Читать книгу Wilhelmstadt. Die Abenteuer der Johanne deJonker. Band 1 - Die Maschinen des Saladin Sansibar - Andreas Dresen - Страница 12
ОглавлениеDie Kapelle
Johanne folgte den ausgetretenen Stufen ins Kellergewölbe hinab. Die gemauerte Decke des Gangs wurde niedriger, der Boden bestand aus alten Steinfliesen, die noch aus der Zeit zu stammen schienen, als das Schloss errichtet wurde. Es roch feucht und Johanne begann, in ihrem dünnen Kleid zu frösteln. Der Gang endete an einer soliden Holztür mit einem Türklopfer und einfachem Eisenbeschlag. Kurz horchte sie in die stille Atmosphäre des Kellergewölbes hinein, bevor sie klopfte. Eine leise Musik drang aus dem Raum, aber eine Antwort blieb aus.
Die Tür quietschte in den Angeln, als Johanne sie aufzog. Zusammen mit einem Schwall warmer Luft flutete die Musik wie eine Woge über sie hinweg, hüllte sie ein und zog sie in die Kapelle.
Durch große bunte Glasfenster fiel rotes und grünes Licht in den ansonsten dunklen Raum. Das kann kein Tageslicht sein, dachte Johanne. Wir sind viel zu tief unter der Erde. Sie dachte kurz nach und kam zu dem Schluß, dass hinter den Scheiben eine Lichtanlage installiert worden war. Sie vermutete, dass Graf Eyth gasförmiges Næon benutzte und vielleicht mit einem neuen Verfahren so in Schwingung versetzte, um dadurch dieses Licht zu erzeugen. Sie hatte noch nie mit eigenen Augen gesehen, dass man es in einer solchen Intensität zum Leuchten bringen konnte. Vielleicht hatte er eine Optimierung am Raffinierungsprozess vorgenommen. Die Umwandlung von Æther in das wirtschaftlich wichtige Hælium warf Næon ursprünglich nur als Abfallprodukt ab. Doch Graf Eyth und ihr Vater hatten das Potential schon vor Jahren entdeckt. Sie nahm sich vor, ihren Onkel nach den neuesten Entwicklungen zu befragen.
Hohe Säulen trugen die Decke, die in Finsternis lag. Auf der rechten Seite der Kapelle saß Graf Eyth in einem großen Sessel und blickte in die Regenbogenfarben der Fenster. Auf der linken Seite des Raumes stand die Maschine. Auf den ersten Blick wirkte sie auf Johanne wie eine gigantische Orgel, doch anstelle der Pfeifen hatte sie unzählige Trichter, wie man sie von einem Grammophon kannte, nur viel größer und in unterschiedlichsten Formen. In einigen hätte Johanne kopfüber verschwinden können, aber es gab auch solche, die sie leicht mit Daumen und Zeigefinger hätte umfassen können. Durch ein Fenster konnte sie einen Blick in das Innere der Maschine erhaschen. Große, mittlere und winzige Zahnräder griffen ineinander, dutzende von schwarzen Blasebälgen blähten sich auf, scheinbar unabhängig voneinander, und fielen wieder in sich zusammen. Die Musik, die diese kuriose Orgel erzeugte, war süß und schwermütig. Sie schwebte im Raum, legte sich auf Johanne, nicht wie ein Stein oder eine schwere Bürde, sondern hüllte sich um sie wie eine warme Decke, nahm ihr die Sorgen und beruhigte etwas tief in ihrem Inneren. Wo Verzweiflung war, breitete sich nun Entspannung aus, wo Hoffnung gewesen war, erschien die Gleichgültigkeit des Universums. Johanne wusste, dass sie nichts lieber tun würde, als sich hierhin zu setzen und für immer der Musik zu lauschen. Sie sank auf einer Bank zusammen und ließ sich treiben. Ihre Gedanken flogen hinauf in den Himmel und schickten sie in ihren liebsten Tagtraum: Sie stieg empor mit einem Luftschiff und flog damit in den Norden, weit weg von dieser Stadt, dieser Gesellschaft und allem, was sie mit ihrem Leben in Wilhelmstadt verband. Eines Tages würde sie es schaffen und mit ihrem eigenen Luftschiff den Nordpol erreichen. Als erster Mensch überhaupt würde sie dort stehen und …
„Johanne!“ Eine energische Stimme drang zu ihr durch.
… sie würde zum ersten Mal frei sein. Ewige Stille um sie herum, nur das Rauschen des stetigen Windes …
„Johanne, komm zu dir!“ In die Stimme hatte sich nun auch ein Hauch Besorgnis geschlichen.
Sie schlug die Augen auf, als jemand an ihrer Schulter rüttelte. Graf Eyth stand über ihr und sah sie besorgt an.
„Was ist passiert?“, fragte sie.
„Du hast dich treiben lassen. Das ist sehr gefährlich! Es tut mir leid, dass ich dich unvorbereitet der Musik ausgesetzt habe, aber ich wusste ja nicht, dass du hier unten auftauchen würdest.“
Johanne richtete sich auf und fasste sich an den plötzlich schmerzenden Kopf. Die Musik hatte aufgehört, die Orgel war verstummt. „Was war das?“
Graf Eyth blickte ihr prüfend in die Augen. Sein schütteres, graues Haar fiel ihm dabei in die Stirn und er wischte die Strähnen ungeduldig zur Seite. Sein Gesicht war glattrasiert, nur ein dünner, weißer Spitzbart zierte sein Kinn, was ihm einen strengen Zug verlieh. Die kleinen Fältchen um seine blauen Augen aber zeugten von einem warmherzigen und humorvollen Wesen. Er wirkte auf Johanne immer wie ein Dorfschullehrer, auch wenn sie wusste, dass er weitaus intelligenter und weitaus belesener war. Graf Eyth zog die weiten Ärmel seines dunklen Hausmantels zurück, der ihn in der kühlen Kapelle wärmen sollte und half seiner Patentochter aufzustehen.
„Komm erst einmal rüber in den Kreis. Dort sind wir ungestört.“ Er nahm ihren Arm und geleitete sie mitten in den Raum, wo sein Sessel stand. Aus einer dunklen Ecke zauberte er einen weiteren, kleineren Sessel hervor. Nun fiel ihr auf, dass die Sessel genau inmitten eines riesigen Pentagramms standen, das in den Boden eingelassen war. Breite Linien aus Blei waren in den Stein eingelassen worden, bildeten den fünfeckigen Stern und den die Zacken umschließenden Kreis.
Hinter Johanne knackte es und eine gut versteckte Tür in der Orgel öffnete sich. Heraus kam ein Affe in einer Dienerlivree. Er verbeugte sich vor Graf Eyth, dabei drang ein leises Zischen aus den Ohren des Tieres.
„Du kannst gehen und dich aufladen, Otto.“ Graf Eyth hatte seine Stimme gesenkt und sprach so liebevoll mit dem mechanischen Affen, als handelte es sich um seinen Lieblingshund. „Ich brauche dich erst heute Abend wieder.“
Der Affe ließ sich auf seine Hände fallen und wackelte langsam auf allen vieren hinaus. Hin und wieder zischte es leise. Graf Eyth sah ihm hinterher, seine Gesichtszüge schienen weich zu werden und seine Augen glänzten vor Besitzerstolz.
„Ein Luftdruckaffe. Keine schlechte Idee“, sagte Johanne, griff in ihre Handtasche und zeigte ihm ihre Waffe. „Ich denke, dasselbe Prinzip, oder? Aber wo ist der Druckschlauch, der ihn mit dem Kompressor verbindet?“
Graf Eyth lächelte. „Otto braucht keinen. Er besitzt in seinem Inneren einen Drucktank, der aufgeladen werden kann. Dazu muss er sich nur jede Stunde auf seinen Adapter setzen. Durch einen Einfüllstutzen im Unterleib wird die komprimierte Luft mit Hochdruck in den Körper gepresst. Den Weg zum Kompressor findet er leicht, indem ein Uhrwerk in seinem Kopf sich den Weg merkt, den er zurückgelegt hat und ihn dann einfach rückwärts ablaufen lässt. Der Rest ist Spielerei“, lächelte Graf Eyth und machte eine vage, abwinkende Handbewegung. Aber Johanne konnte doch einen Hauch von Stolz in seiner Stimme hören. Das Gefühl kannte sie nur zu gut, die tiefe Zufriedenheit, wenn sie über ihre Erfindungen zu jemand sprechen konnte, der Verständnis dafür hatte. Sie musste schmunzeln.
„Ich bin beeindruckt“, gestand sie. „Ich überlege, ob ich mir das Prinzip für meinen nächsten Tauchgang zunutze machen sollte.“
„Ich gebe dir nachher gerne die Konstruktionszeichnungen mit. Es war ein netter Einfall deines Vaters. Aber für uns beide gibt es wichtigeres zu besprechen.“
Johanne blickte misstrauisch zu der großen Maschine hinüber. „Stimmt. Ihr wolltet mir sagen, warum ich von der Musik ohnmächtig wurde.“
„Die Schwingungsorgel! Ist sie nicht wunderbar? Wenn man weiß, wie man sie nutzt, dann kann sie wahre Wunder vollbringen. Sie basiert auf Julius’ letzten Forschungen.“
Diese Worte machten sie hellhörig. „Ach? Was wisst Ihr darüber?“
„Mehr, als mir lieb ist, fürchte ich. Dennoch weiß ich nicht genug, um dir wirklich zu helfen, da ich den Großteil nur vermute. Aber die Fakten, die ich habe, will ich dir gerne schildern.“
Johanne nickte aufgeregt. Ihre Hände wurden feucht vor Aufregung und die Kälte der Kapelle war vergessen. Graf Eyth lehnte sich in seinem Sessel nach vorne und griff zu dem kleinen Tisch, der neben ihm stand.
„Kaffee? Es ist köstlicher Ceylon-Kaffee. Direktimport und von einem Meister in Hamburg geröstet. Er ist sehr selten, seitdem die Kaffeepest die meisten Plantagen auf der Insel zerstört hat, aber mir schmeckt er einfach besser als die Bohne aus den afrikanischen Kolonien. Oder trinkst du etwa Tee?“
Hanne schüttelte ungeduldig den Kopf. „Nein, Kaffee wäre mir recht.“
„Das ist gut, du hast das feine Gespür deines Vaters für Besonderheiten geerbt. Tee … Pah!“, spie er aus. „Dieses Spülwasser, auf das die Briten so große Stücke halten … schimmeliges Zeug. Dafür, dass die Inselbewohner so viel auf ihr sogenanntes Empire geben …“
Weiter sprach er nicht, sondern schüttelte nur den Kopf und goss aus einer isolierten Kanne das heiße Getränk in zwei Tassen. Als er einen ersten Schluck getrunken hatte, lehnte er sich zurück.
„Die Schwingungsorgel ist in der Lage Schwingungen zu empfangen und in Musik umzusetzen. Du weißt sicherlich, dass alles auf dieser Welt eigentlich nur aus Schwingung besteht?“
Johanne nickte. „Ihr spielt auf Hahnemanns Entdeckungen an? Homöopathie, Gleiches mit Gleichem heilen?“
„So ungefähr, ja. Jedes Wesen unterscheidet sich natürlich von seinem Nachbarn. Du siehst anders aus als ich, du bist anders gebaut und empfindest die Welt und deine Gefühle anders als ich. Also sendest du auch eine andere Schwingung aus. Die Maschine nimmt diese Schwingung auf und setzte sie in Töne und Melodien um. Denn, was bei dir von dieser Musik ankommt, ist ebenfalls Schwingung und diese wirkt auf deinen Körper und deinen Geist ein. Sie entspannt dich, das hast du gemerkt und sie gleicht deine Gedanken aus. Die Maschine ist neutral, sie kann nicht zwischen gut und böse unterscheiden. Aber sie bringt dich auf ein ausgeglichenes Maß. Wenn du nicht darauf vorbereitet bist, reißt sie dich von deinen Stiefeln. Wenn du aber weißt, was auf dich zukommt, dann ermöglicht sie dir unglaubliche Reisen in dein Innerstes und du entdeckst deine verborgenen Seiten.“
Johanne betrachtete lange und gedankenverloren die Maschine. „Und was hat das mit meinem Vater zu tun?“
„Dein Vater hat diese Orgel entwickelt. Aber deshalb habe ich dich nicht kontaktiert. Ich habe dir eine verschlüsselte Taube geschickt, weil ich glaube, dass jemand hinter dir her ist.“
Johanne schluckte. „Ja, das habe ich bereits gemerkt.“
„Um es kurz zu machen: Jemandem hat es nicht gefallen, dass du das Wrack der Juggernauth entdeckt hast. Offensichtlich befürchtet dieser jemand, dass etwas ans Licht kommt, was er lieber für immer im schmutzigen Wasser des Rheins versenkt hätte.“
Johanne seufzte.
„Was ich entdeckt habe ist …“
„… nicht für meine Ohren bestimmt, mein Kind. Es ist zu gefährlich! Wenn dieser jemand erfährt, dass ich davon weiß, dann werde auch ich zur Bedrohung. Denke nicht, dass ich Angst um meine Person habe, aber das Wissen würde auch meine Frau gefährden. Und meinen Auftrag, den ich für den Club ausführe. Den kann ich nicht dadurch aufs Spiel setzen, dass ich mir deine Wahrheiten anhöre.“
Johanne sah Graf Eyth verdattert an. Was wollte er ihr überhaupt sagen?
„Entschuldigt, Graf Eyth, ich wollte Euch da nicht mit hineinziehen. Für welchen Club arbeitet Ihr? Für die Rosenwegler?“
Der Graf lächelte still. „So, du hast also bereits davon gehört?“
Johanne rutschte unruhig auf dem Sessel hin und her.
„Nur Gerüchte … man erzählt viel auf den Straßen.“
Der Graf nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück.
„Die Rosenwegler sind eine Vereinigung von Männern, die sich dem Wohl des Kaiserreiches verschrieben haben. Überall im Land gibt es eigene Kapitel und es gibt eine Großloge, die sie alle vereint. Der Kaiser ist natürlich der Großmeister der großen Loge. Und ich habe die Ehre, ihr ebenfalls anzugehören.“
„Es gibt eine eigene Gruppe in Wilhelmstadt, die der Vereinigung angehört?“
„Oh ja!“ Graf Eyth lachte. „Acht Gründungsväter haben Wilhelmstadt aus dem Nichts geschaffen. Dafür nahm Kaiser Wilhelm I., der damalige Kaiser und Großmeister der Loge, sie in die Reihen der Rosenwegler auf und sie gründeten den Wilhelmstädter Rosenweg. Sie verpflichteten sich, dem Reich zu dienen und im Hintergrund zu wirken.“
„Man sagt, die Rosenwegler seien die eigentlichen Herren des Reichs.“
Graf Eyth zog die Augenbrauen hoch. „Sagt man das?“
Johanne nickte, bekam aber keine Antwort auf ihre Frage.
„Was geschah dann?“
„Nun, die Ingenieure starben. Einer nach dem anderen. Barabas, Pilow, Hesse sind nun tot oder bankrott. Motte hält sich versteckt. Und die Macht der Rosenwegler in Wilhelmstadt verteilt sich nun auf immer weniger Schultern. Der Kaiser ist darauf aufmerksam geworden. Wir hatten jemanden in Verdacht, aber die Sache mit deinem Vater …“
„Er wurde ermordet! Ich kann es beweisen!“
„Kannst du? Das glaube ich nicht. Der Kaiser ist davon überzeugt, dass dein Vater seinen Neffen auf dem Gewissen hat. Und vielleicht sogar Barabas, Pilow und Hesse aus dem Weg geräumt hat.
Johanne brauste auf. „Aber das ist absurd. Das hätte Vater niemals getan! Er wurde doch selbst getötet dabei!“
„Das kann ein Unfall gewesen sein. Und dein Vater ist nicht tot.“
„Ist er doch. Von meinem Vater, dem Ingenieur Julius deJonker ist nichts mehr übrig. Und jemand hat Schuld daran. Für mich ist dieser Jemand der Mörder meines Vaters.“
„Vergiss nicht, Johanne, dass er auch mein Freund war.“
„Dann helft mir, Graf Eyth, den Mörder zu finden und Rache an ihm zu üben!“
Graf Eyth schüttelte betrübt den Kopf.
„Wir kämpfen für dasselbe Ziel, Johanne, glaube mir. Aber du bist mit deinem unbedachten Auftritt aus der Deckung gekommen und hast dich deinem Feind gezeigt. Du hättest vorher mit mir reden sollen. Ich kann jetzt nicht mehr viel für dich tun, ohne mich dem Zorn des Kaisers und der Loge auszusetzen. Und das würde keinem von uns beiden nützen.
Verstehst du denn nicht? Ich tue bereits, was ich kann, um dich zu unterstützen. Natürlich hättest du sofort ins Schloß ziehen können, nachdem man euch Haus Schamal genommen hat. Aber wem hätte es genützt? Du hättest dich von deiner Tante einwickeln lassen und wärst vielleicht sogar von ihr verheiratet worden. Das konnte ich nicht zulassen. Johanne, ich wollte, dass das Feuer der Rache in dir auflodert, dass du dich zu dem entwickelst, was du nun bist. Ich musste dich auf eigene Füße stellen, ohne dass es nach außen den Anschein hat, ich würde dir zu sehr helfen. Der Club, der Kaiser, sie alle legen mir Fesseln an, die ich nicht ohne weiteres sprengen kann. Aber glaube mir eins, Johanne, egal wie es auch aussehen mag, ich stehe auf deiner Seite! Aber ich muss mehr im Auge behalten, als deinen Komfort, verstehst du? Dennoch, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Ich ziehe im Hintergrund die Fäden und du musst dich deiner Aufgabe stellen. Gehe mit Bedacht vor, meine Liebe. Doch glaub nicht, dass ich dich ohne Schutz lasse.“
Er griff in die Tasche und holte ein dünnes Lederbändchen hervor. An dem Band hing ein Rosenquarz in der Größe einer Mark-Münze. Darum herum war in feinster Manier ein Bleipentagramm gegossen, gleich dem, das in den Boden der Kapelle eingelassen war. Johanne nahm die Amulette staunend entgegen. Der Rosenquarz schimmerte, obwohl kein Licht darauf fiel. Es schien, als leuchtete er aus einer inneren Kraft heraus.
„Was ist das?“, fragte sie.
„Das Pentagramm soll dich vor fremden Einflüssen schützen.“
Johanne sah Graf Eyth mit großen Augen an und fragte: „Meint Ihr das ernst, Onkel? Das ist doch Esoterik. Ein Pentagramm hält vielleicht Geister fern, aber was soll es mir helfen, wenn man mich ertränken will? Oder mich hinterrücks erschießen wird?“
Graf Eyth zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe und Johanne biss sich auf die Lippe. Sie ärgerte sich, dass sie so frech gewesen war und ihren Gedanken freien Lauf gelassen hatte. Graf Eyth war freundlich zu ihr gewesen, er behandelte sie wie ein Mündel und kümmerte sich um sie. Da war es nicht recht, dass sie sich über seine Macken lustig machte.
„Die Alchemie“, hob Graf Eyth an, „ist zu manchem in der Lage, was die Naturwissenschaft nicht vermag. Auch Mechanik, Dampf und Kompression sind nicht in der Lage, die Dinge zu bewerkstelligen, die ein aufgeschlossener Geist erreichen kann. Du magst dich über meine Ideen lustig machen, ja, das Recht gestehe ich dir zu. Aber dein Vater war da aufgeschlossener. Wie hätte er sonst so etwas wie den Schallwellen-Signalgeber oder die Schwingungsorgel erfinden können?“
Johanne schlug die Augen nieder. Sie schämte sich, so vorlaut gewesen zu sein. Sie legte sich das Amulett an den Hals und knotete das Lederbändchen zu. Dann ließ sie den Rosenquarz unter ihrer Bluse verschwinden.
„Ich habe dich aber nicht hierhergerufen, um mit dir über Alchemie zu fachsimpeln. Johanne, ich habe gute Nachrichten: Der Kaiser wird Wilhelmstadt besuchen. In wenigen Tagen wird in diesem Schloss ein Kaiserball stattfinden. Wilhelm II. möchte sich gerne von der Entwicklung der Stadt vor Ort überzeugen. Außerdem werden im Hintergrund Verhandlungen mit den verbleibenden Ingenieuren über neue Großprojekte vorbereitet. Du siehst, Johanne, in diesen Räumen wird Weltpolitik gemacht. Und du bist mitten reingeplatzt.“ Er lächelte. „Ich verspreche dir, dass ich mit dem Kaiser über die Enteignung reden werde. Aber halt dich bis dahin zurück, in Ordnung?“
Johanne fühlte sich, als ob man ihr ins Gesicht geschlagen hätte. Sie sollte sich zurückhalten? Graf Eyth meinte es sicherlich nur gut mit ihr, aber …
„Wie soll ich mich zurückhalten, lieber Onkel? Mein Vater … ich kann nicht vergessen, was mit ihm geschehen ist. Ich muss etwas tun. Ihn nicht zu rächen … da könnte ich mich auch gleich zu ihm ins Grab legen. Ich habe dort unten an der Juggernauth gesehen, dass das Schiff nicht auf einen Felsen gefahren sein kann. Es war kein Unfall. Und ich muss herausfinden, was wirklich geschehen ist.“
„Johanne, noch ist …“
„Ich weiß, was Ihr sagen wollt, dennoch … ich kann Euch nicht versprechen, dass ich tatenlos dasitze und Bücher lese, während hier, wie Ihr sagt, Weltpolitik betrieben wird. Es muss etwas geschehen.“
Graf Eyth verzog missmutig das Gesicht. „Dann versprich mir wenigstens, dass du auf dich aufpasst. Versuche, nicht die ganze Stadt niederzubrennen auf deinem Rachefeldzug. Ich weiß, wie kompromisslos du sein kannst.“
Johanne schluckte eine bissige Antwort hinunter und zwang sich zum Lächeln.
„Sicher, das werde ich versuchen.“
„Bitte, pass auf dich auf, Johanne. Übrigens, du solltest auch mal an etwas anderes denken“, murmelte Graf Eyth. „Ich habe da noch etwas für dich.“
Er hielt ihr zwei Karten hin. „Geh mal wieder aus. Das Varieté ist genau das Richtige für dich. Im Apollo wird morgen Abend Saladin Sansibar auftreten und seine Hypnosekünste vorführen. Es ist eine junge Technik, die eigentlich so gar nichts mit Maschinen und Zahnrädern zu tun hat. Kein Kolben, der bewegt wird, sondern nur der Geist. Vielleicht hilft dir das ja weiter in deinem Bemühen, deinen Vater zu verstehen und zu rächen. Deine Tante wird auch da sein.“
Die junge Frau nahm die Karten. Nachdem sie eben so unverschämt gewesen war, traute sie sich nicht, Graf Eyth auch diesen einfachen Wunsch abzuschlagen. „Ich werde hingehen.“
Als sie nach einem üppigen Mittagessen und mehreren Gläsern Wein Schloss Eyth verließen, ahnte Johanne nicht, dass ihr Zuhause bereits in Flammen stand.