Читать книгу Wilhelmstadt. Die Abenteuer der Johanne deJonker. Band 1 - Die Maschinen des Saladin Sansibar - Andreas Dresen - Страница 7
ОглавлениеProlog
Dampfend und zischend fuhr der Orient-Express in den Bahnhof von Wilhelmstadt ein. Schwarzgrauer Qualm sammelte sich unter dem gewölbten Glasdach und trübte die einfallenden Sonnenstrahlen. Der prunkvolle Elefantenkopf, der die Lokomotive wie eine Galionsfigur schmückte, schob sich über die Gleise, wurde immer langsamer und blieb schließlich prustend und keuchend am Ende des Bahnsteigs stehen. Die langen, stählernen Stoßzähne fegten alles, was sich dem Zug in den Weg stellte, von den Gleisen. Alles, was diesen Zähnen entkam, prallte gegen die wuchtige Stirn des eisernen Elefantenbullen. Er war nicht nur Zierat, sondern Schutz und Abwehr gegen alle Gefahren, die auf der gefahrvollen Reise quer über die Kontinente lauern mochten.
Die Türen des Zugs sprangen auf und Menschen quollen aus den Waggons. Einige steuerten auf die großen marmornen Treppen zu, um ihren Geschäften in Wilhelmstadt nachzugehen. Andere eilten über den Bahnsteig, um ihren Anschlusszug zu erreichen. Auf dem Nachbargleis wartete bereits der Braune Bär. Dieser Zug würde seine Passagiere von Wilhelmstadt über Frankfurt nach Berlin bringen, um von dort aus nach Moskau weiterzurasen.
„Es war schön, Sie kennengelernt zu haben, Fräulein deJonker.“ Der junge Mann mit dem Spitzbart verbeugte sich galant vor der jungen Dame, mit der er die letzten Stunden seiner Reise verbracht hatte.
„Wenn ich nicht mein Luftschiff erreichen müsste, wäre es mir eine Freude, Sie nach Hause zu begleiten. Aber leider ruft mich die Pflicht und ich reise weiter nach London, wo man mich bereits heute Abend im Club erwartet. Dringliche Geschäfte, Sie wissen, wie das ist.“
„Die Freude wäre ganz meinerseits, Herr Doktor“, antwortete Johanne kokett und stellte ihre Handtasche auf den Boden, um ihm die Hand zum Kuss hinzuhalten. Der Doktor ergriff sie und hauchte den Kuss auf ihre Finger.
Plötzlich bekam Johanne einen Stoß in den Rücken und stolperte. Im nächsten Moment war ihre Handtasche verschwunden.
„Hey“, rief Johanne. „Meine Papiere! Meine Handtasche! Haltet den Dieb!“
Sie zeigte auf einen kleinen, dreckigen Jungen, der sich die Beute an die Brust drückte und sofort die Beine in die Hand nahm.
„Verdammt, den kriegen Sie nicht mehr“, sagte der Doktor verdrossen und schüttelte den Kopf.
„Ach, Unsinn.“ Johanne packte ihren Schirm. Der Griff war ein aus Ebenholz geschnitzter Leopardenkopf, bespannt war das Accessoire mit hauchdünner chinesischer Seide, die am Rand mit feinster Spitze besetzt war. Johanne rief: „Aus dem Weg!“ Dann hob sie die Spitze des Schirms in Richtung des Jungen, der inzwischen den halben Bahnsteig überquert hatte. Johanne zielte, dann drückte sie auf einen versteckten Knopf im Griff des Schirms. Eine Feder entspannte sich mit einem Knacken, die Streben des Schirms lösten sich und flogen wie eine riesige Spinne durch die Luft. Kurz darauf lag der Junge auf der Erde, seine Beine im Drahtgeflecht des Schirms verheddert.
Johanne rannte zu ihm, schnappte sich die Handtasche und schaute dem Jungen in die Augen. Das Gesicht war dreckig, seine Kleidung zerrissen. Aus großen blauen Augen sah er Johanne verzweifelt an. Er wusste, was ihm nun blühte. Wenn er in die Hände der Kaiserlichen Geheimpolizei fiele, käme er erst ins Heim, dann in die Fabrik. Wenn er Glück hatte. Er würde wahrscheinlich schon lange erwachsen sein, bis er wieder frei wäre.
Johanne löste mit einem geschickten Griff die Drahtsperre von seinen Beinen.
„Hau bloß ab“, zischte sie ihm zu. Der Junge grinste und war schon in der Menge verschwunden, als sich Johanne wieder ihrem Begleiter zuwandte.
„Sie sind mir ja ein Kavalier“, sagte sie vorwurfsvoll, doch der Herr Doktor mit dem Bart war fort.
„Wahrscheinlich steckte er mit dem Jungen unter einer Decke“, sagte ein älterer Mann, der neben Johanne aufgetaucht war. „Bitte entschuldigt meine Verspätung, Fräulein Johanne.“
„Wohin bringst du mich, Joseph?“ Johanne saß neben dem Hausangestellten ihrer Familie auf dem Kutschbock, während er sie durch die Stadt fuhr. Wilhelmstadt war gewachsen, seitdem sie das letzte Mal hier gewesen war. Die Segmente schienen zum Teil neu bebaut worden zu sein. Der neue Reichtum der Stadt war unübersehbar, denn große Kaufmannshäuser reihten sich wie glänzend polierte Perlenketten entlang der Hauptstraßen. Die Männer waren elegant gekleidet mit ihren Gehröcken und steifen Hüten. An ihren Armen hingen die Damen, die die neueste Mode aus Berlin und Paris zur Schau trugen. Die Bürger Wilhelmstadts waren wohlhabend, was sie den Fabriken und den Bodenschätzen verdankten, genauso wie den Arbeitern, die unermüdlich für sie schufteten.
Auch das Warenangebot in den Schaufenstern war beeindruckend. Durch die Luftschiffroute Berlin-Bagdad, die in Wilhelmstadt einen Haltepunkt hatte, um das hier aus dem Æther raffinierte Hælium aufzunehmen, gelangten die Waren aus dem Orient zuerst in diese Stadt, bevor sie noch die Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs erreichten. Also schienen die Kolonialwarenläden nur so überzuquellen von erstaunlichen und fremdartigen Genüssen. Bananen, Pfeilwurzelmehl und Kokosnüsse wurden ebenso feil geboten wie Tigerbeere, Gummidrops und geröstete Affenfüße.
Haushaltswarenläden wurden in letzter Zeit besonders gut besucht, denn die findigen Ingenieure der Stadt hatten ihrem Ruf alle Ehre gemacht und den heimischen Markt mit innovativen Produkten überschwemmt, wie es sie noch nicht mal im fortschrittlichsten Land der Welt, der ehemaligen britischen Kolonie auf der anderen Seite des Atlantiks, zu kaufen gab. Die dampfbetriebene Spülmaschine war da nur der Anfang gewesen. Inzwischen konnte sich die Frau des Hauses über so elegante Gerätschaften wie den selbstreinigenden Teppich, den hundert Jahre haltbaren Hefeteig sowie die vollautomatische Kochmaschine freuen. Letztere musste nur einmal in der Woche von der Küchenhilfe mit Lebensmittelvorräten befüllt werden, danach schuf sie zu jeder Tages- und Nachtzeit die herrlichsten Gerichte, die die Hausherrin sich auf ihrem Speiseplan nur vorstellen konnte. Selbst überraschende Gäste waren kein Problem und konnten bewirtet werden. Meistens jedenfalls. Es gab allerdings auch Gerüchte darüber, dass diese Maschinen so empfindlich sein konnten wie eine menschliche Köchin. So soll eines Abends ein Gast eines noblen Hauses das Essen unangetastet zurück in die Küche gegeben haben. Am nächsten Morgen war das Haus abgebrannt und der Küchenapparat war spurlos verschwunden.
Neben diesem überbordenden Reichtum der Stadt fiel Johanne die erschreckende und unübersehbare Armut auf, die ihnen begegnete, als sie nun durch die kleineren Straßen des achten Segments fuhren. Dreckige Kinder spielten auf der Straße, dürre Frauen mit eingefallenen Gesichtern starrten sie aus dunklen Löchern an, die sie ihr Zuhause nannten.
„Das ist nicht der Weg zum Hause Schamal!“, sagte sie, mit wachsender Sorge. Der Rauch der Kamine der armseligen Ziegelhäuschen, die die Wege säumten, und der Qualm der riesigen Schlote der Fabriken, die in diesem Teil der Stadt das Bild prägten, legte sich wie ein öliger Film auf alles Leben. In einem Hauseingang lag ein alter Mann in Lumpen. Sein Blick ging ins Leere, nur seine Finger zuckten, als die Droschke vorbeifuhr. Johanne drehte sich erschrocken auf dem Kutschbock um, um den Mann im Blickfeld zu behalten.
„Joseph, ich glaube, dieser Mensch dort vorne stirbt! Wir müssen etwas tun!“
Der Hausdiener schüttelte traurig den Kopf.
„In dieser Straßen wird zu jeder Stunde gestorben, Herrin. Wir können nicht alle retten. Wir müssen sehen, dass wir überleben.“ Johanne starrte ihren Hausdiener einige Sekunden fragend, fast fassungslos an.
„Dann bring mich weg von hier. Bring mich nach Hause.“
„Das tue ich bereits, Fräulein Johanne.“
„Aber … Haus Schamal liegt im siebten Bezirk. Direkt am Park! Was wollen wir dann hier?“
„Fräulein Johanne, seitdem der Kaiser die Familie deJonker enteignet hat, leben wir hier. Graf Eyth war so freundlich, uns eine Wohnung in einem seiner Häuser zu überlassen. Als er hörte, dass das gnädige Fräulein heimkehrt, hat er sogar das ganze Haus räumen lassen.“
„Räumen lassen? Aber was ist mit den Menschen, die dort gelebt haben? Und warum wohnen wir nicht im Haus Schamal?“
„Fräulein Johanne, der Kaiser hat Haus Schamal konfisziert! Euch gehören nur noch die Sachen, die Ihr auf dem Leib tragt. Und die Vormieter unserer neuen Bleibe … nun, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich leben sie auf der Straße. Entweder sie oder wir.“
Johanne blickte ihren Hausdiener entsetzt an. Natürlich hatte sie von der Enteignung ihres Vaters durch den Kaiser gewusst. Allerdings konnte sie all das noch nicht in vollem Ausmaß erfassen.
„Ich dachte, dass es da vielleicht nur um Vaters Vermögen gegangen wäre“, sagte sie dann leise. „Als eine Art Strafe. Das allein hätte ja schon ausgereicht, um Mutters Herz zu brechen. Aber das Haus? Wie können sie uns das Haus nehmen? Vater hat es doch selbst gebaut! Es gehörte zur Familie, so wie du und Marianne. Man kann einer Familie doch nicht einfach das Haus entreißen!“ Ihre Stimme wurde laut und Joseph schaute betreten zu Boden.
„Der Kaiser kann alles“, sagte er vorsichtig. „Es kommt aber noch schlimmer. Das ganze Vermögen, das Eure Frau Mutter mit in die Ehe gebracht hat …“
„Das auch? Alles weg? Auch das Landgut in Pommern?“
Joseph schüttelte nur den Kopf. „Sie hat sich bis zum Schluss geweigert, Hilfe von ihren Schwestern anzunehmen, dazu war sie viel zu stolz. Sie war fest davon überzeugt, dass der Kaiser irgendwann zur Vernunft kommen musste. Graf Eyth …“
„Mein Patenonkel? Hat er denn nicht interveniert?“ Johanne wusste, dass der Graf dem Geheimbund der Rosenwegler angehörte, in dem der Kaiser als Großmeister diente. Es hieß, die großen Köpfe dieses Landes seien dort organisiert, um dem Kaiserreich zu neuem Glanz zu verhelfen, unabhängig von Kanzler und Volksvertretern. In diesem Bund sei die wahre Macht des Kaiserreichs konzentriert, hatte ihr Vater immer gesagt. Bis zu seinem Tod hatte er seiner Tochter nicht erzählt, ob er dieser Gesellschaft angehörte oder nicht. Graf Eyth jedoch trug das Zeichen der Rose ganz offen an seinem Revers.
„Was hat der Graf getan, um Wilhelm zur Umkehr zu bewegen?“
„Ich weiß es nicht, Fräulein Johanne, aber es hat nicht ausgereicht.“
Johanne versank in brütendes Schweigen, bis sie endlich vor einem kleinen Ziegelhaus hielten.
„Ich werde alles dafür tun, die Ehre unserer Familie wiederherzustellen“, brach es aus Johanne heraus. „Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Nicht dieses himmelschreiende Unrecht!“
„Der Kaiser hat durch die Schuld Eures Vaters seinen Neffen verloren“, gab Joseph vorsichtig zu bedenken.
„Die Schuld meines Vaters wurde noch nicht festgestellt. Bislang gab es nur Indizien und Vorwürfe. Doch scheinbar reichte das bereits, um den Kaiser zu überzeugen. Ich werde beweisen, dass mein Vater nichts Unrechtes getan hat. Es kann gar nicht anders sein.“
Joseph kicherte kurz. „Vielleicht könnte ich Euch mit den Dunklen Künsten zu Diensten sein? Der gnädige Herr Julius hat sich in diesem Bereich immer auf mich verlassen.“
Johanne machte ein abfälliges Geräusch. „Lass mich damit in Ruhe! Was meinst du damit? Voodoo? Zauberkunst? Joseph, ich wünschte, du hättest deinen Aberglauben in deinem böhmischen Dorf gelassen, aus dem du mit Marianne gekommen bist. Es ist das Jahrhundert der Wissenschaften. Ich bin eine studierte Frau. Dieser Mumpitz hat von nun an keinen Platz mehr bei uns, verstanden?“
Joseph nickte enttäuscht. „Ich habe verstanden, Fräulein. Auch wenn ich glaube, dass Ihr …“
„Schluss jetzt. Ich will nichts mehr davon hören. Außerdem glaube ich einfach nicht, dass mein Vater sich damit befasst hat. Du musst dich täuschen.“
Sie stiegen aus. „Hier ist es also?“, fragte Johanne skeptisch.
„Hier ist es. Unser neues Zuhause.“
Johanne stand einige Momente regungslos dort und betrachtete das Haus, das ihre neue Bleibe werden sollte. Das Haus hatte zwei Stockwerke und ein marodes Dach. Wenn man bedachte, dass Wilhelmstadt erst rund dreißig Jahre alt war, befand sich dieses Gebäude in einem furchtbaren Zustand. Die Fensterscheiben waren gesprungen, die Ziegel vom täglichen Ruß der nahen Schlote fast schwarz geworden.
„Wir sollten hinein gehen“, sagte Joseph. „Die Straßen sind nicht sicher.“
Johanne nickte nur. In diesem Moment fiel etwas aus den Wolken, landete mit einem Krachen auf dem löchrigen Dach, rutschte hinunter und knallte mit ausgestreckten Armen und einem offensichtlich zermalmten Bein auf den Bürgersteig, wo es in einer sich schnell ausbreitenden Lache aus Blut liegen blieb. Auf den zweiten Blick erkannte Johanne, dass vor ihr eine junge Frau auf der Straße lag.