Читать книгу Die Brüder von Nazareth - Andreas Flamme - Страница 11
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Ein verhaltenes Plätschern von Wasser war zu hören. Es kam vom Mikwe18, das fast den ganzen Raum einnahm. Am Eingang erhob sich eine Wand aus griechischen Säulen mit einem korinthischen Kapitel aus Marmor und die breiten Stufen begannen unmittelbar dahinter und endeten im Wasser. Der Boden vor der Kolonnade war mit Mosaik bedeckt, die geometrische Figuren und Blumen darstellten. Es war ein Werk von speziell aus Rom gerufenen Meistern.
Neben einer der Säulen stand ein Tisch mit einem großen Teller voller verschiedener Früchte und einer silbernen Schale mit Wasser. Auf dem Stuhl daneben lag ein schneeweißes Tuch.
Ein Mann in seinen besten Jahren schritt langsam durch das Wasser. Er hatte, nach der Mode Caesars, kurz geschnittenes Haar und einen dichten krausen Bart. Er trug eine lange, aus dem feinsten Leinen gewebte Robe mit an den Rändern aufgesetzten purpurnen Schmuckfäden. In der Mitte des Bassins hielt er inne, verschränkte seine Arme vor der Brust, schloss die Augen, tauchte langsam ins Wasser und blieb einige Augenblicke unbeweglich so stehen.
Er erhob sich wiederum, strich sich mit den Handflächen über sein breites Gesicht, von dem in dünnen Strahlen das Wasser abfloss. Mit zur Decke erhobenem Kopf begann er flüsternd ein Gebet. Nachdem er geendet hatte, schüttelte er den Kopf und tausend kleine Wassertropfen zerstreuten sich um ihn aus seinen nassen Haaren. Gemächlich trat er zur Treppe.
Aufmerksam betrat er einzeln jede der sieben Stufen, bis er das Bassin verlassen hatte. Die an seinem Körper klebende Kleidung unterstrich seine nicht besonders athletische Figur mit dem ausgeprägten dicken Bauch.
Der Mann trat zum Stuhl, nahm das Tuch, wischte sich das Gesicht ab und schlang es sich um den Hals, ging zum Tisch und tauchte seine Handflächen in die silberne Schale, schüttelte sie kurz und griff zum Früchteteller. Er nahm von den dunkelblauen Weintrauben und steckte eine Traube nach der anderen in den Mund.
Hannas ben Seth, oder einfach Annas, wie ihn die Bewohner von Jerusalem nannten, war seit fast zwei Jahren Hoher Tempelpriester. Er war vom Statthalter Syriens Quirinius ernannt worden, als Kaiser Augustus beschloss, Judäa zu einer römischen Provinz auszurufen.
Doch Annas erhielt den Posten nicht geschenkt. Er hatte mit aller Kraft und allen Mitteln darum gekämpft, das grundlegende Hindernis – Herodes Archelaos, den ältesten Sohn und Erbe von Herodes dem Großen – zu beseitigen. Archelaos wollte die Macht nicht mit seinen Brüdern teilen, aber Kaiser Augustus entschied anders. Er teilte das Land und ernannte Archelaos zum Ethnarch, indem er ihm die Macht über Judäa, Edom und Samarien erteilte.
Annas brauchte sich in seiner Mission nicht allzu sehr anzustrengen.
Herodes Archelaos war dermaßen geizig, grausam und dumm, sodass es eine Leichtigkeit war. Um die protestierende Menge zu besänftigen, ließ er die Gefangenen frei und versprach, die Steuern zu senken, doch hob er die Anordnungen nach dem Tod von Herodes dem Großen auf und schlug den Aufstand der Pharisäer brutal nieder, indem er befahl, Tausende von ihnen in Jerusalem zu töten.
Ständig wurden die Hohepriester des Tempels ausgewechselt und er verjagte zum Schluss seine Frau Mariamne, um Glaphyra zu nehmen – die Frau seines früher hingerichteten Bruders Alexander, die damals noch mit Juba II. verheiratet war, dem König von Mauretanien, was das Gesetz von Moses nicht erlaubte.
So brachte er alle großen Persönlichkeiten und Priester gegen sich auf, doch ohne sie hätte er nicht mehr weiter regieren können. Sie schickten Kuriere zu Caesar, der nicht zögerte, ihn zu verurteilen und nach Gallien zu verbannen und all seine Titel und Besitz zu entziehen.
Eigentlich verdankte Annas nicht so sehr dem ehemaligen Konsul Quirinius seinen Posten als Coponius – dem römischen Präfekten, der nach Judäa geschickt worden war und dem Statthalter von Syrien untergeordnet war, doch tatsächlich hatte er die Macht in Judäa und Jerusalem. Nur er hatte das Recht, zu begnadigen oder jemanden im Namen von Caesar zum Tode zu verurteilen.
Annas hatte es geschafft, alle Anwärter aus den übrigen drei wohlhabenden priesterlichen Familien auf den Posten auszustechen und die Gunst des neuen Herrschers Roms zu erwerben. Er war auch bei ihm geblieben, nachdem der Aufständische Judas in Galiläa die Revolte wegen der von Rom angeordneten Volkszählung angezettelt hatte. Der Aufstand war niedergeschlagen worden und die Sachen schienen sich beruhigt zu haben. Aber Annas kannte seine Landsleute bestens und wusste, dass jeder kleinste Funke neuen Widerwillen entzünden würde.
„Vater!“
Ein Knabe stürzte mit vor Aufregung heißen Wangen ins Bad. Er atmete schwer und hastig. Offenbar war er auf dem Weg ins Bad gerannt. Es war ein kleiner Junge, nicht einmal einen Anflug eines Bartes hatte er.
„Was ist los, Eleazar? Man kann ja nicht einmal in Ruhe baden. Gut, dass du mich nicht im Bassin angetroffen hast, du weißt, wie streng die Anforderungen des Hohenpriesters zur Reinhaltung der Rituale sind. Jene teuflischen Pharisäer warten nur darauf, dass ich irgendeine Regel nicht einhalte, und schicken sofort eine Beschwerde hinauf.“
Der Jüngling hielt an und senkte ergeben den Kopf. „Verzeih mir, Vater, aber ich habe Neuigkeiten. Ich habe mit dem Kapitän der Tempelwache gesprochen …“
„Warte, nicht so schnell“, unterbrach ihn Annas. „Nimm dir etwas Obst“, meinte der Vater und zeigte auf den brechend vollen Teller.
„Es ist wichtig!“, bat der Junge.
„Alles ist wichtig, mein Sohn. Besonders in unserer Lage und mit unseren Verpflichtungen, die wir haben – Jerusalem und ihren Bewohnern gegenüber. Deshalb dürfen wir nichts überstürzen und unbedachte Schlussfolgerungen ziehen, die zu verheerenden Folgen führen könnten. Wie oft soll ich dir das sagen?“
Der Junge antwortete nicht sofort. Er trat unruhig auf den einen und den anderen Fuß und konnte vor Aufregung keinen Platz für seine Hände finden, bis er sie hinter dem Rücken verschränkte. „Ja, Vater, ich weiß, dass ich noch viel lernen muss.“
„So ist es. Und nun erzähle mir, welche Nachricht du mir bringst.“
Eleazars Augen bekamen ihren Glanz wieder, doch trotz seiner Erregung bemühte er sich, langsamer und ruhiger zu sprechen, als er es gewohnt war. „Auf dem Markt in der unteren Stadt kam es zu einem Skandal. Der Sohn irgendeines Tischlers hat einen angesehenen Händler verspottet, indem er eine Sklavin kaufen wollte. Natürlich hatte der kein Geld. Es fehlt noch, dass die armseligen Bauern Geld haben, um Sklaven zu kaufen.“
„Gut, und was passierte danach?“
„Der Händler beschwerte sich beim Verwalter des Marktes, der seinerseits den Kapitän der Tempelwache in Kenntnis setzte.“
„Ist der Ruhestörer festgenommen worden?“
„Leider nicht. Der Tischler ist abgehauen.“
„Wie kann denn das passieren?“
„Man hat ihm geholfen“, meinte Eleazar und wartete die Reaktion seines Vaters ab.
Annas schob die Fruchtschale zur Seite und hielt mit dem Kauen inne. „Wer war es denn?“
„Ein sehr reiches und angesehenes Mitglied des Sanhedrin.“
Obwohl er viel gewohnt war, konnte er seine Überraschung nicht verbergen. Sein Gesicht spannte sich und seine Augen bekamen einen Glanz vor Raublust. „Wer?“, wiederholte er seine Frage.
„Joseph von Arimathäa.“
„Der Zinnhändler?“
„Eben dieser, ich habe den Kapitän angehalten, er sollte Soldaten zu dessen Villa schicken, und wenn der Tischler noch dort ist, sollten sie ihn festnehmen.“
Annas dachte nach. Joseph war wahrhaftig ein angesehener Mann und auch sehr einflussreich. Im Unterschied zu ihm war jener ein Pharisäer. Deshalb war er nur ein Mitglied im Großen Sanhedrin, das aus 71 Personen bestand. Er war ein Teil der Ratsmitglieder, in die Aristokraten und bekannte Persönlichkeiten aufgenommen wurden. Doch diese Gruppe hatte den kleinsten Einfluss auf die Tempelsachen, eines dieser Mitglieder hatte fast keine Chance, in eine wichtige Position oder in das Personal der Gerichtsbarkeit des Sanhedrin gewählt zu werden. Solche Leute wurden eigens von Annas bestimmt.
„Vater, hörst du mir zu?“
„Natürlich höre ich dir zu.“
„Na, was sagst du dazu?“
„Du hast schon richtig gehandelt, aber du brauchst deshalb nicht stolz zu sein. Merke dir, der Stolz ist eines jeden Feind, der regieren will. Und du bist mein erstgeborener Sohn, der Sohn, den ich dem Gott geweiht habe, und eines Tages wirst du mein Amt erben.“
Eleazar hatte sich so über das Lob gefreut, dass er bereit war, sich sofort ins Bassin zu stürzen. Doch das hätte den Vater keineswegs gefallen. Er musste sich beherrschen und ruhig sein, wenn er ihn noch mehr beeindrucken wollte.
„Hat der Kapitän noch etwas gesagt?“
Eleazar dachte nach. „Ach ja, gestern Nacht ist eine Gruppe Samaritaner in den Tempel eingedrungen und sie haben Knochen zwischen die Kolonnaden geworfen, er hat die Wache gerufen, damit sie diese verhaften.“
„Welche Knochen?“, wunderte sich Annas.
„Ich meine, es waren menschliche.“
„Menschliche!“
„So sagte der Kapitän.“
„Und das sagst du mir erst jetzt!“ Das Gesicht des Hohenpriesters rötete sich langsam. Plötzlich hob er die Hand und stieß die Schale vom Tisch. Sie flog hinunter und schlug mit einem ohrenbetäubenden Krach auf das Mosaik. Das Obst verstreute sich auf dem Boden.
„Idiot!“, schrie Annas. „Wann wirst du es lernen, die wichtigen von den unwichtigen Dingen zu unterscheiden?“
„Was habe ich denn getan?“, rechtfertigte sich Eleazar erschrocken.
„Was? Warum habe ich dich zum Schatzmeister des Tempels ernannt?“
„Damit ich das Geld der Pilger einnehme“, antwortete stotternd der Jüngling.
„Und wer gibt Geld an einem geschändeten Ort?“
Eleazar rieb sich die Hände und wusste nicht, was er antworten sollte. Die Antwort war klar genug.
„Ordne sofort an, man solle den Kapitän der Wache herbeirufen!“, befahl sein Vater. Annas nahm das Tuch von den Schultern weg und beförderte es erzürnt ins Wasser.
18 Rituelles Tauchbad im Judentum.