Читать книгу Die Brüder von Nazareth - Andreas Flamme - Страница 10
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Galiläa war nach der Niederschlagung des Aufstands von Judas nicht mehr dasselbe. Das Echo der Unruhen lag noch in der Luft. Alle hatten sich dadurch gerettet, dass sie weggelaufen waren. Auch die Familien der Aufständischen flüchteten, denn auch sie erwartete der Tod. Rom war nicht geneigt, jemandem zu vergeben, besonders denjenigen nicht, die es gewagt hatten, gegen die Machthabenden Roms die Hand zu erheben.
Auch die Familie von Judas war genötigt, Rettung zu suchen. Der Schriftgelehrte Zadok sorgte dafür, dass sie weit weggeführt wurden, damit niemand sie ausfindig machen konnte. Nirgendwo in den römischen Provinzen war für sie ein sicherer Platz. Weder in Judäa noch in Syrien oder Ägypten …
Zadok wollte kein Risiko eingehen, die Nachkommen, die Söhne des Aufständischen Judas zu verlieren. Eines Tages sollten sie die Sache ihres Vaters fortsetzen. Deshalb schickte er sie nach Osten, außerhalb der Reichweite des Flusses Jordan zu den Beduinen. Dort wären sie in Sicherheit, bis sie heranwuchsen.
Aber für sich selbst hatte er überhaupt keine Bedenken. Sehr wenig Leute kannten ihn persönlich und wussten, wer er ist und welche Rolle er in der Widerstandsbewegung spielte. Fast alle waren schon tot, die wenigen Lebenden waren bereit, ihr Leben zu opfern, um ihn zu schützen. Für sie war er der Gerechte, jener, der den Weg betrat und auch die anderen überzeugte, ihn mit derselben Hartnäckigkeit und Hingabe zu gehen.
Zadok hatte sich in ein kleines Dorf in der Nähe von Jericho und dem Ufer des Asphaltsees13 zurückgezogen. Es war das Gebiet der ehemaligen Thora14 oder Essener, oder eher jener Essener, die sich mit dem Geschehen im Tempel nicht abfinden konnten. Sie waren vor der Verderbtheit in der hohen Geistlichkeit geflohen, die nicht in Einklang mit dem Gesetz des Moses stand. Sie lehnten die Annahme und Weiterreichen der Opfergabe zu Ehren der Fremden ab, die ihr Land besetzt hatten, oder der Bunten, wie man sie hier nannte.
Die Menschen lebten in Gemeinden, sie teilten alles miteinander, was sie besaßen, arbeiteten gemeinsam, hielten die alten Traditionen zur Reinhaltung ein, kümmerten sich hingebungsvoll um Alte und Kranke, als ob es Brüder wären. Die Geweihten befassten sich mit dem Lesen, dem Abschreiben und der Auslegung der Heiligen Bücher. Sie ehrten gewissenhaft und ehrfurchtsvoll den siebenten Tag, die siebente Woche, den siebenten Monat und das siebente Jahr.
Es waren keine Aufständischen. Deshalb ließ man sie in Ruhe. Sie waren keine Bedrohung, solange sie weit vom Tempel blieben. Außerdem waren die Herrschenden den dort Lebenden wohlgesinnt, da diese sich mit der Herstellung von Opobalsam beschäftigten. Dieses wurde von allen Parfüms wegen seines göttlichen Aromas bevorzugt und in den Städten des Imperiums zu hohen Preisen verkauft.
Hier verfügte Zadok über viel Zeit zum Nachdenken und Beten. Er versuchte, sich zu erklären, warum sich Gott von seinem Volk abgewendet hatte, warum er sie auf solch grausame Art bestrafte, warum jeder Aufstand gegen die Fremden mit Elend endete.
Ist nicht von David verkündet worden, dass dieses Land auf immer und ewig den Juden gehöre? So sagt das Testament zwischen dem Allmächtigen und seinem auserwählten Volk. Weshalb hat dann Gott zugelassen, dass es von Fremden zertreten würde?
Galt das Testament noch oder nicht?
Jeremia15 sprach von einem neuen Herzen und einem neuen Geist, von einem neuen Testament, das Judäa und Israel im kommenden Jahrtausend gegeben würde. Ein neues Testament, das zum Reich Gottes führt.
Sein Einsiedlerleben war nicht zufällig. Er folgte dem Rat des Propheten Jesaja, der sagte, der Weg Gottes müsste in der Öde vorbereitet werden. Er war schon in die Jahre gekommen und sein einziger Wunsch, bevor er von dieser Erde ginge, war, dass sein Land frei war und dass die Nachkommen von David ihr Land aufs Neue regieren und diese des Aaron die Tempeldienste übernehmen.
Das hatten die Makkabäer16 vor so vielen Jahren geschafft, indem sie die griechischen Eroberer verjagt hatten. Warum sollte nicht auch er das tun? Er hatte die Pflicht …
Als Herodes der Große starb, war Hoffnung aufgekommen. Doch auch damals war der Aufstand gescheitert.
Hat sich Gott wahrhaftig von seinen Kindern abgewandt? Wegen all dieser Sünden …
Der Messias von Israel war verloren, Judas war tot. Nur er allein war geblieben – alle hielten ihn für den Messias von Aaron. Allein durch die Ankunft der beiden Messiasse würden sie sich von den Fremden befreien können. So wie es zwei Säulen am Eingang des Tempels des Salomon gibt – Jachin und Boas. Nur dann würde es einen unabhängigen Staat geben, einen König und einen Hohenpriester.
So steht es in den Büchern.
Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen.17
Aber auch diese beiden Aufstände waren erfolglos.
So sicher glaubte ich an Judas und an mich selbst … In seinen Träumen ist Gott nicht erschienen. Er hat nicht zu ihm gesprochen. Er hat ihn nicht mit seinem Licht geblendet. Er hatte keine Engel zu ihm geschickt. Er war zu stolz, um zu gestehen, er wäre nicht unter seinen Erwählten, unter seinen Schmeichlern.
Die wahren Messiasse sind anders. Und er hätte sie finden müssen. Einer aus dem Geschlecht des Aaron, der im Tempel Dienst tut, und der andere aus dem Geschlecht des David, sodass er Prinz werde, der Prinz des Lichts.
Jedoch müsste vor ihnen ein Prophet erscheinen, der ihre Ankunft verkündete. Das könnte er sein.
Er hatte die Pflicht, weil er der Lehrer war.
Der Lehrer der Gerechtigkeit!
13 Das Tote Meer.
14 Der erste Teil des Tanach, der hebräischen Bibel. Sie besteht aus fünf Büchern Mose.
15 Biblischer Prophet (6. Jh. v. Chr.).
16 Fünf Brüder mit Judas an der Spitze führten den Aufstand der Juden von 167 bis 160 v. Chr. gegen die syrische Dynastie der Seleukiden.
17 Zahlen 24,17.