer.“

„Eine interessante Gegend“, sagte Miao, als sie vorsichtig aus dem Wagen stieg.

Die wenigen Bäume und Büsche, die einen kleinen Platz zwischen zwei Häusern säumten, waren grau und staubig und ließen müde die Blätter hängen, was ihnen ein kränkliches Aussehen verlieh. Die Luft war stickig und der Rauch, der ununterbrochen aus den zahllosen Kaminen quoll, legte sich dicht und schwer über die Alfred-Nobel-Gasse, eine kleine Straße im Segment 8, zwischen der siebten und achten Allee. Irgendwo schrien sich ein paar Betrunkene gegenseitig an.

Zwei alte Frauen in der traditionellen schwarzen Witwentracht der Landbevölkerung gingen auf dem Trottoir an ihnen vorbei. Die langen schwarzen Röcke waren voller unterschiedlichster Flecken, die der Haushalt mit sich brachte und die dunklen Wolljacken, in die sie sich hüllten, waren an mehreren Stellen so gut es ging geflickt, an anderen Stellen noch immer eingerissen. Unter den schwarzen Tüchern, die die Alten um ihre Köpfe geschlungen hatten, blickten sie mit runzeligen Gesichtern feindselig zu ihnen hinüber. Johanne wurde plötzlich wieder bewusst, dass sie noch in dem nassen, gummierten Anzug steckte.

In dem benachbarten Hauseingang lungerte eine Gruppe Jungs, die in kurzen Hosen und zerlumpten Schuhen auf den Stufen saß und begehrliche Blicke auf die Ladefläche des Wagens warf. Einer pfiff ihr frech hinterher. Johanne war sicher, dass sie sich sofort auf den Wagen stürzen würde, sobald sie selbst außer Sichtweite waren.

Sie stützte Miao, indem sie ihr einen Arm unter die Achsel schob. „Ich habe auf meinen Reisen schon schlimmere Gegenden erlebt“, sagte sie aufmunternd. „Und du wohl auch, oder nicht? Als ich dich gefunden habe …“

Miao zuckte mit den Schultern. „Schon. Aber das ist vorbei. Jetzt bin ich bei dir und du gehörst hier nicht her.“ Sie zeigte auf das Mietshaus, dessen untere zwei Etagen sie würden bewohnen dürfen. Kaum hatten sie die Haustür erreicht, als diese auch schon von innen aufgerissen wurde.

„Fräulein Johanne! Was um alles in der Welt ist passiert?“ Eine dickliche Frau in einer weißen, gestärkten Bluse stürzte ihnen entgegen, das dunkelblonde, leicht angegraute Haar unter einer Haube versteckt.

„Jemand wollte sie umbringen“, knurrte Miao, doch Johanne beschwichtigte die beiden besorgten Frauen.

„Alles halb so wild. Ich bin sicher, es war nur ein Unfall. Ein Schlauch ist abgerissen und hat Miao dabei an ihrem schlimmen Bein getroffen. Sie ist hingefallen, hat dabei wahrscheinlich kurz das Bewusstsein verloren. Ich hätte den Druck besser prüfen sollen.“ Johanne gab sich Mühe, möglichst beiläufig und unbesorgt zu klingen. Doch die Frau sah sie weiterhin mit in die Hüften gestemmten Fäusten und einem finsteren, bohrenden Blick an.

„Marianne.“ Johanne ignorierte diesen ihr wohlbekannten Blick und wechselte in einen geschäftigen Tonfall. „Sei doch so gut und bitte deinen Mann, den Wagen in den Hof zu fahren, bevor die Racker da draußen ihn komplett auseinander genommen haben.“

„Joseph!“, brüllte die Frau daraufhin durch das Treppenhaus. „Fahr den Wagen rein!“

Dann folgte sie Johanne in das kleine Zimmer, das im Erdgeschoss als Wohnzimmer hergerichtet war.

„Seid Ihr Euch sicher, dass Eure … Assistentin nicht einfach zu müde war, um eine solche Aufgabe zu übernehmen?“ Marianne warf Miao einen kurzen Blick zu und betonte das Wort „Assistentin“ unüberhörbar abfällig.

„Zu müde?“ Johanne war überrascht, bettete Miao aber auf einen Sessel, bevor sie sich zu ihrer Haushälterin umdrehte. „Wieso zu müde?“

„Ich glaube, sie hat seit Tagen nicht geschlafen“, versetzte Marianne plötzlich in einem scharfen Tonfall.

„Wieso das?“ Miao sah genauso verdutzt aus, wie Johanne und beide warteten gespannt auf die Erklärung der ältern Frau, die nun doch etwas verlegen drein schaute.

„Naja“, druckste Marianne, „das Bett im Gästezimmer ist seit Tagen unberührt.“ Und wie um sich zu entschuldigen, dass sie es bemerkt hatte, schob sie entrüstet hinterher: „Es ist meine Aufgabe die Betten zu machen. Ich kümmere mich um alles hier im Haus, auch um Gäste, ob wir sie uns nun leisten können oder nicht.“ Sie warf einen giftigen Blick auf Miao, die nur mit den Schultern zuckte.

„Ich habe im Sessel geschlafen. Mein Stumpf hat mir Schmerzen bereitet. Wenn ich liege, ist es, als ob ich immer wieder und wieder falle. Ich kann nachts nicht gut ruhig bleiben“, murmelte sie. Das Ende ihrer Erklärung war kaum noch hörbar.

„Siehst du, Marianne, kein Grund sich Sorgen zu machen. Am besten kümmerst du dich um das Haus und die Küche, und ich kümmere mich um meine Maschinen und meine Angestellten. So tut jeder, was er am besten kann.“

„Ich habe Eurer Frau Mutter am Sterbebett versprochen, mich um Euch zu kümmern. Und das werde ich auch tun. Egal, was passiert. Auch in dieser … Umgebung.“ Sie verzog verächtlich den Mund und blickte indigniert auf die ärmliche Einrichtung der einfachen Wohnung.

„Ich weiß“, seufzte Johanne. „Du bist etwas Besseres gewohnt. Glaube mir, ich auch. Aber der Kaiser hat uns nun einmal enteignet. Und wir müssen froh sein, dass wir dank Graf Eyth nicht im Armenhaus gelandet sind. Er wäre zu solcher Hilfe für uns nicht verpflichtet gewesen, nach all dem, was vorgefallen ist.“ Sie streckte ihr Kinn energisch vor. „Aber ich werde uns rehabilitieren. Ich werde mein Vermögen zurückholen, koste es, was es wolle. Und dann sind wir nicht mehr auf Almosen angewiesen, dann werde ich den Spieß umdrehen und dann …“

Marianne schrie erschrocken auf.

„Was ist?“, Johanne fuhr sofort herum. Miao sprang auf, wankte kurz auf einem Bein und musste sich sofort am Sessel festkrallen, um nicht umzufallen. Etwas fauchte und sofort war der Raum erfüllt von einem schwefeligen, verrauchten Gestank, der allen Anwesenden sofort unangenehm in Nase und Augen brannte.

„Diese verdammte Katze“, schrie Marianne und zeigte in die Mitte des Raumes, wo sich ein seltsamer, pfeifender und gurgelnder Stahlhaufen hingeschlichen hatte. „Sie rülpst schon wieder. Das kann sie gefälligst draußen tun, sie braucht nicht das ganze Haus vollzustinken.“ Sie griff nach einem Besen, den sie im Flur abgestellt hatte und wollte auf das Tier losgehen, doch Johanne ging dazwischen. „Nicht, warte, ich kümmere mich darum. Vielleicht muss ich sie nur neu einstellen. Hast du sie etwa wieder mit Milch und gebratenem Speck gefüttert? Du weißt doch, dass davon ihre Ventile verstopfen.“

Marianne warf gekränkt die Arme in die Höhe. „Gebratener Speck? Himmel, als ob wir es uns leisten könnten, gebratenen Speck an verrückte Maschinen zu verfüttern.“

Kurz darauf waren Johanne und Miao allein mit der Katze im Wohnzimmer, während die Haushälterin sich daran machte, ein Essen auf den Tisch zu bringen und ihren Mann durch die Gegend zu scheuchen.

„Sie hasst mich, Herrin“, grummelte Miao. „Vielleicht sollte ich doch woanders …“

„Unsinn“, fuhr ihr Johanne über den Mund, während sie sich über die maschinelle Katze beugte. „Sie sorgt sich, das ist alles. Sie ist eine gute Seele. Wir müssen nur besser aufpassen. Es geht Marianne trotz allem nichts an, wo du deine Nächte verbringst.“

Sie lächelte Miao scheu an, doch die Luftnomadin blickte sorgenvoll ins Leere.

„Und du sollst mich nicht Herrin nennen, wenn wir allein sind“, versuchte Johanne sie aufzumuntern.

„Ja, Herrin“, antwortete Miao gedankenverloren. „Wann ist mein Bein wieder repariert?“

„Ich schaue nur eben nach der Katze, danach mache ich mich daran.“

Sie strich der Katze über den Kopf. Die Maschine fauchte und riss ihr Maul auf. Entsetzlicher Gestank entstieg ihrem Hals. Die Katze hatte die Statur eines großen Katers, war aber vollkommen aus Metall zusammengesetzt. Ihr Messingkörper war warm und glänzte. Aus den Ohren und aus der Schnauze stiegen immer wieder kleine Dampfwölkchen auf. Die Katze sah Johanne aus rotglühenden Augen an. Die kleinen Klumpen aus komprimiertem Næon verblüfften Johanne immer wieder.

„Ist sie nicht ein Wunder? So viele Jahre ist es her, dass mein Vater sie gebaut hat und sie funktioniert noch immer. Sie war sein erstes erfolgreiches Experiment mit Wellenenergie. Und er hatte vollkommen recht: Es ist eine Zukunftstechnologie. Nur“, sie griff auf einen Tisch, auf dem wie üblich Werkzeug verstreut lag, und kramte nach einem Schraubenzieher sowie einer Zange, „manchmal muss man sie eben reinigen.“ Mit spitzen Fingern zog sie das dampfende Maul auseinander und griff vorsichtig hinein. Dann löste sie mit dem Schraubenzieher einige Schrauben im Rachen der Katze und zog vorsichtig eine kleine Röhre aus deren Schlund, gefolgt von einem Schwall Dampf. Johanne blies einmal in das Röhrchen – ein Stück Speck flog in hohem Bogen auf den Teppich.

„Ich glaube, ich muss noch einmal ein Wörtchen mit Marianne reden“, lachte Johanne. „Sie lernt es einfach nicht.“ Plötzlich schrie sie. „Nein!“

Die Katze hatte sich umgedreht und hielt ihre Nase wieder an das Stückchen Speck, dass noch auf dem Boden lag. Doch Johanne war schneller und nahm es ihr ab, bevor die Maschine ihrer Programmierung folgen konnte und es erneut auffressen konnte. „Ich weiß nicht, was Vater sich dabei gedacht hat, als er der Katze diese Vorliebe eingebaut hat.“

„Vielleicht wollte er sie realistischer gestalten“, mutmaßte Miao düster.

Johanne zuckte mit den Schultern. „Sie verträgt es aber nicht.“ Nachdem sie die Röhre wieder eingesetzt hatte und am Bauch der Maschine zärtlich ein paar Stellschräubchen nachgedreht hatte, sprach sie leise mit der Katze. „Du bist jetzt auf Wasser und Koks. Was anderes bekommt dir nicht.“

Miao lachte jetzt wieder. „Ist es wahr, was man munkelt? Dass die Katze deine Familie beschützt?“

„Aber ja!“ Marianne war ins Wohnzimmer gekommen und deckte den Tisch für zwei Personen. „Die Katze saß im Hafen und hat herzzerreißend geschrien, als die Juggernauth in See stach. Sie hat gewusst, dass etwas nicht stimmte. Und das war nicht das erste Mal! Auch damals als Herr deJonker seinen neuen …“

„Bitte hör auf damit, Marianne!“ Johanne war wütend geworden. „Das ist Hokuspokus, Esoterik – oder Schlimmeres! Das kannst du den Nachbarskindern erzählen, damit sie aufhören uns Metall und Kohlen aus dem Keller zu klauen, aber hier sei bitte vernünftig. Die Katze ist eine Maschine, eine ganz fantastische zwar, aber über beschützende Fähigkeiten oder Intuitionen verfügt sie keineswegs. Sie funktioniert nach dem ihr vorgegebenen Programm. Ich bin sicher, Vater hat eine ausgetüftelte Maschinerie entworfen, die das Geheule möglich machte.“

Marianne hatte ob des Rüffels das Gesicht verzogen.

„Es gibt Essen“, sagte sie spitz. Johanne hielt die Nase in die Luft. „Es riecht furchtbar. Was ist das?“

Mariannes Laune besserte sich durch die Aussage ihrer Herrin nicht. „Es ist Kohl, Fräulein Johanne. Würdet Ihr das wenige Geld nicht komplett in neue Teufelsmaschinen stecken, die Euch eines Tages noch das Leben kosten werden, könntet Ihr auch hin und wieder etwas anderes essen. Aber wenn das so weitergeht, sind wir bald pleite.“ Sie sah Johanne an und betrachtete den gummierten Taucheranzug. „Und ich gebe Euch erst etwas zu essen, wenn Ihr Euch wieder schicklich gekleidet habt. So kommt Ihr mir nicht an den Tisch.“

Wilhelmstadt. Die Abenteuer der Johanne deJonker. Band 1 - Die Maschinen des Saladin Sansibar

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