Читать книгу Die Brüder von Nazareth - Andreas Flamme - Страница 9
Оглавление5
Das Haus stand in einem Olivenhain. Das Haus selbst lag auf einem Hügel auf der Ostseite von Jerusalem. Dazwischen erstreckte sich das Kidrontal, an dessen Südseite der Weg nach Bethanien und Jericho führte. Gewaltige Mauern umgaben die Stadt, über der sich der Tempel in all seiner Pracht und von den Sonnenstrahlen erstrahlt erhob.
Das Heim von Joseph war groß. Es hatte zwei Etagen, die zweite wurde von Marmorsäulen gehalten, um die sich Reben wie Schlangen wandten.
Neben den Olivenbäumen befanden sich dort auch ein Gemüsegarten und ein Blumengarten. Der Hof war mit weißen, gemeißelten Steinplatten ausgelegt, in der Mitte war ein runder Springbrunnen eingebaut. Auf einem kleinen Felsbrocken war ein Fisch aus Stein, aus dessen weit geöffnetem Maul Wasser sprudelte.
Die Jungen hatten eine solche Pracht noch nie gesehen. Ihre Augen waren weit geöffnet und nahmen all die Herrlichkeiten, die sich ihnen im Garten dieses Hauses boten, in sich auf.
Als ob das kein gewöhnlicher Garten wäre, eben einer, von denen die Heilige Schrift und die Rabbiner in der Synagoge erzählten. Der Garten von Adam und Eva … Eden!
Auch ihre Mäuler standen offen, doch konnten sie keine Worte finden, mit denen sie das, was sie sahen, hätten beschreiben können, als wären sie in eine Zauberwelt versetzt, in einen unwirklichen Traum …
„Habt Ihr Durst?“ Die Stimme gehörte dem Hausherrn – Joseph.
Erst jetzt bemerkten die beiden Knaben, wie trocken ihre Kehlen waren. Sie hatten weder etwas gegessen noch getrunken, seitdem sie in Jerusalem angekommen waren. Sie hatten keinerlei Zeit, um an so etwas zu denken. Die Kinder nickten zustimmend.
„Vielleicht seid Ihr hungrig?“ Joseph hob die Hand und winkte zur Eingangstür. „He, Anna!“
Eine junge Frau winkte zurück und kam näher. Als sie hinzutrat, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste Joseph auf die Wange.
„Das sind die Knaben von Josef aus Nazareth – Jakobus und Jeschua. Und das ist meine Frau Anna“, stellte er sie einander vor.
Die Frau trug eine grüne Robe und eine weiße Haube mit blauen Ornamenten. Sie hatte ein rundes Gesicht, doch frisch und gepflegt, schwarze Augenbrauen und Locken in derselben Farbe guckten unter der Haube hervor. Sie hatte große und warme Augen. Um den Hals trug sie eine feine gedrehte Goldkette. Am linken Handgelenk glänzte ein Armband aus eben demselben Metall. Ihren Körper umgab ein leichter angenehmer Duft, der den Jungen in die Nase stieg.
„Würdest du sie bitte in die Küche führen, sie brauchen etwas zum Essen und Wasser.“
„Dann lass diese kleinen Burschen unsere Gäste sein“, lächelte Anna und gab ihnen ein Zeichen, dass sie ihr folgen sollten.
Joseph rief zwei seiner Diener herbei, die still abseits gestanden hatten. Er befahl ihnen, den Leiterwagen abzuladen und den Esel zu füttern. Die Diener verbeugten sich und gingen, um den Auftrag zu erfüllen.
Josef, der Vater der beiden Jungen, betrachtete ebenfalls mit Begeisterung das Grundstück, in das er geraten war. Er hatte schon viele reiche Häuser in Sepphoris gesehen, Caesarea … aber dieses übertraf alle in Schönheit und Feinheit des Stiles.
„Gefällt es dir?“, fragte der Hausherr.
„Es ist wie Balsam für die Augen. Es passt zu einem würdigen Herrn wie Sie.“
„Das habe nicht ich geschaffen, ich habe es von meinem Vater geerbt, Friede seiner Asche. Auch den Handel mit Zinn habe ich geerbt. Unsere Schiffe fahren in jeden Winkel des römischen Imperiums.“
„Das erklärt auch diese Schönheit“, erwiderte der Tischler.
„Meine Frau hat deine Kinder in die Küche geführt. Ich vermute, sie sind müde von den Erlebnissen des Tages und du wirst dem nichts entgegensetzen.“
„Eine solche Großzügigkeit kann ich nicht ausschlagen. Ich weiß nicht, wie ich es danken kann.“
„Denke nicht daran, lass uns hineingehen.“
Beide Männer gingen auf den Hauseingang zu und tauchten in die Kühle ein.
***
Nikodemus war ein hübscher und starker Junge. Trotz seiner Jugend hatte er schon viel von der Welt gesehen, hatte Menschen jeglicher Art getroffen, denen man innerhalb des römischen Imperiums begegnen konnte. Er trug eine knielange Robe aus feinstem Leinen, die mit einem Ledergürtel im Rücken festgeschnallt wurde. Geschlungene Riemen hielten seine Ledersandalen an den strammen Waden. Er arbeitete bei einem der reichsten und geachtetsten Menschen in Jerusalem und Mitglied des Sanhedrin – Joseph.
Er war ein Waisenkind, seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben und sein Vater, ein Schiffskapitän, war von einer seiner Reisen nicht zurückgekehrt. Keiner wusste über sein Schicksal Bescheid. Entweder war sein Schiff in einem Sturm untergegangen oder Räuber hatten es überfallen. Auch er war wie sein Vater ein ehrenhafter Diener.
Josephs Familie hatte ihn aufgenommen und wie ihr eigenes Kind aufgezogen. Sie ermöglichten ihm eine ausgezeichnete Bildung, aber er war von Natur aus klug und geschickt und eignete sich schnell Fertigkeiten an.
Er lernte die Sprachen der Römer, der Griechen und der Araber, wurde zum Sachverständigen in der Buchhaltung und im Handel. Er war derart gut in seiner Arbeit, dass Joseph ihn nicht entbehren konnte, er war zu dessen Vertrauten aufgestiegen, eine unersetzbare Hilfe und rechte Hand in dessen Angelegenheiten. Doch er war nicht nur einer seiner wertvollen Diener, er behandelte ihn wie seinen kleinen Bruder.
Der Bursche lief schnell, ohne auf die neckenden Blicke zu achten, die ihm die unverheirateten, mit Kopftüchern verhüllten Jungfern zuwarfen. Sein Gesicht war ernst und es hätte nicht anders sein können.
Ein kleiner Knirps rannte schweißtriefend und atemlos auf ihn zu und war den ganzen Weg von der unteren Stadt hergerannt, um seines Entgelts würdig zu sein.
Er hatte eine Nachricht für Nikodemus.
Nachdem der Junge sich vergewissert hatte, dass er den richtigen Mann gefunden hatte, nahm er ein zusammengefaltetes Stück Pergament heraus und überreichte es ihm mit strahlenden Augen.
Nikodemus nahm es entgegen, faltete es auseinander und las es. Es war eine Nachricht von Joseph. Sie war kurz. Er sollte auf den Markt im unteren Teil der Stadt gehen und einen griechischen Sklavenhändler beobachten.
Nikodemus hob den Kopf, griff in den Beutel, der ihm um die Hüften hing, nahm eine Münze heraus und warf sie in die Luft. Schnell schnappte der Knabe sie sich, schloss sie fest in seine Faust wie eine Kostbarkeit, verbeugte sich ein wenig und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Noch immer summte der Markt wie ein Bienenschwarm. Die Händler boten ihre Ware feil und die Käufer bewegten sich wie ein träge dahinfließender Strom die Hauptstraße entlang.
Nikodemus verlangsamte erst dann seinen Schritt, als er den länglichen Stein bemerkte, auf dem man die Sklaven zum Kauf feilbot. Im Inneren hörte er sein Herz stark klopfen. Unterwegs hatte er sich gewundert, warum Joseph ihm einen solch eigenartigen Auftrag erteilt hatte, doch war er ihm hörig und er wusste, dass es etwas Wichtiges war, sonst hätte er einen anderen Diener des Handelskantors damit beauftragt und nicht ihn.
Um den Stein stand ein Haufen Menschen herum, aber niemand beachtete die entblößte, auf dem Stein stehende Sklavin. Alle horchten gebannt auf das in Griechisch geführte Gespräch zwischen zwei Personen in reicher Kleidung.
Einer hatte eine Glatze und trug eine dunkelgelbe Toga. Aufgeregt erklärte er ununterbrochen gestikulierend etwas mit der linken Hand. Seine rechte war damit beschäftigt, den um den Hals der Sklavin gebundenen Strick zu halten. Neben dem ihm zuhörenden dicken Mann standen zwei starke Männer mit Schlagstöcken.
Nikodemus hatte ihn sofort erkannt. Es war der Verwalter des Marktes. Ein schlauer und neidischer Mann, dessen Gier keine Grenzen kannte. Der junge Mann bahnte sich einen Weg zu ihm. „Was geht hier vor?“, fragte einer aus der Menge leise.
Bevor er dessen Neugier stillte, sah er diesen verdächtig an. „Der Sklavenhändler ist über einen zerlumpten Knirps wütend, der ihm die Sklavin abkaufen wollte. Er meint, das Kind wäre wahrhaftig der Sohn eines Aufständischen, der ihn das gelehrt hätte, und verlangte, dass der Verwalter sofort Maßnahmen ergriff.“
„Und wo ist das Kind?“
„Irgendein Wichtigtuer stellte sich als Mitglied der Sanhedrin vor, ergriff ihn und führte ihn fort. Gut, dass er das getan hat, da ich mir nicht hätte vorstellen können, was hätte geschehen können“, flüsterte der Mann.
Nikodemus dankte mit einem Kopfnicken und konzentrierte sich auf das Gespräch.
„Sie müssen das der Obrigkeit melden. In kurzer Zeit ist Passah und alle möglichen Räuber treiben sich hier herum. Da kann doch einem die Idee kommen, sich als Messias auszugeben“, meinte mit ernster Miene ein Händler.
„Was ist denn schon passiert? Eine Rotznase von Bauer hat sich einen Spaß gemacht. Und den hat doch gerade ein Mitglied des Sanhedrin aufgegriffen“, entgegnete der Verwalter feindselig.
Er hatte noch immer Wut, dass er den angenehmen Schatten hatte verlassen und den Weg hierher machen müssen, um sich das Geschwätz dieses Sklavenhändlers anzuhören. Und obendrein war er kein Jude. Das aber verlangte sein Dienst. Außer die Markttaxen einzunehmen, hatte er auch auf die Einhaltung der Regeln zu achten – besonders, wenn wichtige Feiertage anstanden. Jedwede Störung musste vermieden werden, sonst würde er seinen Posten verlieren, auf den manch anderer sehr scharf war.
„Da hat sich einer einen Spaß gemacht! Denken Sie das so? Ein zerlumpter Bauernjunge treibt seinen Spaß mit mir, einem angesehenen Kaufmann wie mir? Nein, nein, mit mir können sie das nicht machen. Ich sage Ihnen, jemand hat ihm das beigebracht. Jemand, der vor diesen wichtigen Feiertagen Unzufriedenheit und Hass unter den Leuten schüren will. Wenn Sie keine Maßnahmen ergreifen, werde ich mich an jemand anderes wenden …“
„Gut, gut“, fand sich der Verwalter damit ab.
Der Händler bestand darauf und auch viele Leute hatten gehört, was passiert war. Die Sache hätte sofort ins Gespräch und in unerwünschte Ohren kommen können.
„Ich werde die Tempelwache informieren. Hat jemand wenigstens gesehen, mit wem der Junge hier war?“
„Mit einem Tischler, sie hatten einen Leiterwagen mit einem Esel.“
Der Verwalter runzelte seine dichten Augenbrauen, suchte in seinem Gedächtnis und erinnerte sich sofort an den Bauern, der seine zwei Denare gezahlt hatte, damit er seine Ware auf dem Markt verkaufen konnte. „Und das Mitglied des Sanhedrin, hat er sich vorgestellt?“
„Nein, ich habe vergessen, nach seinem Namen zu fragen. Aber es war kein alter Mann, er sprach ausgezeichnet Griechisch.“
„Gut, wie ich schon gesagt habe, ich werde die Tempelwache informieren.“ Der Verwalter drehte sich um und rief seine Wächter, die miteinander zu sprechen begannen, doch Nikodemus konnte sie nicht mehr hören.
Er hatte genug erfahren. Ihm war klar, wer dieses Mitglied des Sanhedrin war, der den Bauernjungen geschnappt hatte. Doch zweifelsohne würde auch der Verwalter in Kürze dessen Namen herausfinden. Er hatte Augen und Ohren in jedem Winkel vom Markt.
Er wusste, was er zu tun hatte.