Читать книгу Leitfaden für das Kommunale Krisenmanagement - Andreas Hermann Karsten - Страница 6
1.2 Krisenarten
ОглавлениеEine Krise ist eine ungewünschte und unerwartete Situation. Sie entsteht häufig aus einer Anzahl von unerwarteten Ereignissen, die eine Abwärtsspirale in Gang setzt. Wird sie nicht adäquat bekämpft, hat sie erhebliche langfristige negative Folgen. Krisen sind so alt wie die Menschheit und Krisen, die die herrschenden Strukturen zerstören, kommen immer wieder vor. Im Gegensatz zu früher zeichnen sich die heutigen Krisen dadurch aus, dass sie weder einen festdefinierten Anfang noch ein entsprechendes Ende besitzen. Eine Krise ist eine außergewöhnliche Herausforderung für jede Verwaltung. Sie ist ihr »Realer Stress-Test«. Kennzeichnend für eine Krise sind drei Eigenschaften: Bedrohung, Dringlichkeit und Unsicherheit.
Die Bedrohung betrifft die Grundfeste einer Person, Gruppe, Organisation, Kultur, Gesellschaft oder der gesamten Menschheit. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Bedrohung real existiert oder eine hinreichende Anzahl von Mitglieder einer sozialen Gruppe glauben, sie würde existieren. Dadurch entsteht eine dreier Beziehung aus dem eigentlichen Ereignis, dem Handeln der Verantwortlichen und der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, in der sich alle drei Dimensionen gegenseitig beeinflussen und somit ein dynamisches, nichtlineares, gekoppeltes System erzeugen. Die Bedrohung wird größer empfunden, wenn sie fundamentale Werte oder überlebenswichtige Strukturen betrifft. Viele Bedrohungen, ihre Art und Eintrittswahrscheinlichkeit sowie die Auswirkungen sind lange vor ihrem möglichen Eintritt bekannt (»Knowns«), andere sind zwar bekannt, aber die konkrete Art, Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkungen sind aufgrund von fehlenden Infor[14]mationen unbekannt (»Known Unknowns«) und von manchen wissen wir noch nicht einmal, dass sie existieren (»Unknown Unknowns« oder »Black Swans«).
Ausgangspunkt von Krisen sind häufig Ereignisse,
die man vorhergesehen hat, aber deren Einfluss unterschätzt wurde (z.B. die Krise nach Hurricane Katrina, die durch mangelnde Initiative hervorgerufen wurde),
die nicht vorhergesehen werden konnten (so war die Ankunft der Europäer für die Ureinwohner Nordamerikas vermutlich nicht vorhersehbar),
die vorhersehbar waren, aber nicht vorhergesehen wurden (bspw. die Covid-19-Krise, deren Auswirkungen nicht vorhergesehen wurden).
Aber es gibt keine festen Regeln, wie Krisen entstehen und verlaufen. Allerdings sind die Auswirkungen von Krisen immer lokal und öffentlich. Man kann Krisen danach unterscheiden, ob sie an einem oder an mehreren Orten Auswirkungen generieren. Aber die Lösung von Krisen muss immer lokal erfolgen und sie sollten so einfach wie möglich gehalten sein.
Um die Bedrohung abzuwenden, gilt es umgehend eventuell weitreichende Gegenmaßnahmen umzusetzen. Die Dringlichkeit ergibt sich aus zwei Faktoren: einmal dem Zeitpunkt, an dem das System aufgrund der Bedrohung nicht mehr zu tolerierende Schäden hinnehmen muss und der Dauer bis zum Wirksamwerden der Gegenmaßnahmen. So werden erst in einigen Jahren die ersten Inseln aufgrund des Klimawandels untergehen. Die Auswirkungen einer Reduzierung der Emission von Treibhausgasen werden aber ebenfalls erst in einigen Jahren den Klimawandel merklich verlangsamen und umkehren. Die Dringlichkeit kann oft nicht objektiv quantifiziert werden. Auch sie wird häufig von Mitgliedern einer Gesellschaft sehr unterschiedlich wahrgenommen. Die Unsicherheit bezieht sich i.d.R. sowohl auf die Auswirkung der Bedrohung – besonders bei kaskadierenden Effekten in vernetzten, nicht linearen Systemen, zum Beispiel der kritischen Infrastrukturen – wie auch auf die Wirksamkeit der Gegenmaßnahmen. Sie betrifft sowohl die Natur als auch die möglichen Konsequenzen der Bedrohung.
Krisen sind kritische Verzweigungen im Leben jeder Organisation und somit auch von Verwaltungen. Welcher Weg verfolgt wird, entscheidet über die weitere Karriere der politisch verantwortlichen Führungskräfte. Für letztere sind sie Grenzsituationen, die in der Regel nicht alltäglich, aber häufig auch persönlich existenzbedrohend sind. Sie sind eine Ansammlung von Problemen, die zu einem bestimmten Grad in einer bestimmten Zeit und Effektivität mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereiches gelöst werden müssen. Die Ressour[15]cen, die vor der Krise existieren, spielen dabei besonders zu Beginn der Krise eine entscheidende Rolle.
Immer häufiger müssen Krisenmanager mit anderen Akteuren um die Deutungshoheit konkurrieren:
Was ist die Natur der Krise?
Worauf wird sich die Bedrohung auswirken?
Welche Kaskadeneffekte werden auftreten?
usw.
Krisen durchlaufen eine Evolution. Snowden und Boone unterscheiden in ihrem Cynefin Framework vier Krisensituationen (vgl. Kapitel 5):
einfach:Die Strukturen wiederholen sich, die Ereignisse sind widerspruchsfrei.Es liegt eine klare Ursache-Wirkung-Beziehung vor.Es existieren für jeden einsichtig (eindeutige) richtige Lösungen.
kompliziert:Eine Expertenanalyse ist erforderlich.Die Ursache-Wirkung-Beziehung ist ermittelbar, aber nicht für jeden sofort einsichtig.Es existieren mehre Lösungen, die richtig sein könnten.
komplex:Es liegt eine dynamische, nicht vorhersagbare Situation vor.Es existieren keine eindeutig richtigen Lösungen mehr, sondern viele miteinander konkurrierende.Kreative und innovative Herangehensweisen sind notwendig.
chaotisch:Es herrschen große Schwierigkeiten (in einem oder in mehreren Bereichen).Es kann keine klare Ursache-Wirkung-Beziehung hergeleitet werden.Es existiert kein Ansatzpunkt zum Finden der richtigen Lösung.Viele Entscheidungen sind unter Zeitnot zu treffen.Es herrscht ein hoher psychischer Druck.
Dabei gleicht keine Krise einer anderen – jede ist einmalig. Deshalb existieren auch keine Standardeinsatzregeln für Krisen. Allerdings lassen sich einige wenige »Gesetzmäßigkeiten« finden. Krisen können grob in mehrere Phasen eingeteilt werden: [16]Eintritt, Chaosphase, Sicherstellung der Notversorgung, Stabilisierung der Lage und Wiederaufbau. Zudem haben Sie es in Krisen immer mit irgendwelchen Massenphänomenen zu tun: verstopfte Straßen, Zusammenbruch der Informations- und Kommunikationskanäle oder wie bei der Covid-19-Pandemie mit dem Ausverkauf von Toilettenpapier. Dies sollten Sie bei all Ihren Maßnahmen und Äußerungen beachten.
Verlauf einer Krise: Eintritt Chaosphase Sicherstellung der Notversorgung Stabilisierung der Lage auf niedrigem Niveau Wiederaufbau des »Normalzustandes« |
In der Krise ist alles anders als im Normalzustand. Menschen reagieren anders: Sie verwandeln sich von klar denkenden Individuen zu Herdentieren. Es gelten vor allem in der Chaosphase besondere Regeln. Die üblichen Ablaufroutinen führen nicht zum Erfolg. Die regulären Gesetzmäßigkeiten und Verfahren sind in Krisenzeiten außer Kraft gesetzt. Deshalb müssen neue Herangehensweisen während der Krise entwickelt werden. Die Personen, die diese neuen Herangehensweisen generieren, bedürfen einem Koordinatensystem – einer Krisenstrategie –, an dem sie sich orientieren können (vgl. Kapitel 2.4). Jede dieser Situationen fordert von den Krisenmanagern unterschiedliche Vorgehensweisen. Manche Krisen treten plötzlich und mit einer großen Wucht ein, andere dagegen beginnen erst schleichend über einen längeren Zeitraum oder sie entwickeln sich wellenförmig. Einige Krisen eskalieren oder kaskadieren über die Zeit, andere sind zeitlich konstant oder deeskalieren. Sie können durch externe oder interne Ereignisse ausgelöst werden. Unterschiedliche Krisen können auch miteinander verwoben sein.
In den heutigen modernen Gesellschaften treten Krisen aufgrund ausgefeilter Vorsorgemaßnahmen seltener auf als früher. Allerdings sind die Folgen dieser Krisen deutlich gestiegen. Aufgrund der Komplexität der gesamten Gesellschaft (Politik, Wirtschaft, Kultur usw.) und da ihre verschiedenen Teilsysteme miteinander oft nicht linear und vorab unerkannt gekoppelt sind, können Entwicklungen, die für sich alleine undramatisch wären, katastrophale Auswirkungen zeigen. Diese Multi-Ursachen-Beziehung macht es schwierig, selbst schleichende Krisen so rechtzeitig zu erkennen, dass die Auswirkungen nicht eskalieren. Selbst die besten Experten sind nicht in der Lage, diese Systeme und die Interaktionen untereinander vollständig zu [17]verstehen. Durch die Kopplung der Systeme mit Sozialsystemen – besonders mit den Social Media – wird eine Prognose über deren zukünftiges Verhalten selbst bei der Nutzung der besten Computer unmöglich.
Das Ende einer Krise tritt in der Regel nicht mit dem Ende der »Einsatzmaßnahmen« ein. Schon während der Durchführung der Akutmaßnahmen, aber besonders nach deren Beendigung, werden Fragen nach den Ursachen, der Wirksamkeit und Angemessenheit der Maßnahmen usw. an die politisch verantwortlichen Führungskräfte gestellt. So ist der Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma auch eher an der Krise in den Wochen nach dem Abschluss der Bergungs- und Sicherungsarbeiten infolge des Stadtarchiveinsturzes als an der Kritik an den Einsatzmaßnahmen gescheitert.
Beispiel: Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 03.03.2009
Aufgrund eines Wassereinbruchs in einer benachbarten Baugrube stürzte das Kölner Stadtarchiv ein. Bei dem Unglück kamen zwei Personen ums Leben. Unmittelbar nach den Bergungsmaßnahmen (der akuten Krisenbewältigung) setzen die Diskussionen über die Ursachen und Verantwortlichkeiten zum Unglück ein. Der amtierende Oberbürgermeister Schramma erklärte am 12.03. in einem Interview im Deutschlandfunk: »[Ich]kann (…) mir nicht und werde mir auch nicht hier in der Form irgendeine Schuld persönlich politisch zuschreiben lassen.« Die Kritik an seinem Krisenmanagement führte Ende März 2009 dazu, dass er seine Kandidatur zur Wiederwahl im Spätsommer des gleichen Jahres zurückzog. Als Grund gab er an, dass der Einsturz zunehmend in den Wahlkampf gezogen werde, es werde »spekuliert, verdächtigt, verunglimpft, vorverurteilt«. Auch wurde gegen Herrn Schramma strafrechtlich ermittelt, da er interne, vertrauliche Sitzungen illegal mitgeschnitten haben soll. Die gesamte öffentliche Diskussion führte dazu, dass sich in einer repräsentativen Umfrage des Kölner Stadt-Anzeigers und des Express nur 38 % der Befragten für eine Wiederwahl Schramma und 50 % für die Wahl seines Herausforderers aussprachen. Endgültig beendet war die Krise erst mit den Urteilen im Strafverfahren im Jahr 2019.