Читать книгу Wilhelmstadt. Die Abenteuer der Johanne deJonker. Band 1 - Die Maschinen des Saladin Sansibar - Andreas Dresen - Страница 11
ОглавлениеSchloss Eyth
Schnaufend und dampfend zogen die beiden mechanischen Pferde die kleine Kutsche den Hügel hinauf. Oben thronte Schloss Eyth, das sich im Gegensatz zu Wilhelmstadt bereits seit Jahrhunderten an diesem seinen Platz befand. Umgeben von weitläufigen Gärten, einem kleinen Wald und einer Teichanlage, die jener aus Versailles nachempfunden war, blickte es ruhig und gelassen hinab auf das hektische Treiben der Stadt, die in den letzten zweiundzwanzig Jahren zu seinen Füßen entstanden war. Aufgrund seiner exponierten Lage auf der sogenannten Grafenhöhe, gehörte das Schloss nicht zur Stadt und befand sich auch nicht auf der flexiblen und jederzeit umpositionierbaren Stahlplatte, die die Grundlage für Wilhelmstadt bildete, sondern hatte seine Keller wie Wurzeln tief in das hier vorherrschende Granitgestein gegraben.
Der Weg, der die Grafenhöhe mit Wilhelmstadt verband, war mit grob behauenen Steinen gepflastert und schlängelte sich den Hügel hinauf, was den beiden Maschinenpferden, die Johanne vor das zweirädrige Gefährt gespannt hatte, allerdings keinerlei Mühe zu bereiten schien, denn sie stampften und dampften eifrig in Richtung des Schlosses. Die Kraftdroschke schien ihr für die Fahrt auf Grund des Gewichts weniger angemessen. Sie selbst trug ein elegantes rotes Kleid und Marianne hatte ihr die Haare zu großen Locken gedreht. Neben ihrem Knie lehnte der leichte Seidenschirm mit dem Jaguarkopfgriff aus Ebenholz. Johanne hatte sich angewöhnt, nie mehr ohne Schirm das Haus zu verlassen. Dabei hatte sie weniger Angst, nass zu werden, anstatt dass sie hoffte, sich damit besser verteidigen zu können. Leider hatte sie noch keine Zeit gehabt, ihren ständigen Begleiter mit weiteren Waffen auszustatten. Noch konnte sie sich nicht zwischen einem versteckten Degen im Griff oder einer winzigen Schusswaffe in der Spitze entscheiden. Interessant fand sie auch den Gedanken eines Flammenwerfers, aber für Flammenöl und Treibgas war nicht genug Platz im Stock. Denn sie wollte ihn gleichzeitig stabil genug halten, um nicht darauf verzichten zu müssen, ihn auch als Schlagwaffe benutzen zu können. Johanne hatte auf ihrer Reise in den Orient einige interessante Techniken erlernt, unter anderem die ‚Acht Wege einen Mann mit einem Stock zu töten‘. Leider hatte sie sie noch nie praktisch anwenden können, wollte aber für den Notfall gerüstet sein.
Sie wippte nervös mit den Füßen, wobei ihre schwarzen Lederstiefel ein knarzendes Geräusch machten. Johanne versuchte, tief Luft zu holen, scheiterte aber an dem Korsett, das ihr gegen die Rippen drückte. Mit Grausen dachte sie an die Tournüre, die manche Frauen bis heute trugen, obwohl sie bereits lange aus der Mode waren. Johanne erinnerte sich daran, wie ihre Mutter immer das Hinterteil ihres Rocks mit einem Gestell aus Stahl und Fischbein aufbauschte, um diese unbequeme und ihrer Meinung nach hässliche Beule im Kleid zu erzeugen. Immer wieder war sie darüber erstaunt, wozu Frauen für ein gutes und modisches Aussehen bereit waren.
Zu ihrer Linken lag ihre Handtasche aus gefärbtem Schlangenleder. Darin hatte sie die wichtigsten Utensilien verstaut – und ihre kleine Lebensversicherung. Bin ich froh, wenn ich wieder zu Hause und aus dieser Kleidung raus bin, dachte sie. Es fehlten nur wenige Meter bis zum Schloss, doch Johanne hielt kurz inne und ließ ihren Blick durch das Fenster über Wilhelmstadt schweifen.
Im Hintergrund, nahe am Horizont, erkannte sie undeutlich die riesigen Maschinen, die der Erde die Kohle aus dem Leib rissen. Die Fabriken und qualmenden Schlote vernebelten den Blick. Obwohl Wilhelmstadt in so kurzer Zeit so schnell gewachsen war, war alles durchstrukturiert und durchdacht. Trotzdem wurden Häuser errichtet und wieder abgerissen, wenn es eine wirtschaftlichere Nutzung für die jeweilige Fläche gab. Nur die Nadel dominierte stets den Blick, das Hochhaus des Geheimen Kommerzienrats Oppenhoff. In dem obersten Stockwerk dieser architektonischen Meisterleistung saß er wie eine Spinne in ihrem Netz. Von dort oben sah er auf sein Reich hinab. Oppenhoff war immer der stärkste Konkurrent ihres Vaters gewesen. Oft hatte er versucht, die Genialität und den Erfindungsreichtum Julius deJonkers zu kaufen, doch war stets gescheitert. Ihr Vater war ein kaisertreuer Bürger und teilte dessen Visionen einer besseren Gesellschaft durch neue Technik. Oppenhoff hingegen hatte nur sein eigenes Machtstreben im Sinn. Als er merkte, dass Julius deJonker nicht käuflich war, begann er, die Familie deJonker Schritt für Schritt zu ruinieren. Aber ob er auch vor einem Mord nicht zurückschrecken würde? Konnte es wirklich sein, dass dieser Mensch, der eine Stütze der Gesellschaft darstellte, dieser herausragende Ingenieur, der vom Kaiser mit einer Ehrenmedaille bedacht worden war, und der zusammen mit den anderen sieben Gründungsvätern dieses kleine Weltwunder Wilhelmstadt aus dem Boden gestampft hatte, ihren Vater auf dem Gewissen hatte? Kaltblütig und ohne Rücksicht auf das daraus resultierende Elend? Johanne konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch überhaupt zu einer solchen Tat fähig sein konnte.
Die Pferde hielten vor Schloss Eyth und Miao sprang geschickt vom Kutschbock. Sie landete auf ihrem gesunden Bein und ging, kaum merklich humpelnd und ab und an von einem Dampfwölkchen begleitet, auf das Eingangsportal zu. Johanne war stolz auf ihr Werk. Das Bein war ihr wirklich gut gelungen, aber es war nicht ihre Erfindung. Sie blickte zu den Pferden, die keuchend und dampfend vor der Kutsche standen. Ihr Vater hatte sie konzipiert. Er war immer der Meinung gewesen, dass man am meisten lernt, wenn man die Natur kopiert. Und das hatte er ausreichend getan. Die Pferde, ebenso wie die Katze, waren mehr Spielereien gewesen, die ihm nichtsdestotrotz den Ruf eines genialen, wenn auch verschrobenen Erfinders eingebracht hatte. Doch die Familie deJonker war stets so wohlhabend und einflussreich gewesen, dass dies nie eine Rolle gespielt hatte. Im Gegenteil, der Kaiser war von Julius‘ Spielereien oft faszinierter gewesen, als von dessen wirklich bahnbrechenden Erfindungen. Und sein Neffe, ebenso fortschrittsbegeistert wie der Kaiser selbst, war eigens mit auf der Juggernauth gewesen, um das neue Schallwellengerät, das Julius konstruiert hatte, selbst auszuprobieren.
Die Tür der Kutsche wurde aufgerissen.
„Der Graf und die Gräfin lassen bitten, Hanne.“
Johanne stieg aus und warf Miao einen strengen Blick zu. „Du sollst mich in der Öffentlichkeit nicht Hanne nennen.“ Dann setzte sie ein Lächeln auf, atmete noch einmal so tief es ihre enge Kleidung zuließ ein und stieg die wenigen Stufen zum Portal des Schlosses hinauf. Das Gebäude war beeindruckend. Bereits von Weitem konnte man erkennen, mit wie viel Liebe zum Detail die Erbauer dieser Anlage ans Werk gegangen waren. Die Front war in einem dezenten Rotton gehalten, während die reich mit Stuck und Figuren verzierten Fenster in einem hellen Weiß abgesetzt waren. Überall gab es Türmchen und Spitzen, Säulen und kleine Figuren. Das Dach war rot und weiß gekachelt und selbst die zahlreichen Kamine hatten solch ein verziertes Dach.
Ein schüchternes Hausmädchen hielt Johanne die Tür auf und ließ sie mit einem Knicks ein. Die Halle beeindruckte sie immer wieder aufs Neue. Der große Raum mit der ausladenden Treppe an der linken Seite war dekoriert mit türkisen orientalischen Seidentapeten, die von handgemalten Blumen und Vögeln geziert wurden. Die Decke war großflächig mit verschlungenen goldenen Pflanzenornamenten übersät. Die Durchgänge zu den anderen Teilen des Schlosses waren mit Rundbögen verziert, die Treppengitter und Lüster an den Wänden waren vergoldet. Das einzige Licht fiel durch ein riesiges Dachfenster, das den Eindruck verstärkte, man sei in einen fremdartigen, phantastischen Wald geraten. Johanne erwartete geradezu, wilden und fremdartigen Kreaturen zu begegnen, wenn sie sich in den Gängen des Schlosses verlor. Nicht ohne Grund flüsterte man wohl hinter vorgehaltener Hand die wildesten Gerüchte über ihren Protegé. Man sagte ihm nach, ein führender Kopf der Rosenwegler zu sein, jener geheimen Gesellschaft, die im Hintergrund die Fäden im deutschen Kaiserreich ziehen sollte. Johanne gab nicht viel auf diese Geschichten. Verschwörungen wurden an jeder Ecke feilgeboten. Sie hatten ihre Brutstätten in den Kneipen und Weinstuben dieser Stadt, in den Kellerküchen der großen Häuser und am Fließband der großen Fabriken. Überall dort, wo zwei oder mehr Menschen zusammenkamen, wurden neue Gerüchte erfunden. Doch, und das musste Johanne zugeben, einen kleinen wahren Kern hatten die meisten dieser Legenden. So wusste sie zum Beispiel, dass Graf Eyth eine Koryphäe auf dem Gebiet der modernen Alchemie war. Dass er aber in seinen Kellern Geister beschwören konnte und sich so die Gunst des Kaisers gesichert hatte, war natürlich das reinste Ammenmärchen.
Das Hausmädchen wollte Johanne und Miao unter einem Bogen hindurch in den kleinen Salon führen, als plötzlich ein markerschütternder Schrei durch die Halle gellte. Johanne zuckte zusammen und Miao stellte sich sofort schützend vor sie. Beide warfen hektische Blicke durch die Halle, um die mögliche Gefahr ausfindig zu machen.
Ein dumpfer Schlag ertönte, dann noch einer. Man schien auf jemanden einzuschlagen! Johanne und Miao sahen sich alarmiert an. Ich wusste es, dachte Johanne. Was habe ich da nur geweckt, als ich zur Juggernauth getaucht bin. Man hat mich hierher verfolgt, um mich umzubringen. Und jetzt müssen auch die dran glauben, die mir helfen wollen. Sie lief in die Richtung aus der die Geräusche kamen. Ihre Stiefel klackerten auf dem dunklen Marmorboden. Ein erneuter Schrei ließ sie schneller werden.
„Nicht da lang, gnädiges Fräulein“, rief das Hausmädchen ihr hinterher, doch Miao riss eine Tür auf, die ebenso wie die Wände mit seidener Tapete beklebt war und so fast unsichtbar erschien. Hinter dieser Tür hörte man die klatschenden Schläge. Johanne zog die kleine Luftdruckpistole aus ihrer Handtasche, die über einen winzigen Schlauch mit einem mobilen Kompressor in der Tasche verbunden war. Dann stürmte sie mit vorgehaltener Waffe in den Raum.
„Hände hoch!“, brüllte sie.
„Johanne!“ Pauline Gräfin Eyth schrie erschrocken auf. Ein halbes Dutzend Gesichter starrten Hanne und ihre Assistentin an. Miao stand mit erhobenen Fäusten und verzerrtem Gesicht kampfbereit neben ihr. Das Bein zischte aufgeregt.
„Johanne, steck das … Ding weg. Wir brauchen so etwas nicht, d’accord?“ Gräfin Eyth kam auf Johanne zugerauscht. Ihre füllige Figur war nur mit einem einfachen Leinenkleid verhüllt. Das Haar wallte ihr offen über die Schultern und sie stand barfuß in dem mit Teppichen ausgelegten Raum. Auch hier waren die Wände mit teueren Tapeten ausgekleidet, zeigten jedoch Szenen aus der Historie des Schlosses. Bilder von Adeligen und Kirchenvätern hingen an den dunklen Wänden. Die Borten waren golden, die Decke mit einem Fresko verziert. Durch große Fenster schien die Sonne aus dem Garten herein und blendete Johanne. Sie traute ihren Augen kaum: Außer ihrer Patentante standen dort sieben weitere Damen mehr oder weniger nackt mitten im Raum. Sie hatten lediglich leichte Kleider übergeworfen, zwei von ihnen trugen sogar weiße Leinenhosen.
Johanne ließ die Waffe sinken und verstaute sie irritiert und etwas beschämt in der Handtasche.
„Aber der Schrei …“, setzte sie an. Sie blickte irritiert in die Runde. Ein Zimmer voller kämpfenden Frauen in Unterwäsche war selbst für das liberale Wilhelmstadt ein mehr als ungewöhnlicher Anblick. „Ich dachte, Ihr wärt in Gefahr, Tante Pauline.“
„Papperlapapp! Gefahr. Doch nicht in meinem eigenen Schloss! Nein, hier droht uns keine Gefahr. Die Gefahr lauert auf der Straße!“
„Ich habe davon gehört. Es sollen Frauen verschwinden.“
„Eine unserer Anhängerinnen ist wie vom Erdboden verschluckt. Direkt nach unserer öffentlichen Demonstration. Sie war noch recht neu. Erst zwei Mal dabei. Ihr Mann wollte nicht, dass sie sich uns anschließt, aber sie hat sich ihm widersetzt. Er hat sie grün und blau geschlagen.“ Tante Pauline schüttelte den Kopf und einige der Frauen murrten. Sie schienen für die Männer, die ein solches Verhalten an den Tag legten, kein großes Verständnis zu haben. Eine große Dame mit einem Busen wie ein Schlachtschiff, die ihre Haare zu einem Turm hochgesteckt hatte und eine weiße, knielange Leinenhose unter ihrem Hemd trug, schrie kurz auf, holte mit dem Bein aus und trat mit dem Absatz ihres Stiefels mit voller Wucht in ein von der Decke baumelndes Boxkissen. Mit einem krachenden Geräusch riss das Leder des Kissens und Sand rieselte heraus. Tante Pauline nickte zufrieden.
„Trotz der Schläge, die sie von ihrem Mann eingesteckt hatte, war sie wiedergekommen. Und nun ist sie verschwunden. Hätte sie doch mehr mit uns trainiert.“ Sie schüttelte wieder bedauernd den Kopf. „Ihr Mann behauptet, er hätte nichts mit ihrem Verschwinden zu tun. Vielleicht stimmt das. Vielleicht aber auch nicht. Aber wir lassen uns nicht einschüchtern, d’accord?“
Johanne seufzte mitfühlend. „Wie furchtbar.“ In Gedanken war sie allerdings bereits wieder bei ihrem letzten Tauchgang.
„Aber das ist nicht das Einzige, gegen das wir uns wehren müssen. Die Männer! Die Gesellschaft! Die Unterdrückung der Frauen ist allgegenwärtig. Und auf den Straßen ist sie am offensichtlichsten. Vor allem dann, wenn wir Frauen uns gegen die Ungerechtigkeit wehren.“ Ihre Patentante war auf sie zugekommen und hatte sie untergehakt, ohne ihren Redeschwall zu unterbrechen.
„Ich habe davon gelesen“, gab Johanne zu. Sie spürte, wie sich bei der eindringlichen Berührung ihrer Tante ihre Glieder versteiften. Das ganze Thema lag ihr nicht. Sie wollte am liebsten an ihren Maschinen schrauben und ihre Rache planen. Der Rest war ihr relativ egal. Trotzdem ging sie aus Höflichkeit auf das Thema ein. „Ich habe gehört, dass man Frauen auf offener Straße verhaftet hat, weil sie demonstriert haben. Suffragetten.“ Johanne wusste nicht, ob das ein Schimpfwort war, aber so wie die Leute auf der Straße es aussprachen, musste es wohl eines sein.
„Ganz genau! Dann geht diese Welt ja doch nicht ganz an dir vorbei“, lächelte Tante Pauline. „Wir sind verhaftet worden. Man hat Photographien von uns gemacht. Gegen unseren Willen! Graf Eyth war außer sich vor Wut und wollte die gesamte Polizeitruppe degradieren lassen.“ Sie lachte. „Doch damit wäre uns ja auch nicht geholfen gewesen. Man hat die Photographien vernichtet und die Akten verbrannt. Das ist ein Vorteil, den ich persönlich genieße. Aber viele meiner Mitstreiterinnen genießen diesen Schutz eben nicht. Darum habe ich den ‚Verein für angewandte Frauengymnastik‘ gegründet, nach meinem Vorbild Clara Zetkin. Überall im Kaiserreich sollte es so etwas geben. Zuerst der Sport und danach die politische Aufklärung.“
Eine der Frauen, die eine Hose anhatten, schrie. Sie holte aus und schlug mit aller Macht auf ein ledernes Kissen ein, das mit einem Seil an der Decke befestigt war, dort, wo sonst der Lüster hing.
„Wir üben Selbstbewusstsein. Der Schrei, der dich wahrscheinlich eben so erschreckt hat, weckt unsere inneren Instinkte. Wir verbinden uns mit unserem Urweib. Die Frau, die in den ersten Zeitaltern über die ganze Sippe herrschte. Der Schrei bündelt unsere Kräfte. Dann schlagen oder treten wir zu. Wir merken, dass wir nicht so leicht zu besiegen sind. Wir sind zwar Frauen, aber man kann nicht alles mit uns machen. Glaub mir, Johanne, bei der nächsten Kundgebung haben wir ein ganz neues Selbstbewusstsein, wenn wir den Polizisten gegenüber stehen. So leicht werden wir es ihnen nicht mehr machen, d’accord?“
Johanne blickte zu dem gerissenen Boxsack, den die Dame mit der Turmfrisur vor wenigen Augenblicken mit ihrem Tritt zerstört hatte. Sie dachte an die Polizisten, die den Frauen bei der nächsten Demonstration gegenübertreten mussten und sie taten ihr ein wenig leid. Aber nur ein wenig.
Tante Pauline ließ Johannes Arm los und sah ihr direkt ins Gesicht. „Willst du nicht mitmachen?“
Johanne schüttelte stumm den Kopf. Das war nichts für sie. Sie war intelligent und geschickt, aber diese Art der offenen Aggression überließ sie lieber Miao. Außerdem hatte sie andere Pläne.
„Liebe Tante, ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich mich so lange nicht habe sehen lassen. Ich hatte es versucht, aber …“
Gräfin Eyth tätschelte Johannes Wange.
„Lass nur, mein Kind, ich verstehe das schon. Es war für uns alle keine leichte Zeit, deine Eltern standen auch mir sehr nahe. Es war ein schrecklicher Verlust für uns alle.“ Sie blickte kurz zu Boden und kniff ihre Augen zusammen. Dann sah sie Johanne wieder an und lächelte aufmunternd. „Aber jetzt bist du ja da.“
„Graf Eyth hat nach mir geschickt. Er hat uns zum Mittagessen hierher bestellt. Wo ist er?“
„Ach, der alte Grübler. Er hat sich wahrscheinlich in die Kapelle zurückgezogen. Dort findet man ihn immer öfter. Wir werden noch etwas üben und uns gleich beim Essen weiter unterhalten, d’accord?“
Noch während Pauline ihr Patenkind zur Tür geleitete, plapperte sie munter weiter.
„Morgen ist übrigens ein interessanter Abend im Varietétheater Apollo. Ein Schüler von Oskar Vogt, dem berühmten Hypnotiseur, wird dort eine Vorstellung geben. Das Thema lautet ‚Wählen Sie die Freiheit‘. Vielversprechend, nicht wahr? Ich werde ihn im Anschluss auf unser Schloss einladen, vielleicht gibt er mir und den Mädchen eine Privatvorstellung. Möchtest du mich begleiten?“
Johanne schluckte. Darauf hatte sie nun wirklich keine Lust. Ihr stand der Sinn nach anderen Dingen. Ihre Gedanken waren voller Rachepläne, auch wenn sie noch nicht wusste, gegen wen sie sich konkret richteten.
„Liebe Tante, die Geschehnisse auf der Juggernauth und das Unglück meines Vaters sind mir noch zu nah. Bitte vergebt mir, dass ich ablehnen muss.“
Der Gesichtsausdruck der Gräfin wurde sofort weich und sie drückte Johanne an ihren ausladenden Busen. „Aber natürlich mein Kind. Denk nur daran, das Leben geht weiter …“ Sie stockte, fuhr mit der Hand über Johannes Taille und blickte sie dann tadelnd an.
„Was ist los?“, fragte Johanne ihre Patentante.
„Trägst du etwa ein Korsett?“
„Ja. Es ist modern und ich dachte, wenn ich zum Mittagessen auf euer Schloss geladen bin, sollte ich mich auch etwas … herausputzen.“ Sie lächelte verlegen. Aber die Gräfin schüttelte den Kopf. „Das möchte ich in meinem Haus nicht mehr sehen, d’accord? Der Kampf um Gleichberechtigung ist auch der Kampf gegen die Mode und das Korsett ist Symbol unserer Unterdrückung. Welche Frau kann frei sein, wenn sie zwischen Walfischknochen eingesperrt wird.“
Johanne lächelte erleichtert. „Gerne will ich Euch diesen Gefallen tun, Patentante. Ich bekomme auch kaum Luft darin.“
Als sie sich anschickte, den Raum zu verlassen, trat Miao neben sie.
„Herrin, soll ich Euch in die Kapelle begleiten? Oder kann ich hier bleiben? Ich könnte etwas Übung im Schreien und Schlagen gebrauchen. Und vielleicht kann ich den Damen noch den ein oder anderen Kniff beibringen.“
„Das wäre großartig!“, mischte sich Gräfin Eyth ein und nahm Miao in Beschlag. „Wir brauchen jede Frau in unseren Reihen.“ Johanne blieb nichts übrig, als lächelnd zu nicken. Hoffentlich setzte die Gräfin Miao keine Flausen in den Kopf.
Aber etwas Übung im … Kampf oder wie auch immer sie es nennen, kann nicht schaden, dachte Johanne. Wer weiß, was uns in naher Zukunft noch alles begegnen wird. Der Anschlag auf mein Leben war sicher erst der Anfang. Doch nun wollte sie endlich zu Graf Eyth und hören, welche beunruhigenden Neuigkeiten keinen Aufschub duldeten.