Читать книгу Leitfaden für das Kommunale Krisenmanagement - Andreas Hermann Karsten - Страница 9

2.2 Führen Sie in der Krise!

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Krisen tendieren dazu, Sie als politisch verantwortliche Führungskraft vor bisher noch nicht gekannte, häufig nicht vorhersehbare Herausforderungen zu stellen. Schon die heutigen Gefahren und Bedrohungen können nicht alle abgewehrt werden. Wir müssen akzeptieren, dass bei ihrem Eintritt Schäden garantiert entstehen werden. Deshalb ist es notwendig, die Resilienz der Gesellschaft zu steigern (Voßschmidt/Karsten, 2020). Damit die Bevölkerung dies akzeptiert, bedarf es Ihrer Führung als politisch verantwortliche Führungskraft. Und diese erfolgt im besten Fall schon vor dem Eintritt einer Krise: Bereiten Sie alle Akteure, besonders aber die Bevölkerung, auf die mögliche Konsequenzen vor. Verbreiten Sie aber auch Zuversicht und Optimismus (Churchills »Blut-Schweiß- und Tränen-Rede« vom 13.05.1940). Seien Sie dabei aufrichtig. Auch wenn das politische Risiko für Sie nicht zu verneinen ist. Etwaige Gefahren und Bedrohungen, die eventuell auftreten können, und die noch beherrschbaren Grenzen der staatlichen Gefahrenabwehrbehörden offen zu benennen, bietet eine offene Angriffsflanke für Ihre Opposition. Aber Führungskräfte müssen klar, aufrichtig und offen über die heutigen Risiken sprechen. Zu erwarten, dass eine Bevölkerung, die sich in vollständiger Sicherheit wiegt, im Bedarfsfall problemlos in einen Krisenmodus wechseln kann, ist grob fahrlässig.

Führung nach McChrystal et al., 2009: Führung ist kontextabhängig und dynamisch und muss daher ständig angepasst werden, anstatt auf eine starre Formel reduziert zu werden. Führung ist ein Phänomen, das in einem komplexen System mit reichhaltigem Feedback entsteht, und weniger ein einseitiger, vom Führer initiierter Prozess. Die Figur des Führers ist für das Führungskonzept von maßgeblicher Bedeutung, aber nicht aus den traditionellen Gründen. Oft hat sie mehr [25]mit Symbolismus, Sinnstiftung und Zukunftsversprechen zu tun, die Führer ihrem System bieten, und weniger mit tatsächlich erzielten Ergebnissen.

Führung ist oft eine Kombination aus den Handlungen der Führungskraft, glücklichen Umständen und kontextbezogenen Faktoren, die für ein positives Ergebnis sorgen. Dabei wird häufig bei der konkreten Bewältigung einer Krise die Führungskraft überschätzt. So vertritt Thomas Carlyle die Auffassung, dass der Lauf der Geschichte von einzelnen Personen mit besonderen Eigenschaften geformt wird. Dagegen steht die Auffassung, die Lew Tolstoi in »Krieg und Frieden« ausführt, dass der Lauf der Geschichte zufallsbedingt und der Einfluss von Führungskräften eher zu vernachlässigen ist. Welche Auffassung man auch vertritt, klar ist, dass keine Führungskraft eine Krise alleine bewältigen kann. Deshalb müssen Sie sich als politisch verantwortliche Führungskraft selbst und Ihre Organisation ertüchtigen, Krisen bewältigen zu können. Sehen Sie sich nur als einen – wenn auch wichtigen – Teil Ihrer Organisation an. Stellen Sie das »WIR« mehr in den Fokus als Ihre Anstrengungen, als das »ICH«. Führung hat nie nur mit der Kompetenz einer einzelnen Person zu tun. Verbessern Sie deshalb schon vor dem Eintritt einer Krise, adaptives, kreatives und innovatives Denken in Ihrem Krisenbewältigungsteam. Diskutieren Sie das Unvorstellbare in Ihrem Team. Dabei werden Sie bessere Ergebnisse erzielen, wenn Sie ein inhomogenes Team aufstellen.

Jede Entscheidung, jedes Handeln der Betroffenen, der Hilfskräfte, der Stabsmitglieder und von Ihnen selbst wird durch Emotionen beeinflusst. Bewegte Bilder erzeugen beim Menschen starke Emotionen. Emotions-Management ist eine wichtige Aufgabe der politisch verantwortlichen Führungskraft. Führung ist auf ein Ziel ausgerichtet, aber gleichzeitig abhängig vom gewählten Weg zu diesem Ziel. Führung ist weder glamourös noch unkompliziert.

Vorbilder helfen nur im gewissen Maße; ihre Erfahrungen, Weisheit und Lösungen passen nie so ganz zu Ihrer aktuellen Situation. Patentrezepte funktionieren nicht. Sie werden vor noch nie in dieser Form dagewesenen Situationen stehen und müssen neue Lösungen finden. Alte, gut eingeübte Routinen zeigen in der Regel für neuartige, noch nie dagewesene Ereignisse einen geringen Erfolg. In der Krise muss neues entwickelt werden. Deshalb: »Wenn etwas dumm ist, aber funktioniert, ist es nicht dumm.« Allerdings heiligt der Zweck nicht jedes Mittel.

In Krisen gelten andere »Spielregeln« als in Katastrophen. Es muss mit einem hohem Maß an Komplexität und Nichtwissen umgegangen werden. Prioritäten müssen der sich schnell veränderten Situation angepasst werden – teilweise schließen [26]sich die Lösungsoptionen gegenseitig aus oder beeinflussen sich negativ. Ein einfaches Verstärken der in Katastrophen erfolgreichen Maßnahmen reicht nicht aus. Es reicht nicht, einfach ein Mehr an Einsatzkräften, Fahrzeugen, Informationen oder Führung zum Einsatz zu bringen. Neue Lösungsansätze müssen in einer sich schnell verschlechternden Situation entwickelt werden. Und dazu bedarf es Sie als politisch verantwortliche Führungskraft. Katastrophen kann Ihr Feuerwehrchef und die Leitungen Ihrer Verwaltung eigenständig lösen, Krisen aber gerade nicht.

Nur innerhalb eines kleinen Zeitintervalls, unmittelbar nach der Bewusstwerdung der Krise, fragt die Öffentlichkeit nicht nach den Ursachen der Krise. In dieser Phase akzeptiert sie Unglücke und menschliches Versagen und konzentriert sich auf die Durchführung der Gefahrenabwehr. Solange die Gefahrenabwehr professionell erfolgt, wird es keine Kritik geben. Aber schon nach kurzer Zeit werden von der Öffentlichkeit Fragen nach den Ursachen gestellt und ob es eventuell Versäumnisse in der Prävention gegeben hat. In den Social Media kann sich jeder auf der gesamten Welt an dieser Diskussion unmittelbar beteiligen. Vermeintliche Experten werden nicht nur Sie angreifen, sondern auch die betroffene Bevölkerung verunsichern. Sie, als politisch verantwortliche Führungskraft, müssen sich um diese politische Bewältigung der Krise kümmern.

In Ihrer Rolle als Chef der Verwaltung stehen Ihnen eine Reihe von Anordnungsbefugnissen (z.B. aufgrund des Baurechts, Lebensmittelrechts, Ordnungsrechts, Katastrophenschutzrechts, Verwaltungsrechts, Bundesimmissionsschutzrechts) zur Verfügung. Auf Grundlage der entsprechenden Gesetze müssen Sie die Resilienz der eigenen Verwaltung in einem angemessenen Maß sicherstellen. Das bedeutet, Sie müssen:

 ein Business Continuity Management in die Verwaltung implementieren (Voßschmidt/Karsten, 2020),

 ausreichende Ressourcen für die Gefahrenabwehr (z.B. der Feuerwehr oder der Gesundheitsämter) vorhalten.

Daneben müssen Sie aber auch die Resilienz der Gesellschaft in ihrem Zuständigkeitsbereich sicherstellen. Neben den gesetzlichen Anordnungsbefugnissen bedarf es hier im wesentlichen Überzeugungskraft. Auch während der operativen Krisenbewältigung benötigen Sie neben Ihren Anordnungsbefugnissen viel Überzeugungskraft, um die Öffentlichkeit (z.B. die Spontanhelfer) zu dem gewünschten Verhalten zu motivieren. Gerade als politisch verantwortliche Führungskraft muss es Ihr Ziel sein, nicht Macht über, sondern Macht mit den Bürgern anzustreben.

Krisensituationen stellen politisch verantwortliche Führungskräfte vor schwierige, häufig scheinbar unlösbare Herausforderungen:

 [27]Sie erfordern dringend Entscheidungen, selbst wenn essenzielle Informationen über Ursachen und Konsequenzen noch nicht zur Verfügung stehen.

 Sie erfordern eine effektive Krisenkommunikation, angepasst in Art und Wortwahl an unterschiedlichste Gruppen, deren Bedürfnisse, Ansichten und Referenzrahmen in einem weiten Feld schwanken.

 Sie erfordern, dass die politisch verantwortliche Führungskraft Vulnerabilitäten in bestehenden staatlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen und Routinen sowie unter Umständen in althergebrachten Werten erklärt.

Ziel der politisch verantwortlichen Führungskraft muss es sein, das durch die Krise erzeugte Chaos, die Verwirrung, das Gefühl der Hilflosigkeit bzw. der Wut zu begrenzen und die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Kapazitäten zur Krisenbewältigung zu aktivieren und optimal einzusetzen. Auch für die Begrenzung bzw. die Bewältigung der Traumata der Betroffenen ist es sinnvoll, diese in die Krisenbewältigung aktiv einzubinden. Dazu sollte die politisch verantwortliche Führungskraft »gescheite« Ziele festlegen, definieren, wie (Teil-)Erfolge aussehen und die »richtigen« Fragen stellen.

Häufige Fehler bei der Führung in Krisen: Symptome statt Ursachen bekämpfen. Zu viele Aufgaben übernehmen. Sich um zu viele Aufgaben gleichzeitig kümmern. Ständiger Wechsel zwischen den verschiedenen Aufgaben.

Als »Leuchtturm« in der Krise muss die politisch verantwortliche Führungskraft schwierige und weitreichende (kritische) Entscheidungen auch unter den schwierigsten Rahmenbedingungen treffen. Dabei muss sie die Erwartungen der Öffentlichkeit erfüllen, selbst wenn diese unangemessen, eventuell sogar unfair oder illusorisch sind. Entsprechend dem Thomas Theorem sind diese in ihren politischen Konsequenzen real.

Thomas Theorem (Thomas, 1920): »If men define situations as real, they are real in their consequences.« Situationen die von Menschen als real definiert werden, sind in ihren Konsequenzen real.

[28]Die Führungskraft muss einige Eigenschaften vorweisen können, um auch in Krisensituation alle Aufgaben bewältigen zu können:

 Stabiler Charakter: Die Führungskraft …… ist vertrauenswürdig.… ist besonnen.… hat die Fähigkeit, unter Druck gelassen zu bleiben.

 Entschlossenheit: Sie …… trifft Entscheidungen und setzt diese um.… besitzt die Fähigkeit, unter Druck ausgewogen und analytisch gute Urteile zu treffen.… hat die Fähigkeit, einen situationsangepassten Entscheidungsstil anzuwenden.… besitzt Autorität.… handelt möglichst objektiv.… ist jedem gegenüber unvoreingenommen.

 Kommunikationsfähigkeit: Die Führungskraft …… besitzt die Fähigkeit, Konflikte in einer interdisziplinären Gruppe zu minimieren.… kann Ihre Anweisungen klar und strukturiert formulieren.

 Sozialkompetenz: Sie …… baut Vertrauen auf.… hat Respekt gegenüber den Mitmenschen und zeigt diesen.

Eine ausgewogene und gut organisierte Gefahrenabwehr und politische Krisenbewältigung begrenzen die Auswirkungen einer Krise und unterstützen die Wiederherstellung der Vorkrisensituation. Sie können das Vertrauen der Öffentlichkeit in Ihre Führungseigenschaften als politisch verantwortliche Führungskraft und in die staatlichen Institutionen wieder herstellen und sogar vergrößern. Sie garantieren aber nicht, dass die Krise erfolgreich überwunden wird. Sie sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen des Krisenmanagements.

In demokratischen, liberalen Gesellschaften muss die politisch verantwortliche Führungskraft schwierige, manchmal sich wiedersprechende legale, politische und moralische Fragen beachten. Effektivität and Effizient sind nicht die einzigen Werte, die beachtet werden müssen. Gerade in den letzten Jahren erschwert eine Entwicklung das Krisenmanagement: Ein großer Teil der Bevölkerung wird immer gefahrenintoleranter, d.h. sie erwarten, dass »der Staat« oder »die Gesellschaft« die Gefahren, die sie bedrohen, eliminieren bzw. minimieren und bei Eintreten der Krise diese für sie lösen. Dieser hohen Erwartungshaltung muss die politisch ver[29]antwortliche Führungskraft gerecht werden. Manche politisch verantwortlichen Führungskräfte steigern diese Erwartung noch im Vorfeld, indem sie Risiken negieren bzw. kleinreden. Aus dieser Erwartungshaltung entsteht eine erhebliche Ungeduld, wenn lebenswichtige Services (Trinkwasser, Strom, Internet, …) nicht mehr angeboten werden. Oft schon während der Krise, aber fast immer danach, geraten die politisch verantwortlichen Führungskräfte unter erheblichen Druck aufgrund (entsprechend dem Thomas Theorem auch bei vermeintlicher) »Sünden« der Vergangenheit. Sollte die politisch verantwortliche Führungskraft diese Sünden nicht eingestehen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass die politische Krisenbewältigung nicht endet.

Die Aufgaben der Führungskraft: Sie müssen sich selber führen. Sie müssen Ziele erreichen. Sie müssen flexibel bleiben. Sie müssen andere zu großartigen Leistungen inspirieren.

Für eine gute Entscheidungsfindung ist es maßgebend, dass Entscheidungsbefugnis, Expertise und Informationen an einem Ort zusammenkommen. Dies kann bei den heutigen komplexen, hochdynamischen Lagen durch eine konsequente Delegation – dem Führen mit Auftrag – erreicht werden. Somit ist eine Hauptaufgabe für Sie als politisch verantwortlichen Führungskraft, die Expertinnen mit der notwendigen Expertise zu finden und ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, ihre Expertise einzubringen. Sie müssen während der Krise Krisenteambuilding betreiben. Und Sie müssen das notwendige Wissen ausfindig und es »prozessfähig« machen. Dabei müssen Sie davon ausgehen, dass Sie zum Finden der »besten« Option nicht genügend Zeit zur Verfügung haben. Ausgangspunkt all Ihrer Überlegungen muss sein, was Sie wissen, nicht was Sie oder Ihre Berater glauben.

Veränderung der Führung im 21. Jahrhundert

In den letzten Jahren praktizieren mehr und mehr Führungskräfte einen neuen Führungsstil, der über den kooperativen Führungsstil hinausgeht. Sie akzeptieren, dass sich die Rahmenbedingungen deutlich verändert haben:

 Sie haben es heute mit informierten und selbstbewussten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu tun. Die hierarchische Distanz zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern ist in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden.

 [30]Die Komplexität von Krisen erfordert eine intelligente Entscheidungspraxis, die auch auf Intuition beruht.

Wenn Sie auch einen neuen Führungsstil nutzen möchten, sollten Sie folgende Empfehlungen von Leipprand et al. beherzigen:

 Sammeln Sie zukunftsrelevante Informationen und leiten Sie daraus Szenarien ab.

 Hinterfragen Sie ständig Ihre eigenen Annahmen.

 Vernetzen Sie sich über Sektorengrenzen hinweg: »In Krisen Köpfe kennen!«

 Setzen Sie in ihrem direkten Umfeld auf Diversität und suchen Sie bewusst nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die über unterschiedliche Hintergründe, fachliche Ausbildungen und Sektorenerfahrungen verfügen.

Leitfaden für das Kommunale Krisenmanagement

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