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VI

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»Zu Solei und Bulette Gibt’s gleich am Tresen vorn Ganz ohne Etikette ’ne Molle und ’nen Korn. Am Morgen kratzt der Kater, Am Abend tränkst du ihn. Das gibt es nicht am Prater, Das gibt’s nur in Berlin!« Drei Schwestern, »Berlin, Berlin«

In blassblauen Boxershorts und weißem Unterhemd wirkte Wolter verwaschen und schwammig. Er stand in der Stubentür, als ich aus dem Badezimmer kam, und nickte mir verschlafen zu. »Morgen!« Ich hielt ihm wortlos ein Handtuch hin und ging in die Küche, um Kaffee zu brühen. Normalerweise hätte ich mich um diese Zeit stöhnend zur Wand gedreht und gehofft, dort noch ein wenig Schlaf zu finden. Wenn ich meinem Gast nun also auch diese vage Aussicht opfern musste, durfte er keine überschwängliche Begrüßung erwarten. Ich öffnete das Fenster und blies den Rauch meiner ersten Zigarette in das Morgengrauen über dem noch immer makellos weißen Schnee. Die Kälte tat gut und erfrischte die abgestandene Luft in den Zimmern. Langsam sah ich wieder klarer.

An Wolter hingegen schien das Gelage der vergangenen Nacht folgenlos vorübergegangen zu sein. Als er aus dem Bad kam, hatte er mit dem Anzug auch seine Beredsamkeit wieder angelegt. Er umklammerte den Becher mit beiden Händen und pustete ein Loch in die Schicht aus schwarzem Pulver, das ich reichlich bemessen hatte. »Ah, das tut gut! Wissen Sie, Hagen, ich habe nachgedacht. Diese ganze Geschichte mit dem Dorf und den Baggern, mit den Nestflüchtern und Sitzenbleibern … das ist genau das, was wir Werber ein perfektes Branding nennen. Die Story weist über sich selbst hinaus, sie ist leicht zu erzählen und hat eine Moral. Simpel gesagt: Damit die einen in Licht und Wärme leben können, müssen andere Haus und Hof verlassen. Die im Dunkeln sieht man nicht … Das ruft nach Gefühlen, das versteht jeder sofort. Und es passt in unsere Zeit, weil es schlechtes Gewissen weckt – das beste Argument für jeden Verkäufer. Verstehen Sie? Wir trinken Bier, um den Regenwald zu retten, wir vergeuden Benzin auf dem Weg zu Umwelt-Demos, wir trennen Müll und kippen ihn wieder zusammen … lauter gut gemeinte Versuche, uns selbst zu beruhigen!«

Was wollte Wolter von mir? Viel hätte ich in diesem Moment für eine Kopfschmerztablette oder etwas Hochprozentigeres gegeben.

»Im Grunde ist das ein Ablasshandel, von dem alle Seiten gut leben können. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Auch in unserem Fall lässt sich damit ein Geschäft aufziehen. Die Story haben wir schließlich schon, jetzt fehlt uns nur noch das Produkt.« Er zwinkerte mir zu. »Und da kommen Sie ins Spiel. Sie haben es gestern doch selbst gesagt: Veredlung des Einfachen, ein bisschen Alchemie.« Verwundert rieb ich mir die noch immer leicht verklebten Augen. Wolter missverstand die unwillkürliche Geste offenbar als Zeichen meines erwachten Interesses. »Die Eier! Sie können hier vielleicht kein nachhaltiges Gewerbe mehr treiben, aber ein paar Hühner dürfen Sie gewiss noch halten. Und wenn es uns gelingt, die Ware auf den Bartresen von Berlin zu platzieren, haben wir gewonnen.«

War es mein Fehler, dass ich das Ganze für eine ausgesprochene Schnapsidee hielt? Oder wirkte bei ihm der Obstbrand immer noch nach? »Soleier? Als mitternächtlicher Absacker für die bessere Gesellschaft? Absurd!«

»Natürlich klingt das absurd.« Wolter nickte. »Aber gerade darum hat es ja eine Chance. Die Gier nach Neuem ist in der Hauptstadt ein ungeschriebenes Gesetz. Ständig werden Trends gesucht und gesetzt, das Tempo ist atemberaubend, und wer stehen bleibt, fällt zurück. Nehmen Sie zum Beispiel Gin Tonic. Das war vor ein paar Jahren bloß ein Longdrink, mit dem sich gut betuchte Witwen in Straßencafés den Vorabend schön tranken. Inzwischen finden Sie Barkeeper, die erschöpfende Vorträge über die Flavours und Ingredients halten können, während sie den Schnaps über die Eiswürfel fließen lassen und mit der bitteren Limonade auffüllen. Es gibt Gin mit Koriandersamen und Kubebenpfeffer, mit Zimtrinde und Sauerampfer, mit Brennnesseln und Fichtenspitzen. Brennereien aus Bayern und von der Ostseeküste werben wie Winzer mit Kopf- und Körpernoten, als würden sie erste Lagen und große Gewächse anbieten. Dazu der Wettbewerb der Botanicals, bei dem schierer Überfluss mit bewusster Beschränkung konkurriert, was wiederum Rückschlüsse auf die Wesenszüge des Trinkers gestattet – purer Luxus oder Less is more. Und schließlich die Garnitur: Limettenzeste oder Gurkenscheibe, Grapefruit oder grüner Apfel. Von den Tonics ganz zu schweigen, die dem Gin in vollmundig beschriebenen Charakteren längst ebenbürtig sind – mit Chinarinde von argentinischen Bergen oder aus indischen Wäldern, mit Quellwasser aus den Alpen oder aus Lappland. Man kann sich mit den Highballs an einem Abend um die ganze Welt saufen, von Norwegen über Spanien bis nach Südafrika und zurück nach Japan. Aber man kann natürlich auch Urlaub vor der Haustür machen – mit Gins aus Berlin und aus Brandenburg. Wer es mondän mag, wählt die Flasche mit den Flocken aus Blattgold. Wer lieber die Schöpfung retten will, spendet mit jedem Schluck für einen guten Zweck.«

Ich wollte ihn unterbrechen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Woher ich das alles weiß? Ich habe einen alten Freund, der sich selbst Flaschensammler nennt – auch wenn er natürlich nicht im Müll nach altem Glas stochert, sondern im Netz nach neuen Sorten sucht. Der lädt mich gelegentlich zum Tasting ein … dekadent, aber sehr lehrreich. Anyway: Wichtig ist die Story, Hagen! Dazu ein Name, der die Geschichte spannend erzählt. Und den kann man auch für die Eier aus Schwarzmühl erfinden.«

Er hob die Hand und hämmerte mit seinen gekrümmten Fingern eine unsichtbare Schlagzeile in die wirbelnden Rauchschwaden, die von meiner Zigarette über dem Tisch aufstiegen: »The Egg from the Edge!« Wolter sah mich triumphierend an, mir aber hatte es die Sprache verschlagen. »Verstehen Sie denn nicht, Hagen? Sie werden es lieben, all die Influencer und Early Adopters. Genauso, wie sie die Hard Seltzer und Power Bowls geliked haben, bis aus der Behauptung eine echte Bewegung wurde. Wir hatten in der Agentur ein Wandtattoo, das uns den Sinn unserer Arbeit immer wieder vor Augen hielt: ›Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.‹ Kennen Sie das? Ist von Karl Marx, aber trotzdem gut. Wie, sagten Sie, muss man die Eier einlegen?«

Ich hatte meine Fassung wiedergefunden und räusperte mich: »Nun, man braucht Zwiebeln und Salz, Pfeffer und Senfkörner, Lorbeer und Kümmel. Dann kocht man die Eier zehn Minuten und schlägt ihre Schale leicht an …«

Konrad unterbrach mich. »Das ist doch ein guter Anfang, aber das lässt sich sicher noch verfeinern. Und dann natürlich die Art der Zubereitung. Damit lässt sich hervorragend spielen, weil der Kunde selbst über Basics und Extras entscheiden kann. Auch aus hygienischen Gründen sind die Eier perfekt: Die Schale schützt den harten Kern, eine saubere Angelegenheit – und ein Perfect Pairing für die Hipster, die ihr Craft Beer am liebsten aus der Flasche trinken. Man muss es bloß richtig präsentieren … lassen Sie mich nur machen, Hagen. Sie liefern das Produkt, ich kümmere mich um den Verkauf. Minimaler Wareneinsatz, maximaler Gewinn. Was meinen Sie? Sind wir im Geschäft?«

Schon wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Einerseits klang dieser Plan – falls es denn überhaupt einer war – nach einer ausgemachten Narretei, einem verrückten Schildbürgerstreich. Andererseits war das Risiko relativ gering, die Hühner legten ihre Eier ohnehin, und dem absehbaren Scheitern konnte man aus sicherer Entfernung zuschauen. »Ich will das nicht allein entscheiden, das muss im Rat beschlossen werden.«

Wolter zückte seine Brieftasche und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Gut, ich verstehe. Überlegen Sie es sich, rufen Sie mich an. Und glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.« Dann sah er auf die Uhr und stand auf. »Höchste Zeit! Gelbe Engel darf man nicht warten lassen. Es war mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Herr Siegfried! Hoffentlich können wir das bald wiederholen.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Wunsch teilte.

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